Schlafft Russlands Wirtschaftswachstum schon 2024 deutlich ab?

Ist der unerwartet starke Aufschwung der russischen Wirtschaft bald zu Ende? Der Industrieproduktion scheint der Dampf jedenfalls auszugehen. Sie ist im Jahr 2023 laut ersten Angaben des Statistikamtes Rosstat zwar um 3,5 Prozent gestiegen. Seit der Jahresmitte stagnierte sie saison- und kalenderbereinigt jedoch fast.

Auch das Wachstum der russischen Gesamtwirtschaft hat nach Einschätzung der Regierung und einer wachsenden Zahl von Analysten im letzten Jahr 3,5 Prozent erreicht. Schon im Jahr 2024 dürfte sich der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts jedoch auf 1,7 Prozent halbieren. Das ergab jedenfalls die monatliche Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters bei 13 Analysten, die am 01. Februar veröffentlicht wurde.

Das „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, WIIW“ erwartet in einer Ende Januar veröffentlichten Prognose in diesem Jahr sogar einen noch etwas stärkeren Rückgang der Konjunktur. Der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts werde 2024 von 3,5 Prozent auf nur noch 1,5 Prozent einbrechen.

IWF: 2024 wächst Russland erneut viel stärker als die G7-Staaten

Viel optimistischer sieht der Internationale Währungsfonds Russlands Konjunkturentwicklung. Allerdings nur im Jahr 2024. Im Jahr 2025 werde das Wachstum auf nur noch 1,1 Prozent abflauen.

Für 2024 prognostiziert der IWF im Gegensatz zur großen Mehrheit der Analysten noch keine scharfe Abschwächung des Wirtschaftswachstums. Der IWF geht im Update seines „World Economic Outlook“ davon aus, dass Russlandsr BIP-Anstieg nur um 0,4 Prozentpunkte von 3,0 Prozent im Jahr 2023 auf 2,6 Prozent im Jahr 2024 sinkt.

Russlands Wirtschaft wächst 2023 und 2024 stärker als die G7-Staaten

tadviser.ru: Russia’s GDP, 31.01.24

Hohe Rüstungsausgaben und Lohnsteigerungen treiben Russlands Wachstum

Noch vor knapp vier Monaten hatte auch der IWF das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2024 auf lediglich 1,1 Prozent veranschlagt. Jetzt setzte er seine Prognosen um 1,5 Prozentpunkte auf 2,6 Prozent herauf. In einer knappen Begründung verweist der IWF auf einen „Übertrag“ vom unerwartet starken Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 („carryover from stronger-than-expected growth in 2023“). Wachstumstreiber seien die hohen Ausgaben für das Militär. Auch der private Verbrauch steige. Er werde von hohen Lohnsteigerungen bei einem angespannten Arbeitsmarkt getragen.

BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Die neue IWF-Prognose, dass sich der Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts von 3,0 Prozent im Jahr 2023 nur auf 2,6 Prozent im Jahr 2024 abschwächen wird, entspricht weitgehend den Wachstumsprognosen, die die russische Regierung bereits Ende September ihrer Haushaltsplanung zugrunde gelegt hat (siehe letzte Zeile der obigen Tabelle).

Warum der IWF für Russland trotz der Sanktionen ein starkes Wachstum prognostiziert; diskutierten bei „Al Jazeera“ (Video, 28 Min.):

Chris Weafer – Chief executive of Macro-Advisory strategic business consultancy;

Erlend Bjortvedt – Founder of country risk analysis company Corisk;

Anatol Lieven – Director of the Eurasia Programme at the Quincy Institute.

WIIW: Fehlende Arbeitskräfte und hohe Zinsen begrenzen das Wachstum 2024

Das „Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche, WIIW“ meint in der Ende Januar veröffentlichten Winter-Ausgabe seines Berichts zur Konjunkturentwicklung in den Staaten in Mitteleuropa, Osteuropa und Südosteuropa, der „anhaltende Rüstungsboom“ habe der russischen Wirtschaft trotz der Sanktionen im vergangenen Jahr ein Wachstum von 3,5 Prozent „beschert“.

