Russlands Zentralbank erwartet 2024 nur noch ein bis zwei Prozent Wachstum

Wie allgemein erwartet, entschied die russische Zentralbank am letzten Freitag, ihren Leitzins bei 16 Prozent zu belassen. Anlässlich ihrer Leitzinsentscheidung aktualisierte sie ihre mittelfristige Konjunkturprognose. Sie hob ihre Prognosespanne für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2024 um 0,5 Prozentpunkte auf +1,0 bis +2,0 Prozent an. Damit geht die Zentralbank aber weiterhin davon aus, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum 2024 stark abschwächen wird, nachdem das reale Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr laut der ersten Schätzung der Statistikbehörde Rosstat um 3,6 Prozent gestiegen ist.

Das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) hob seine Wachstumsprognose für 2024 am 12. Februar von 1,6 auf 2,0 Prozent an. Damit würde der obere Rand der Prognosespanne der Zentralbank erreicht. Die russische Regierung erwartet 2024 ein höheres Wachstum als die Zentralbank. Sie geht in ihrer im letzten Herbst beschlossenen Haushaltsplanung für 2024 von einem BIP-Anstieg von 2,3 Prozent aus. Noch etwas mehr Wachstum traut der Internationale Währungsfonds der russischen Wirtschaft in diesem Jahr zu. Er hob Ende Januar seine Wachstumsprognose für Russland vom Oktober von 1,1 Prozent auf 2,6 Prozent an.

IWF: Die Entwicklung der russischen „Kriegswirtschaft“ ist sehr ungewiss

Gita Gopinath, „Erste Stellvertretende Geschäftsführende Direktorin“ des IWF, betonte in einem Interview mit „Foreign Policy“ jetzt aber, dass die Entwicklung der russischen Wirtschaft sehr ungewiss sei (Video ihrer Stellungnahme zu Russland).

Natürlich sei Russland eine „War Economy“ meinte Gopinath. Die staatlichen Ausgaben für das Militär seien „extrem hoch“, aber auch die Ausgaben für die „Sozialen Fonds“. Das Defizit wachse, die Wirtschaft sei überhitzt. Daran sehe man, woher das Wachstum rühre.

Die Frage sei, was mittelfristig geschehe. Russlands Verlust an Humankapital und seine beschränkten Möglichkeiten zum Import von Hochtechnologie hätten das Potenzial, das Wachstum der russischen Wirtschaft mittelfristig zu verringern. Das sei jedoch sehr ungewiss und hänge davon ab, wie sich die Dinge in den nächsten Monaten entwickeln würden.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina: Der „strukturelle Wandel“ trieb das Wachstum

Elwira Nabiullina, die Präsidentin der russischen Zentralbank, meint in ihrem Statement zum Leitzinsentscheid, wichtigster Treiber des unerwartet starken Wachstums der russischen Wirtschaft um 3,6 Prozent im letzten Jahr sei die Inlandsnachfrage gewesen. Die Investitionen seien besonders deutlich gestiegen (Die Zentralbank schätzt den Anstieg der Brutto-Anlageinvestitionen auf 10,5 Prozent). Ursache für den starken Anstieg der Investitionen sei die „strukturelle Transformation“ der Wirtschaft.

Nabiullina weist darauf hin, dass sich die russische Wirtschaft von Einfuhren auf inländische Produkte umstellen müsse. Das habe die Nachfrage nach Investitionen und die Erstellung neuer Produktionsanlagen gefördert. Die Errichtung der Infrastruktur für Transport und Logistik sei im letzten Jahr vorangetrieben worden.

Wichtige Beiträge zum Wachstum der Wirtschaft kamen im letzten Jahr, so Nabiullina, auch vom Verbrauch der privaten Haushalte, unterstützt vom Anstieg der Löhne und einer verstärkten Kreditaufnahme. Seit dem Jahreswechsel sieht Nabiullina aber erste Anzeichen für ein schwächeres Wachstum des Konsums.

Nabiullina: Die Spitze der „Überhitzung“ ist überwunden

Nabiullina stellt fest, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage trotz der Ausweitung der Produktionskapazitäten im letzten Jahr viel stärker gestiegen sei als das Produktionspotenzial. Der deutliche Überschuss der Nachfrage über das Angebot, die „Überhitzung“ der Wirtschaft, habe zu steigenden Preisen geführt.

