Analysten: Russlands Wirtschaftswachstum halbiert sich 2024

Laut der „ersten Schätzung“ des Statistikamtes Rosstat ist Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 um 3,6 Prozent gestiegen. Wirtschaftsminister Reschetnikow hatte bereits seit Anfang Dezember einen Anstieg um 3,5 Prozent prognostiziert. Fast alle westlichen Beobachter rechneten aber mit einem deutlich niedrigeren Wachstum.

2024 wird es nach ziemlich einhelliger Meinung der Experten aber viel langsamer weiter aufwärts gehen. Das erwarten auch die von der russischen Zentralbank zur Vorbereitung ihrer am Freitag anstehenden Leitzinsentscheidung befragten Analysten aus Banken, Medien und Forschungsinstituten (29 Teilnehmer, darunter 4 ausländische). Ihre Prognosen im „Macroeconomic survey“ der Zentralbank gehen im Mittelwert davon aus, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2024 auf nur noch 1,6 Prozent halbiert.

Die Vermutung liegt nahe, dass 2024 bei dieser starken Abkühlung der Konjunktur auch das Inflationstempo in Russland abnehmen wird. Laut der Zentralbank-Umfrage ist jedoch trotz des schwächeren Wirtschaftswachstums im Jahresvergleich 2024/2023 mit einer höheren Inflationsrate zu rechnen.

Im Verlauf des Jahres 2024 sinkt die Inflationsrate jedoch

Einen Rückgang der Inflationsrate erwarten die Analysten aber im Verlauf des Jahres 2024. Im Dezember 2023 sind die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat noch um 7,4 Prozent gestiegen. Im Dezember 2024 wird der Preisanstieg gegenüber dem Vorjahresmonat laut der Umfrage nur noch 4,9 Prozent erreichen (siehe erste Zeile der folgenden Tabelle).

Im Jahresdurchschnitt 2024 werden die Verbraucherpreise in Russland nach Einschätzung der Analysten jedoch um 6,9 Prozent steigen (siehe zweite Zeile). Damit würde sich die Inflationsrate gegenüber 2023 beschleunigen – trotz des starken Rückgangs der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts auf nur noch 1,6 Prozent (siehe letzte Zeile).

Im letzten Jahr hat sich das Inflationstempo mehr als halbiert. Der Anstieg der Verbraucherpreise sank 2023 im Jahresdurchschnitt von 13,8 Prozent auf nur noch 5,9 Prozent.

Ergebnisse der Zentralbank-Umfrage vom February 2024 zu Inflation und Wachstum

(in Klammern: Ergebnisse der Umfrage vom Oktober 2023)

Central Bank of Russia: Macroeconomic survey of the CBR, 07.02. 24

Der Leitzins wird im Jahresdurchschnitt 2024 deutlich höher sein als 2023

Auch zur Entwicklung des Leitzinses der Zentralbank wurden die Analysten befragt. Er wird nach ihrer Einschätzung von 9,9 Prozent im Jahresdurchschnitt 2023 auf 13,9 Prozent im Jahresdurchschnitt 2024 steigen, also um 4 Prozentpunkte, deutlich stärker als die Inflationsrate.

Vor allem zur Stabilisierung des Rubel-Kurses (Chart) hatte die Zentralbank den Leitzins (Chart) im Verlauf des letzten Jahres bis auf 16 Prozent im Dezember angehoben. Offenbar rechnen viele Analysten jetzt damit, dass die Zentralbank bis weit in das Jahr 2024 hinein an einem hohen Leitzins festhalten wird. Schwächt sich das Wirtschaftswachstum aber wie erwartet ab, dürften die Forderungen nach einer Senkung des Leitzinses lauter werden.

Alfa-Bank Chef-Volkswirtin: Bis zum Sommer bleibt der Leitzins bei 16 Prozent

Auch Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, meint in einem Finam-Kommentar, dass die Zentralbank an ihrer „ziemlich straffen“ Geldpolitik festhalten wird. Sie verweist darauf, dass sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise im Januar bei knapp über 7 Prozent gehalten habe und ein weiterer Anstieg der Staatsausgaben zu erwarten sei. Die Alfa-Bank gehe davon aus, dass die Zentralbank den Leitzins bis zum Sommer 2024 unverändert lasse, weil die anhaltende „Überhitzung“ auf dem Arbeitsmarkt ein „strukturelles Hindernis“ für eine Abkühlung der Inflation sei. Um zu gewährleisten, dass die Inflationsrate auf die von der Zentralbank angestrebte Rate von 4,0 Prozent sinkt, dürfte die Zentralbank den Leitzins für „längere Zeit“ hoch halten.