Dank der starken „fundamentalen“ Eigenschaften der russischen Wirtschaft, wie zum Beispiel der niedrigen Staatsverschuldung und der geringen Auslandsverschuldung, habe sie sich als „resilient“ gegenüber den westlichen Sanktionen erwiesen. Hinzu komme die Umorientierung des russischen Außenhandels auf China und andere Staaten, die sich den Sanktionen nicht angeschlossen hätten.

Im Oktober hatte das WIIW Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2023 noch auf lediglich 2,3 Prozent veranschlagt. Mittlerweile operiere die russische Wirtschaft, so das WIIW, aber an der Kapazitätsgrenze und zeige zunehmende Überhitzungserscheinungen.

Der akute Arbeitskräftemangel durch den Krieg und die auf 16% angehobenen Leitzinsen aufgrund der hohen Inflation dürften das Wachstum 2024 nach Einschätzung des WIIW jedoch auf 1,5% begrenzen. „Russland ist immer mehr davon abhängig, dass der Krieg weitergeht. Die enormen Ausgaben dafür wirken wie eine Droge auf die Wirtschaft“, sagt Vasily Astrov, Russland-Experte des WIIW. „Natürlich wird das auch zu entsprechenden Entzugserscheinungen führen, sollte diese Droge reduziert oder abgesetzt werden“.

Das WIIW weist darauf hin, dass 2024 rund 29% des föderalen Haushalts in den Wehretat fließen. Die Rüstungsausgaben würden damit auf 6% des Bruttoinlandsprodukts steigen, den höchsten Wert seit dem Zerfall der Sowjetunion. Die hohen Militärausgaben führen nach Einschätzung des WIIW zu „gefährlichen Ungleichgewichten“. Die mittelfristigen Wachstumsaussichten würden unterminiert, auch weil die Rüstungsbetriebe den Wettbewerb um die raren Fachkräfte gegenüber zivilen Firmen sehr oft für sich entscheiden würden.

Das hauptsächlich kriegsbedingte Budgetdefizit, das von der russischen Regierung 2024 auf knapp 1% des BIP veranschlagt wird, ist nach Einschätzung des WIIW „für russische Verhältnisse zwar hoch, aber leicht verkraftbar“. Vasily Astrov meint dazu: „Die Finanzierung des Krieges ist für Putin kein Problem. Viel eher stellt sich die Frage, ob angesichts der Sanktionen auf Dauer genügend westliche Komponenten für Waffensysteme beschafft werden können“.

Russland wächst deutlich schwächer als viele andere osteuropäische Staaten

Das WIIW erwartet, dass sich Russland Wirtschaftswachstum 2025 und 2026 kaum beschleunigen wird. Nach dem Rückgang des Produktionsanstiegs auf 1,5 Prozent im Jahr 2024 dürfte er 2025 nur 1,7 Prozent und 2026 nur 1,9 Prozent erreichen. Russland würde damit deutlich schwächer wachsen als fast alle anderen in der folgenden Abbildung aufgeführten Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

WIIW- Prognosen zum Wirtschaftswachstum 2024 bis 2026

Kurier.at: Der Krieg wirkt auf die russische Wirtschaft “wie eine Droge”; 30.01.24.

Trotz abgeschwächtem Wachstum sinkt die Arbeitslosenquote auf 2,9 Prozent

Mit der großen Mehrheit der Beobachter erwartet das WIIW schon 2024 einen starken Rückgang des Wachstums der russischen Wirtschaft. Es geht jetzt davon aus, dass Russlands Wirtschaftswachstum 2024 nur noch 1,5 Prozent erreicht (Im Oktober hatte das WIIW das diesjährige Wachstum noch auf 1,9 Prozent veranschlagt)..

Trotz der deutlichen Abschwächung des Wirtschaftswachstums wird die Arbeitslosenquote nach Einschätzung des WIIW aber von 3,2 Prozent im Jahr 2023 auf 2,9 Prozent im Jahrs 2024 sinken. 2025 und 2026 werde sie auf diesem Rekordtief verharren.