Die Spitze der „Überhitzung“ hat nach Einschätzung der Zentralbankpräsidentin im Herbst gelegen. Als Ergebnis der Leitzinsentscheidungen der Zentralbank habe die Wirtschaft begonnen zu einem ausgewogeneren Wachstumspfad zurückzukehren.

Der Leitzins wurde von 7,5 auf 16 Prozent pro Jahr erhöht

Trading Economics: Russia Interest Rate

Zentralbank: Die Inflation sinkt bis Ende 2024 auf 4 bis 4,5 Prozent

In der Presseerklärung der Zentralbank zum Leitzinsentscheid wird herausgestellt, dass die jährliche Inflationsrate, die im Januar 2024 noch 7,4 Prozent betrug, am Jahresende im Dezember nur noch 4,0 bis 4,5 Prozent erreichen dürfte. In den folgenden Jahren werde sich der Preisanstieg bei der angestrebten Rate von 4,0 Prozent stabilisieren (siehe erste Zeile des folgenden Ausschnittes aus der Prognose der Zentralbank). Diese Prognosen gehen, so die Zentralbank, von der Annahme aus, dass die „straffe“ Geldpolitik  für „eine lange Periode“ beibehalten werde.

Die Zentralbank merkt weiterhin an, im Dezember/Januar habe der Inflationsdruck im Vergleich mit den Herbstmonaten zwar nachgelassen. Die inländische Nachfrage übersteige aber noch die Möglichkeiten, die Produktion von Waren und Dienstleistungen zu erhöhen. Der Personalmangel sei dafür das zentrale Hindernis.

Die Sparneigung der Haushalte sei zwar gestiegen. Auch die Nachfrage nach Einfuhren habe sich abgekühlt. Diese Trends wirkten zwar zunehmend darauf hin, dass die Wirtschaft wieder auf einen „ausgewogenen Wachstumspfad“ gelange. Diese Prozesse benötigen jedoch viel Zeit.

Der Leitzins wird im Jahresdurchschnitt nur wenig sinken

Der Leitzins der Zentralbank wird, so die neue Einschätzung der Zentralbank, im Durchschnitt des Jahres 2024 zwischen 13,5 und 15,5 Prozent betragen (s. dritte Zeile). Im Oktober hatte sie den Leitzins im Jahr 2024 einen Prozentpunkt niedriger auf 12,5 bis 14,5 Prozent vorausgeschätzt.

Mittelfristige Prognosen der russischen Zentralbank

Russische Zentralbank: Mid-term forecast, 16.02.24,  Ausschnitt

Das starke Wachstum von Verbrauch und Investitionen bricht 2024 tief ein

Den realen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2024 hatte die Zentralbank in ihrer Prognose vom Oktober lediglich auf +0,5 bis +1,5 Prozent veranschlagt. Diese Prognosespanne hebt sie jetzt um 0,5 Prozentpunkte auf +1,0 bis +2,0 Prozent an (siehe vierte Zeile der obigen Tabelle). Im Vergleich mit dem 2023 erreichten Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion von 3,6 Prozent erwartet die Zentralbank also selbst im günstigsten Fall fast eine Halbierung des Wachstums.

Die Zentralbank rechnet damit, dass sich das Wachstum des Endverbrauchs von privaten Haushalten und Staat („Final consumption expenditure“) von 5,4 Prozent im Jahr 2023 auf lediglich 0,5 bis 1,5 Prozent im Jahr 2024 verringert. Der Verbrauch der privaten Haushalte („households“), der im letzten Jahr nach ersten Schätzungen um 6,1 Prozent gestiegen ist, werde dabei 2024 bestenfalls stagnieren. Er könne aber auch um 1,0 Prozent sinken.

Nach Einschätzung der Zentralbank sind laut der Tabelle die Bruttoinvestitionen („Gross capital formation“) 2023 um fast 20 Prozent gestiegen. Die Bruttoinvestitionen umfassen neben den Anlageinvestitionen auch die Vorratsinvestitionen. Zum starken Anstieg der Bruttoinvestitionen im letzten Jahr hat beigetragen, dass viele Unternehmen ihre durch Sanktionen verringerten Lagervorräte wieder auffüllten (Finmarket.ru).