Bei einer Izvestia-Umfrage bei 22 Finanzinstituten waren die Befragten einmütig der Meinung, dass es derzeit keine ausreichenden Gründe für eine Lockerung oder eine Straffung der Geldpolitik gebe.

Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin des Börsenunternehmens FINAM, meinte bei der Umfrage, die Zentralbank habe selbst klargestellt, dass eine Senkung des Leitzinses noch nicht anstehe. Entscheidend für die Zentralbankentscheidung sei die Inflationsentwicklung. Bisher sei der Rückgang des Anstiegs der Preise nicht durch einen „stabilen Trend“ verursacht, sondern durch volatile Faktoren wie die Aufwertung des Rubel-Kurses und Kostenentwicklungen bei einigen Produkten (siehe auch Kommentar von Belenkaya).

Mikhail Vasiliev, Chef-Analyst der Sovcombank, stellte heraus, der Hauptgrund für den beschleunigten Preisanstieg bleibe die starke Inlandsnachfrage. Wegen des knappen Angebots von Arbeitskräften seien die Löhne gestiegen. Diese Situation werde sich in naher Zukunft nicht grundlegend ändern.

Laut Viktor Grigoriev, Analyst der Bank St. Petersburg, werden die Staatsausgaben deutlich steigen und zum Preisanstieg beitragen. Gleichzeitig seien die Inflationserwartungen von Verbrauchern und Unternehmen noch hoch.

Der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise sinkt seit November nur langsam

Wie die folgende Abbildung aus dem Wochenbericht des Forschungsinstituts der Bank für Außenwirtschaft (Wneschekonombank) zeigt, ist die jährliche Inflationsrate vom April letzten Jahres bis zum November um gut 5 Prozentpunkte auf 7,5 Prozent gestiegen. Im Dezember sank sie nur wenig auf 7,4 Prozent (Trading Economics-Chart). Wie stark die Verbraucherpreise im Januar im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen sind, wird Rosstat am 14. Februar mitteilen (Trading Economics-Calendar).

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Beiträge von Lebensmitteln, Nicht-Lebensmitteln und Dienstleistungen zur Inflationsrate in Prozentpunkten; Schätzung des VEB-Instituts

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“, 09.02.24;

Nach Angaben des VEB-Instituts verlangsamte sich der jährliche Preisanstieg in der Woche bis zum 05. Februar auf 7,1 Prozent (siehe Chart).

Das 2023 erreichte BIP-Wachstum von 3,6 Prozent flaut 2024 deutlich ab

Laut der „ersten Schätzung“ des Statistikamtes Rosstat vom 07. Februar ist Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 um 3,6 Prozent gestiegen. Russlands Wirtschaftsminister Reschetnikow hatte seit Anfang Dezember einen Anstieg um 3,5 Prozent prognostiziert.

Die vom in Barcelona ansässigen Research-Unternehmen FocusEconomics befragten Banken und Institute (darunter nur wenige russische) erwarteten in einer ebenfalls am 07. Februar veröffentlichten Umfrage hingegen, dass die russische Wirtschaft 2023 nur um 2,7 Prozent gewachsen ist.

Einig sind sich fast alle Beobachter, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum 2024 deutlich abschwächen dürfte. Nur der Internationale Währungsfonds rechnet damit, dass das Wachstum lediglich von 3,0 auf 2,6 Prozent abnimmt (s. Ostexperte-Bericht). Auch laut der Umfrage der Zentralbank wird Russlands Wachstum 2024 deutlich sinken. Wie in der Unfrage von FocusEconomics wird auch in der Zentralbank-Umfrage in diesem Jahr nur noch ein Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts um 1,6 Prozent erwartet.

Die Pariser OECD hob ihre Prognose für Russlands diesjähriges Wachstum Anfang Februar auf 1,8 Prozent an. Diese Prognose ist etwas höher als die Weltbank und die Vereinten Nationen Anfang Januar mit jeweils 1,3 Prozent prognostizierten. Im Vergleich mit 2023 erwarten diese drei internationalen Wirtschaftsorganisationen damit 2024 eine Halbierung des Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Die russische Zentralbank wird anlässlich ihres Leitzinsentscheides am 16. Februar auch ihre „Mittelfristige Prognose” aktualisieren. In iher jüngsten Prognose vom Oktober erwartet sie, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft 2024 auf 0,5 bis 1,5 Prozent abschwächt.

