Alle fünf führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute haben ihre neue Ausgaben ihrer vierteljährlich erscheinenden Prognosen für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft und der Weltwirtschaft veröffentlicht. In ihren aktuellen „Sommerprognosen“ schätzten sie das diesjährige Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland weiterhin sehr unterschiedlich ein.
Die Spannbreite der von ihnen im Jahr 2024 in Russland erwarteten Wachstumsraten reicht jetzt von +2,2 Prozent bis +3,6 Prozent. Sie ist damit noch etwas größer als bei den im März veröffentlichten „Frühjahrsprognosen“ der Institute.
2024 erwartet das IfW Kiel viel weniger Wachstum in Russland als DIW und ifo
Das mit Abstand stärkste gesamtwirtschaftliche Wachstum in Russland erwartete für 2024 bisher das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Das Berliner Institut hat seine Prognose für Russlands diesjährigen Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts im März überraschend stark auf 3,4 Prozent verdreifacht. Im Vergleich der Prognosen der deutschen Institute nahm es damit mit weitem Abstand die Spitzenposition ein.
Das DIW erwartet auch in seiner neuen „Sommerprognose“, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2024 um 3,4 Prozent wächst. Diese Prognose basiert allerdings auf der Annahme, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2023 nur um 3,0 Prozent gewachsen ist (DIW Wochenbericht Nr. 24/2024, S. 355). Laut der zweiten Schätzung des russischen Statistikamtes Rosstat erreichte der BIP-Anstieg im letzten Jahr jedoch 3,6 Prozent. Diese Rosstat-Schätzung des Wachstums im Jahr 2023 legen inzwischen auch alle anderen deutschen Institute ihren Prognosen zugrunde (siehe erste Spalte der folgenden Tabelle).
Das stärkste Wirtschaftswachstum in Russland erwartet im Jahr 2024 inzwischen das Münchner ifo Institut (ifo Schnelldienst, Sonderausgabe Juni 2024, S.6). Es hob seine bisherige Wachstumsprognose am 20. Juni von 2,8 Prozent auf 3,6 Prozent an. Damit würde die russische Wirtschaft in diesem Jahr genauso stark wachsen wie 2023.
„Sommerprognosen“ der deutschen Institute vom Juni 2024
für Russlands Wirtschaftswachstum in den Jahren 2023, 2024 und 2025,
Reales Bruttoinlandsprodukt, Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent,
(in Klammern „Frühjahrsprognosen“ der Institute vom 06.und 07.03.24)
Wie das Berliner DIW blieb jetzt auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft bei seiner „Frühjahrsprognose“ vom März (die in der Tabelle in der Klammer hinter der aktuellen Prognose vermerkt ist). Das IfW Kiel geht weiterhin davon aus, dass Russlands Wirtschaftswachstum 2024 auf 2,2 Prozent sinkt. Das Kieler Institut erwartet von den fünf Instituten jetzt das schwächste Wachstum in Russland.
Der Konjunkturverlauf im Jahr 2024 wird von den deutschen Instituten damit sehr unterschiedlich eingeschätzt. Anders als ifo und DIW erwartet das IfW Kiel bereits in diesem Jahr eine deutliche Abschwächung des russischen Wirtschaftswachstums.
Eine mittlere Position im aktuellen Spektrum der Prognosen nimmt jetzt das Essener RWI Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung ein. Es erhöhte seine Wachstumsprognose für Russland deutlich. Im März erwartete es für 2024 nur ein Wachstum von 1,7 Prozent. Jetzt geht das RWI davon aus, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 2,8 Prozent wächst. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle hob seine Wachstumsprognose gleichzeitig von 2,6 auf 2,7 Prozent an.
2025 halbiert sich Russlands Wachstum etwa
Einig sind sich die deutschen Institute, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr deutlich abschwächen wird. Ein besonders geringes Wachstum erwartet 2025 weiterhin das IfW Kiel. Der Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts werde 2025 auf nur noch 0,8 Prozent sinken. Ähnlich schwach sieht das IWH die russische Wirtschaft im nächsten Jahr wachsen (+1,0 Prozent).