Die Brutto-Anlageinvestitionen („gross fixed capital formation“), die 2023 um 10,5 Prozent gestiegen sind, werden 2024 nach Einschätzung der Zentralbank stagnieren oder höchstens um 2,0 Prozent wachsen.

Die Anhebung der Wachstumsprognose der Zentralbank für 2024 um 0,5 Prozentpunkte auf +1,0 bis +2,0 Prozent ergibt sich aus einer günstigeren Einschätzung der Entwicklung des Verbrauchs der privaten Haushalte. Darauf macht Zentralbankpräsidentin Nabiullina in ihrem Statement zum Leitzinsentscheid aufmerksam. In ihrer Prognose vom Oktober hatte die Zentralbank noch damit gerechnet, dass der private Verbrauch 2024 um 1 bis 2 Prozent sinken wird. Jetzt hob sie diese Prognosespanne um einen Prozentpunkt an.

BOFIT: Die Produktion der „Kriegsindustrie“ stieg seit 2021 um rund 35 Prozent

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, BOFIT, gibt in seinem jüngsten Wochenbericht  einige Hinweise, welche Auswirkungen die gestiegenen Rüstungsausgaben auf die Entwicklung der Produktion wichtiger Branchen der russischen Wirtschaft gehabt haben. BOFIT hat dazu die Produktion von Industriebranchen, die vor allem Produkte für das Militär herstellen (Metallprodukte, Elektronische Produkte, Herstellung von „Sonstigen Fahrzeugen“) als „War industries“ gesondert erfasst.

Mit einem Vergleich der Produktion im Jahr 2023 mit der Produktion im „Vorkriegsjahr“ 2021 zeigt BOFIT, dass Russlands Wirtschaftswachstum in letzten beiden Jahren besonders starke Impulse vom Anstieg der Produktion in den „War industries“ und der Bauwirtschaft erhielt: Die Produktion der „War industries“ war 2023 laut BOFIT rund 35 Prozent höher als 2021. Die Produktion der übrigen Branchen des „Verarbeitenden Gewerbes“ ist laut BOFIT demgegenüber gleichzeitig um 0,4 Prozent gesunken.

Russia’s GDP growth has been led by
war-related manufacturing industries and construction sector

BOFIT: Russia’s GDP growth last year higher than expected; lower growth ahead, 16.02.24

Besonders stark gesunken ist im 2-Jahres-Vergleich mit dem Jahr 2021 die Produktion in der Automobilindustrie und im Lufttransport.

Im zweiten Halbjahr 2023 stagnierte die Produktion in vielen Branchen fast

In einer weiteren Abbildung zeigt BOFIT, dass der saisonbereinigte Anstieg der Produktion in mehreren wichtigen Branchen in den letzten Monaten abflaute. Von den dargestellten Branchen verzeichnete nur die Bauwirtschaft auch Ende 2023 ein anhaltendes Wachstum (Construction, obere graue Linie). Auch der Dienstleistungsbereich („Market services“, hellblaue Linie) stagnierte im zweiten Halbjahr 2023 saisonbereinigt fast.

Several sectors of the Russian economy have slowed in recent months

BOFIT: Russia’s GDP growth last year higher than expected; lower growth ahead, 16.02.24

In der Industrie ist die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ (Manufacturing, mittlere dunkelblaue Linie) seit September etwas gesunken. Sie ist inzwischen aber merklich höher als Anfang 2022 vor dem Beginn des Ukraine-Krieges. Demgegenüber ist die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (Mining & quarrying, schwarze Linie) etwas niedriger als vor dem Krieg.

Der Einzelhandel (Retail trade, rote Linie), der 2022 besonders tief einbrach, hat sich in der ersten Jahreshälfte 2023 zwar kräftig erholt. Seitdem stagniert auch er aber fast.

VEB-Institut: Auch die Gesamtwirtschaft hat im vierten Quartal fast stagniert

Russlands Bruttoinlandsprodukt ist nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) im vierten Quartal 2023 gegenüber dem dritten Quartal saisonbereinigt nur noch um 0,1 gestiegen.