Informationen zu Verwendung und Erstellung des BIP im Jahr 2023

Olga Belenkaya stellt auf der Basis der Rosstat-Veröffentlichungen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 in einem detaillierten Finam-Bericht u.a. folgende Entwicklungen heraus:

Hinsichtlich der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts basiert das starke Wachstum auf dem Anstieg von Konsum und Investitionen. Der Beitrag der Aufstockung der Lagervorräte zum Wachstum der Investititonen war 2023 ungewöhnlich hoch.

Zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 3,6 Prozent im Jahr 2023 trug laut Finam-Schätzungen der Private Verbrauch rund 3 Prozentpunkte bei und der Staatsverbrauch 0,6 Prozentpunkte. Der größte Wachstumsbeitrag kam von den Brutto-Anlageinvestitionen mit der Aufstockung der Lagervorräte (4,6 Prozentpunkte).

Auf der anderen Seite ist das BIP-Wachstum durch die negative Entwicklung des Netto-Exports und durch „statistische Differenzen” um insgesamt 4,6 Prozentpunkte verringert worden.

Zur Erklärung des starken Wachstums der Investitionen verweist Belenkaya darauf, dass die russischen Unternehmen angesichts der Sanktionen auch investieren, um Einfuhren zu substituieren und ihre Lieferketten zu restrukturieren. Erhöhten Investitionsbedarf gebe es auch im Bereich der Rüstungsindustrie. In Ausrüstungen werde auch vorsorglich investiert, weil befürchtet werde, dass dies wegen der Verhängung von Sanktionen künftig nicht mehr möglich sein könnte.

Auf der Herstellungsseite des BIP kamen die größten Beiträge zum Wachstum von 3,6 Prozent laut ersten Finam-Berechnungen vom „Verarbeitenden Gewerbe” (0,97 Prozentpunkte), dem Groß- und Einzelhandel (0,96 Prozentpunkte), dem Baugewerbe (0,35 Prozentpunkte) sowie der Finanz- und Versicherungswirtschaft (0,37 Prozentpunkte).

Gedämpft wurde das Wachstum durch den Rückgang der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen” (- 0,28 Prozentpunkte).

Im Dezember stagnierte die Industrieproduktion und der Einzelhandelsumsatz sank

Zur aktuellen Entwicklung der Industrieproduktion merkt Belenkaya an, dass die Industrieproduktion im Dezember im Vergleich zum November saisonbereinigt stagnierte (siehe Ostexperte-Bericht). Ursachen dafür seien vor allem die hohe Auslastung der Produktionskapazitäten und Personalengpässe gewesen.

Das Wachstum des realen Umsatzes im Einzelhandel hat sich nach Einschätzung  Belenkayas verlangsamt, weil die Sparneigung wegen der hohen Zinsen gestiegen sei. Die höhere Sparneigung sei eine der Ursachen für die Verlangsamung des Anstiegs der Verbraucherpreise, obwohl der Arbeitsmarkt weiterhin sehr angespannt sei und die Löhne stark stiegen.

Die folgende Abbildung aus dem Wochenbericht des VEB-Instituts zeigt die Entwickung des realen Umsatzes im Einzelhandel und mit Dienstleistungen vor dem Hintergrund der Entwicklung der Reallöhne. Die Reallöhne sanken im November gegenüber dem Vormonat saison- und kalenderbereinigt um 0,8 Prozent (obere graue Linie). In den ersten elf Monaten waren sie jedoch 7,6 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum.

Entwicklung der realen Umsätze im Einzelhandel und mit Dienstleistungen sowie der Reallöhne, saison- und kalenderbereinigt (Jan. 2014=100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“, 09.02.24;

Der reale Einzelhandelsumsatz (untere schwarze Linie) sank im Dezember gegenüber dem Vormonat um 1,2 Prozent. Er war bereits im November gegenüber dem Vormonat um  0,8 Prozent zurückgegangen. Im Jahresvergleich 2023 gegenüber 2022 stieg der reale Einzelhandelsumsatz jedoch um 6,4 Prozent. Das Anfang 2022 vor dem Beginn des Ukraine-Krieges erreichte Niveau hat er jedoch noch nicht wieder erreicht.