Das Berliner DIW und das Essener RWI prognostizieren hingegen, dass der reale Anstieg des Bruttoinlandsprodukts 2025 noch 1,8 Prozent erreichen wird. Das ifo Institut rechnet damit, dass das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr noch 1,7 Prozent erreicht. Damit würde es sich im Vergleich mit dem starken Wachstum im Jahr 2024 (+3,6 Prozent) aber gut halbieren.
Die Weltbank erwartet 2025 auch eine Halbierung des Wachstums
Wenige Tage vor der Veröffentlichung der „Sommerprognosen“ der deutschen Institute hatte die Weltbank ihre Prognosen für die Entwicklung der Weltwirtschaft aktualisiert („Global Economic Prospects“). Ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft hob sie – wie auch das OPEC-Sekretariat – auf 2,9 Prozent an. Anfang April hatte die Weltbank noch einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion von lediglich 2,2 Prozent erwartet. 2025 erwarten aber auch die Weltbank und das OPEC-Sekretariat eine Halbierung des russischen Wachstums auf nur noch 1,4 Prozent.
Die Wneschekonombank erhöhte ihre Prognose für 2024 auf 3,8 Prozent
Ein noch stärkeres Wachstum der russischen Wirtschaft als das ifo Institut und das DIW erwartet im Jahr 2024 mit +3,8 Prozent das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank („Bank für Außenwirtschaft“). Zur Aufwärtsrevision seiner Prognose verwies es auf das kräftige Wachstum der Investitionen und Reallöhne im ersten Quartal 2024 sowie auf das Wachstum im Bereich der Dienstleistungen im März/April.
Andrei Klepach, Chef-Volkswirt der Wneschekonombank und früherer Stellvertretender Wirtschaftsminister, hatte bereits beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg in einem Pressegespräch gemeint, dass die russische Wirtschaft 2024 ein Wachstum von 3,5 bis 3,6 Prozent erreichen könnte (Expert.ru: The Russian economy may repeat last year’s growth).
Im Jahr 2025 erwartet die Wneschekonombank dann laut einer im Mai veröffentlichten Prognose aber auch eine Abschwächung des Wachstums. Mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,7 Prozent würde Russlands Wirtschaft aber laut dieser Prognose auch 2025 noch kräftiger wachsen als die russische Regierung in ihrer Haushaltsplanung vom April angenommen hat (+2,3 Prozent).
BIP-Prognosen 2024 bis 2026
Im ersten Quartal 2024 wuchs Russlands BIP im Vorjahresvergleich um 5,4 Prozent
Das Statistikamt Rosstat bestätigte in einer ersten Schätzung am 14. Juni seine vorläufigen Angaben von Mitte Mai, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im ersten Quartal voraussichtlich 5,4 Prozent höher war als vor einem Jahr. Besonders stark war der Anstieg der Wertschöpfung in den Bereichen „Banken und Versicherungen“ (+ 18,8%), „Information und Kommunikation“ (+ 15,3%) sowie im Bereich „Groß- und Einzelhandel/Reparatur von Fahrzeugen“ (+ 11,4%). Im Verarbeitenden Gewerbe stieg die Wertschöpfung auch weit überdurchschnittlich stark um 9 Prozent (RBC.ru).
In der folgenden Abbildung des Moskauer „Zentrums für makroökonomische Analysen und kurzfristige Prognosen“ ist aber erkennbar, dass sich der Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts laut den Berechnungen dieses Instituts im ersten Quartal 2024 im Vergleich zum vierten Quartal 2023 saisonbereinigt auf 0,4 Prozent abgeschwächt hat (dunkelblaue Linie).
Reales Bruttoinlandsprodukt
(Durchschnitt der Vierteljahreswerte 2018=100)
Center for Macroeconomic Analysis and Short-term Forecasting, CMASF: Trends of the Russian Economy, 10.06.2024
Zu anderen Ergebnissen kommen allerdings Berechnungen des Instituts der Wneschekonombank („Bank für Außenwirtschaft“). Laut dem „BIP-Index“ des VEB-Instituts ist das reale Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2024 wie im vierten Quartal 2023 saisonbereinigt um jeweils 0,6 Prozent gegenüber dem Vorquartal gewachsen.