Das zeigt das WIIW im „Country Overview Russia“ in der folgenden Tabelle.

Wirtschaftsindikatoren Russlands

WIIW,  Country Overview Russia, 30.01.24

Die Inflation beschleunigt sich 2024 vorübergehend

Im Jahresdurchschnitt 2023 war der Anstieg der Verbraucherpreise in Russland mit 5,9 Prozent deutlich niedriger als im Vorjahr. 2022 hatte sich die Inflationsrate auf 13,8 Prozent verdoppelt (Trading Economics Chart).

Im Jahresdurchschnitt 2024 rechnet das WIIW trotz des abgeschwächten Wirtschaftswachstums aber mit einem vorübergehenden Anstieg der Inflationsrate auf 6,7 Prozent. Erst 2025 werde das von der russischen Zentralbank angestrebte Inflationsziel von 4 Prozent mit 4,2 Prozent fast erreicht.

Das Haushaltsdefizit sank 2023 auf nur noch 1,0 Prozent des BIP

Das WIIW weist zwar darauf hin, dass das Defizit im föderalen Haushalt nach ersten Angaben der Regierung im letzten Jahr 1,9 Prozent des BIP betrug (HSE-Analyse). Die Angaben des WIIW in der obigen Tabelle („Fiscal balance“) beziehen sich aber wohl auf die Entwicklung des Defizits im Haushalt des russischen Gesamtstaates.

Das WIIW erwartet, dass Russlands Haushaltsdefizit von 1,4 Prozent des BIP im Jahr 2022 auf 1,0 Prozent des BIP im Jahr 2023 gesunken ist –  trotz der gestiegenen Rüstungsausgaben.  Bis 2025 rechnet das WIIW mit einem weiteren Rückgang der Defizitquote auf 0,5 Prozent des BIP.

Der 2022 stark gestiegene Leistungsbilanzüberschuss ist 2023 deutlich gesunken

Russlands Leistungsbilanzüberschuss war 2022 wegen der stark gestiegenen Energiepreise auf 10,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gewachsen. 2023 hat der Leistungsbilanzüberschuss nach Einschätzung des WIIW nur noch 2,8 Prozent des BIP erreicht. In den Jahren 2024 bis 2026 wird er laut WIIW weiterhin bei rund 3 Prozent des BIP liegen.

BOFIT: Der Leistungsbilanzüberschuss 2023 war nicht ungewöhnlich niedrig

Das Forschungsinstitut BOFIT der finnischen Zentralbank berichtet in seinem jüngsten Wochenbericht über den starken Rückgang des Leistungsbilanzüberschusses im Jahr 2023. Nach vorläufigen Angaben der russischen Zentralbank ist der Überschuss in der Leistungsbilanz von fast 240 Mrd. US-Dollar im Jahr 2022 auf nur noch rund 50 Mrd. US-Dollar im Jahr 2023 gesunken (blaue Säulen mit Vierteljahreswerten in der folgenden Abbildung).

BOFIT zeigt mit der folgenden Abbildung, dass dieser Überschuss nicht außergewöhnlich niedrig war. 2020, im ersten Jahr der Corona-Pandemie, war der Überschuss in der  Leistungsbilanz noch geringer als 2023.

Russland: Außenhandel und Leistungsbilanzüberschuss

Saisonbereinigte vierteljährliche Entwicklung des Wertes der Aus- und Einfuhren von Waren und Dienstleistungen sowie des Leistungsbilanzüberschusses in Mrd. US-Dollar

BOFIT: Russia’s foreign trade slows; war spending expected to keep boosting growth, 02.02.24

Russlands Industrieproduktion stagniert bereits seit Mitte 2023

Ende Januar veröffentlichte das Statistikamt Rosstat erste Daten für die Entwicklung der Industrieproduktion im Dezember und im Jahr 2023.

Im Dezember 2023 war die Industrieproduktion 2,7 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Im gesamten Jahr 2023 wuchs sie im Vorjahresvergleich um 3,5 Prozent.