Reales Bruttoinlandsprodukt, saisonbereinigt, 2010=100

VEB-Institute: Medium-term forecast for the Russian economy,
taking into account the results of 2023
, 12.02.24

VEB-Prognose: Bis 2026 wächst das BIP nur noch um rd. 2 Prozent pro Jahr

In der Aktualisierung selner mittelfristigen Konjunkturprognose auf der Basis der neuen Rosstat-Daten geht das VEB-Institut davon aus, dass sich das gesamtwirtschaftliche Wachstum im Jahr 2024 auf 2,0 Prozent abschwächt. Es werde auch 2025 und 2026 kaum höher als 2 Prozent sein (siehe folgende Tabelle).

Zu den Ursachen der deutlichen Abschwächung des Wachstum meint das VEB-Institut, der Anstieg der Produktion werde 2024 bis 2026 durch die Sanktionen, die Konsolidierung des Haushaltes und das geringere Wachstum der Weltwirtschaft begrenzt werden.

Mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 2,0 Prozent im Jahr 2024 würde der obere Rand der Wachstumsprognose der Zentralbank von +1,0 bis +2,0 Prozent erreicht. Auch die Prognose des VEB-Instituts zum Anstieg der Investitionen liegt im Jahr 2024 mit 2,1 Prozent am oberen Rand der Prognose der Zentralbank für das Wachstum der Investitionen (+1,0 bis + 2,0 Prozent).

Konjunkturprognosen des VEB-Instituts bis 2026

VEB-Institute: Medium-term forecast for the Russian economy, taking into account the results of 2023, 12.02.2

Trotz anhaltend starkem Einkommensplus wächst der Einzelhandel schwächer

Als Hinweis auf die Entwicklung des Privaten Verbrauchs prognostiziert das VEB-Institut die Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes. Der Umsatzanstieg im Einzelhandel werde sich deutlich von 6,4 Prozent im Jahr 2023 auf 3,9 Prozent im Jahr 2024 abschwächen, erwartet das VEB-Institut, obwohl der Anstieg der real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung 2024 mit 5,2 Prozent fast so hoch sein dürfte wie 2023 (+5,4 Prozent). Vermutlich erwartet das Institut eine höhere Sparneigung.

Die Inflationsrate sinkt 2024 viel schwächer als die Zentralbank erwartet

Der Anstieg der Verbraucherpreise im Verlauf des Jahres 2024 wird nach Einschätzung des VEB-Instituts längst nicht so stark sein wie die Zentralbank erwartet. Laut VEB-Institut wird die Inflationsrate von 7,4 Prozent im Dezember 2023 auf 5,3 Prozent im Dezember 2024 sinken. Die Zentralbank hält hingegen einen Rückgang der Inflationsrate auf 4,0 bis 4,5 Prozent bis Ende 2024 für möglich.

Vorschläge des VEB-Instituts, um ein Wachstum von 3,5 bis 4 Prozent zu erreichen

Zu den Möglichkeiten für eine Stärkung des Wachstums der russischen Wirtschaft nennt das Institut der Wneschekonombank, deren Chef-Volkswirt der frühere Stellvertretende Wirtschaftsminister Andrey Klepach ist, am Ende seiner aktualisierten Prognose erneut u.a. folgende Punkte:

Die russische Wirtschaft kann im Zeitraum 2024–2026 mit einer Lockerung der Geldpolitik ein Wachstum von 3,5 bis 4 % pro Jahr erreichen. Erforderlich sind: Eine Senkung des Leitzinses, eine verstärkte Kreditvergabe durch führende Banken und Entwicklungsinstitutionen sowie die Schaffung eines effektiven internationalen Zahlungsverkehrs ohne die Verwendung von Dollar und Euro.

Die Gewinne führender öffentlicher und privater Unternehmen geben ihnen die Möglichkeit, ihre Investitionen erheblich zu steigern. Bedingung dafür ist, dass der Staat dazu beiträgt, die Investitions- und Kreditrisiken zu reduzieren und die Investitionspläne zu koordinieren.

Zusätzliche Investitionen in die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur, der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und der Bildung können zu einem wichtigen Faktor für ein nachhaltiges langfristiges Wirtschaftswachstum werden.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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