RWI Essen zu Russlands Konjunktur: „Robustes Wachstum durch Kriegswirtschaft“
Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Essen nimmt in seiner „Sommerprognose“ als einziges Institut ausführlich zur aktuellen Konjunkturentwicklung in Russland Stellung (RWI-Konjunkturbericht 2/2024, S.33). Es erwartet, dass die russische Wirtschaft im gesamten Jahr 2024 ein Wachstum von 2,8 Prozent erreichen wird. 2025 rechnet das RWI Essen im Vergleich mit den anderen deutschen Instituten mit einer moderaten Abschwächung des Wachstums auf 1,8 Prozent.
Die Konjunkturentwicklung im ersten Quartal 2024 beschreibt das RWI so:
„In Russland setzte sich in den ersten Monaten des laufenden Jahres die starke Expansion der Wirtschaftsleistung fort. Laut russischem Statistikamt wuchs das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal um 5,4% im Vorjahresvergleich.
Dabei stützten die Staatsausgaben und darunter vorwiegend die Militärausgaben den Konsum und die Investitionen.
Insbesondere die mit dem Krieg verbundenen Branchen sowie das Baugewerbe und der Einzelhandel expandierten kräftig. Die Produktion in der kriegsrelevanten Industrie nahm stark zu.“
Das RWI weist jedoch darauf hin, dass die Monatsdaten im März eine deutliche Verlangsamung der Dynamik der wirtschaftlichen Expansion gezeigt hätten. Die Produktion sei in fast allen „Schlüsselindustrien“ im Vormonatsvergleich zurückgegangen und die Bauaktivität habe sich deutlich verlangsamt.
Zur weiteren Konjunkturentwicklung meint das RWI:
„Laut der russischen Zentralbank dürfte sich die konjunkturelle Dynamik ab dem
zweiten Quartal 2024 unter dem Einfluss der zunehmenden Auswirkungen der restriktiven Geldpolitik weiter verlangsamen.
Der Arbeitskräftemangel begrenzt das Produktionswachstum, gleichzeitig steigen die Löhne kräftig. Die Kapazitätsauslastung ist historisch hoch und Einschränkungen durch Sanktionen erschweren den Import von Investitionsgütern.
In diesem und im nächsten Jahr wird wohl überwiegend in Maschinen und Ausrüstung der Militärindustrie investiert. Laut beschlossenem Haushaltsvoranschlag für das laufende Jahr werden die öffentlichen Ausgaben um rund 13% im Vorjahresvergleich steigen. Die größten Posten sind die Ausgaben für Verteidigung und nationale Sicherheit mit einem Anteil von rund 40% sowie die Sozialausgaben mit rund 20% des föderalen Haushalts.
Die Haupttreiber des Wachstums werden weiterhin die hohe Konsum- und Investitionsnachfrage sein.“
Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft weist auf die Bedeutung der staatlichen Aufträge und Transferzahlungen für das Wachstum der russischen Wirtschaft hin:
„Die Zuwächse an Produktion und Einkommen … sind vor allem auf Staatsaufträge, nicht zuletzt zur Aufrüstung, und höhere Transferzahlungen zurückzuführen.
Die wirtschaftlichen Kapazitäten sind hoch ausgelastet, so dass höhere Nachfrage zu zusätzlichem Inflationsdruck führt. Die Notenbank hat inzwischen ihre Zinsen deutlich erhöht, was Konsum und Investitionen im privaten Sektor im Prognosezeitraum bremsen dürfte.“
Gleichzeitig merkt das Institut an, dass die Konjunkturaussichten für Russland „naturgemäß“ besonders unsicher seien.