Im Gegensatz dazu ist der reale Umsatz mit Dienstleistungen (obere dunkelgrüne Linie) inzwischen deutlich höher als vor dem Ukraine-Krieg. Im Dezember stieg er gegenüber November um 0,6 Prozent. Im Jahresvergleich war der Umsatz mit Dienstleistungen 2023 real 4,4 Prozent höher als im Vorjahr.

Die gesamtwirtschaftliche Produktion stieg im Dezember

Laut ersten Berechnungen des VEB-Instituts ist die Produktion im Dezember im Vergleich zum Vormonat auch in den Branchen „Strom-, Gas- und Wasserversorgung”, Bauwirtschaft, Großhandel, Personenverkehr und Landwirtschaft gestiegen.

Rückgänge der Produktion gab es im Dezember gegenüber November hingegen im „Verarbeitenden Gewerbe” und im Bereich  „Bergbau, Förderung von Rohstoffen”, im Warentransport, im Einzelhandel und im Gastgewerbe.

Insgesamt ist das reale Bruttoinlandsprodukt laut dem VEB-Institut im Dezember saison- und kalenderbereinigt 0,7 Prozent höher gewesen als im November, in dem es gegenüber dem Oktober um 0,8 Prozent gesunken war. 

Index des realen Bruttoinlandsprodukts,

saison- und kalenderbereinigt (Januar 2014 = 100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“, 09.02.24

2024 verlansamt sich der Anstieg von Verbrauch und Investitionen

Finam-Chefvolkswirtin Belenkaya stimmt der kürzlich veröffentlichten Konjunkturanalyse der Zentralbank “Was die Trends sagen” zu, dass es für eine Verlangsamung der Wirtschaftsaktivität bisher nur erste Anzeichen gibt (Zusammenfassung in Englisch)..

Die Zentralbankanalyse gehe aber davon aus, dass im Jahr 2024 mit einer Verlangsamung des Konsumwachstums der privaten Haushalte zu rechnen sei. Auch bei den Bruttoanlageinvestitionen sei eine “gewisse Verlangsamung des Wachstums” zu erwarten. Zur Ausweitung der Investitionen würden aber vergünstigte Kreditprogramme für vorrangige Projekte beitragen. Auch die Ausfüllung von Marktnischen, die durch den Abzug ausländischer Hersteller und Zulieferer enstanden seien, würde 2024 voraussichtlich für Investitionsimpulse sorgen.

Auch eine „strenge Geldpolitik” ist ein „konjunktureller Risikofaktor”

Als Risikofaktoren für die Konjunkturentwicklung nennt Olga Belenkaya drei Punkte:

Eine „strenge Geldpolitik”, die das Wirtschaftswachstum verlangsamt, zunehmende Probleme bei grenzüberschreitenden Zahlungen und eine Verschärfung des Mangels an Arbeitskräften.

„The Bell“: Vor allem die Militär-Ausgaben haben Russlands Wirtschaft gerettet

Das Internet-Magazin „The Bell“ sieht in seinem „Weekly guide to the Russian econmy“ die

Entwicklung der russischen Wirtschaft derzeit zusammengefasst so:

In den Jahren 2022 und 2023, die vom Ukraine-Krieg und westlichen Sanktionen, dominiert wurden, ist Russlands Wirtschaft um insgesamt 2,4 Prozent gewachsen. Kurz gesagt war es der Anstieg der Ausgaben der Regierung, vor allem der Ausgaben für das Militär, die die Wirtschaft „gerettet“ haben.

Das Wachstum der Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ wurde vom Boom im Verteidigungssektor getrieben. Der Anstieg der Bauproduktion wurde von staatlich subventionierten Hypotheken getragen. Das Wachstum im Handel ist ein Reflex der Anhebung der Löhne, vor allem der Löhne für Beschäftige von staatlichen Unternehmen.

Russlands Wirtschaft wächst schneller als die Weltwirtschaft. Das ist keine Kreml-Propaganda, sondern eine Tatsache. Dieses Wachstum ist allerdings mit hohen künftigen Kosten erkauft. Es schafft „strukturelle Ungleichgewichte“, die wahrscheinlich ernste Folgen haben werden.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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