Im Vergleich zum Vormonat November stagnierte die Industrieproduktion im Dezember laut Rostat saison- und kalenderbereinigt. In der folgenden Rosstat-Abbildung zeigt die blaue Linie, dass die Industrieproduktion bereits seit Mitte 2023 saison- und kalenderbereinigt annähernd stagnierte.

Index der Industrieproduktion, 2020=100

rote Linie: unbereinigt; blaue Liinie: saison- und  kalenderbereinigt;  graue Linie: Trend

Rosstat: Industrieproduktion im Dezember (mit Chart); mit Tabelle; 31.01.24

Der Wachstumstreiber „Verarbeitendes Gewerbe“ schwächelte Ende 2023

Auch die folgende Abbildung des Forschungsinstituts der Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) zeigt, wie sich Russlands Industrieproduktion saison- und kalenderbereinigt entwickelte. Die vorläufigen Ergebnisse der Berechnungen des VEB-Instituts weichen von den ersten Rosstat-Angaben nur geringfügig ab. Die mittlere schwarze Linie in der Abbildung lässt erkennen, dass die Industrieproduktion insgesamt im zweiten Halbjahr 2023 saison- und kalenderbereinigt fast stagnierte.

Im Dezember 2023 sank die Industrieproduktion gegenüber November laut dem VEB-Institut insgesamt um 0,3 Prozent. Dabei war die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ im Dezember um 1,5 Prozent niedriger als im November (obere, dunkelgrüne Linie). Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere, hellgrüne Linie) sank gleichzeitig um 0,1 Prozent.

Industrieproduktion

Industrie insgesamt; Bergbau/Förderung von Rohstoffen; Verarbeitendes Gewerbe

Indizes der saison- und kalenderbereinigten Entwicklung der Produktion, 2014 = 100

Vnesheconombank Institute:World Economy and Markets Review“, 02.02.24

Das Wachstum der gesamten Industrieproduktion im Jahresvergleich 2023/2022 um 3,5 Prozent ergab sich vor allem aus dem Anstieg der Produktion des Verarbeitenden Gewerbes. Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes (obere, dunkelgrüne Linie) stieg 2023 gegenüber dem Vorjahr um 7,5 Prozent. Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen (untere, hellgrüne Linie) sank im Jahresvergleich 2023 gegenüber 2022 hingegen um 1,3 Prozent.

Im „Verarbeitenden Gewerbe“ wuchs der Maschinenbau überdurchschnittlich stark

Das VEB-Institut hat auch die saison- und kalenderbereinigte Entwicklung wichtiger Branchen des „Verarbeitenden Gewerbes“ analysiert. Die folgende Abbildung lässt erkennen, dass im Verlauf der Erholung der Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ seit der Jahresmitte 2022 die Produktion im Maschinenbau überdurchschnittlich stark gestiegen ist (obere dunkelgrüne Linie). Kräftig gestiegen ist in den letzten 18 Monaten auch die Produktion in der Metallurgie (schwarze Linie). Die deutliche Erholung der Chemie-Industrie setzte erst vor rund einem Jahr ein (graue Linie).

Sowohl im Maschinenbau als auch in der Metallurgie und der Chemie-Industrie ist die Produktion zuletzt zwar saison- und kalenderbereinigt gesunken. In allen drei Bereichen war die Produktion im Dezember 2023 aber noch etwa so hoch wie vor 2 Jahren am Jahresende 2021 kurz vor dem Beginn des Ukraine-Krieges.

Die Produktion von Nahrungsmitteln (hellgrüne Linie) entwickelte sich vergleichsweise stetig. Sie sank im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 etwas, ist seitdem aber um rund 10 Prozent gestiegen.

Die Produktion von Koks und Mineralölprodukten (untere rote Linie) stagnierte hingegen seit Mitte 2022 fast.

Verarbeitendes Gewerbe

Maschinenbau, Koks und Mineralölprodukte, Metallurgie, Chemie, Nahrungsmittel

Indizes der saison- und kalenderbereinigten Entwicklung der Produktion, 2014 = 100

Vnesheconombank Institute:World Economy and Markets Review“, 02.02.24

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen hier als PDF-Dokument, unter anderem zu:

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