BOFIT: Im April war Russlands Konjunktur wieder „robust“
Das Forschungsinstitut BOFIT der finnischen Zentralbank stellt in BOFIT-Weekly am 20. Juni fest, dass die russischen Konjunkturdaten nach einer schwächeren Entwicklung im März im April wieder „robust“ gewesen seien. Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes und der Bauwirtschaft hätten von höheren staatlichen Ausgaben profitiert. Die Nachfrage der Verbraucher sei vom schnellen Wachstum der Löhne angetrieben worden, obwohl sich das Wachstumstrend der realen Umsätze im Einzelhandel im April abschwächte. Nominal seien die Durchschnittslöhne im März rund 22 Prozent höher als vor einem Jahr gewesen. Die Arbeitslosenquote sei im April auf 2,6 Prozent gefallen (siehe auch RIA Rating).
Weltbank: Das unerwartet starke Wachstum sinkt 2024 nur auf 2,9 Prozent
Die Weltbank erinnert in ihrem Bericht „Global Economic Prospects“ daran, dass der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion im letzten Jahr in Russland mit +3,6 Prozent um einen Prozentpunkt höher gewesen sei als sie Anfang Januar geschätzt habe.
Die Bedeutung der Rüstungsausgaben für das Wachstum rückt die Weltbank im Vergleich mit anderen Instituten in den Hintergrund. Das stärkere Wachstum des Bruttoinlandsprodukts spiegele, dass die private Nachfrage in Russland mehr als erwartet gewachsen sei. Dazu hätten subventionierte Hypotheken, fiskalische Maßnahmen und die starke Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem angespannten Arbeitsmarkt beigetragen. Die Steigerung der Ausgaben für das Militär hätte die Wirtschaft „auch“ angetrieben.
2024 erwartet die Weltbank eine relativ moderate Abnahme der Wachstumsrate auf 2,9 Prozent. Erst 2025 werde sie sich auf 1,4 Prozent halbieren und 2026 weiter auf 1,1 Prozent sinken, in die Nähe der „potenziellen Wachstumsrate“ der russischen Wirtschaft.
Im gesamten laufenden Jahr 2024 wird die Produktion der russischen Wirtschaft nach Einschätzung der Weltbank noch durch den „Übertrag“ des starken Wachstums am Ende des Jahres 2023 und am Beginn des Jahres 2024 angetrieben werden. Die private Nachfrage werde aber voraussichtlich durch „makroprudenzielle Maßnahmen“ der Regierung zur Sicherung des Finanzsystem und durch die Einschränkung von Subventionen für Hypotheken gedämpft werden. Die Rüstungsproduktion werde die Wirtschaftsaktivität weiterhin stützen.
Zur außenwirtschaftlichen Entwicklung merkt die Weltbank an, dass sich die Handelsverbindungen Russlands mit China verstärkt hätten. Der Außenhandel Russlands werde zunehmend mit Chinas Währung Renminbi abgewickelt.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Analysten überbieten die Wachstumsprognose der Regierung für 2024, 13.06.24
- EU teilt Russlands Wachstumserwartungen, 28.05.24
- Neue Analysen zum Wachstum der russischen Kriegswirtschaft, 21.05.24
- Immer wahrscheinlicher: Russlands Wirtschaft wächst 2024 um rund 3 Prozent, 08.05.24
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- BR24; Peter Jungblut: “Alles nur Fassade”: Wie stark ist Putins Kriegswirtschaft?
- Russland-Analysen Nr. 451: Personalveränderungen in Regierung und Präsidialverwaltung
- Conversations with Bill Kristol: Anne Applebaum on Ukraine, Russia, Europe, and the US
- Mark Galeotti, Interview RFE/RL: Russia’s War On Ukraine Could Drag On For Years
- „Bosbach & Rach – Podcast“: Interview mit:Petra Erler und Günther Verheugen
- Brookings; Samantha Gross, Constanze Stelzenmüller: Europe’s messy Russian gas divorce.
- Yahoo News: Russia overtook US in May as leading gas supplier to Europe, FT reports
- kammer-russland.ru: Verluste durch den Wegfall russischer Gasimporte beziffert
- Cicero; Ekaterina Zolotova: Russische Wirtschaft – Gazprom auf Talfahrt