Russlands Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow betonte beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum (SPIEF) vor einer Woche die Anpassungsfähigkeit der russischen Wirtschaft. Wirtschaftsanalysten überbieten derweil die Wachstumsprognosen der Regierung. Die aktuellen Einschätzungen im Überblick.
In einer Diskussion beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Peterburg erklärte Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion der russischen Wirtschaft in den ersten vier Monaten des Jahres 2024 stütze die Prognose seines Ministeriums, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im gesamten Jahr 2024 um 2,8 Prozent wachsen werde. Das Wachstum der Wirtschaft im Zeitraum Januar bis April 2024 schätzt das Wirtschaftsministerium im Vorjahresvergleich auf 5,1 Prozent. Den realen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresmonat April 2023 veranschlagte es auf 4,4 Prozent (Finmarket.ru). Die Regierung will, so Minister Reschetnikow beim SPIEF, ihre Prognosen im Juli/August aktualisieren (Interfax.com).
Der Minister betonte beim SPIEF die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft. Auch unter den Bedingungen der ziemlich hohen Zinsen wachse sie weiterhin. Die Anlageinvestitionen seien erfreulicherweise im ersten Quartal im Jahresvergleich um 14,5 Prozent gestiegen (Interfax.com).
Reschetnikow hält es für problematisch von einer „Überhitzung“ der Wirtschaft zu sprechen, weil bei steigenden Preisen auch die Produktion wachse. Das Wachstumstempo der Wirtschaft sei „normal“.
Unterschiedliche Schätzungen zur BIP-Entwicklung im April gegenüber März
Im April ist die gesamtwirtschaftliche Produktion laut den ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums gegenüber dem Vormonat bereinigt um 0,2 Prozent gestiegen. Das Forschungsinstitut der staatlichen Bank für Außenwirtschaft geht in einer ersten Schätzung in seinem Wochenbericht hingegen davon aus, dass das reale BIP im April gegenüber März saison- und kalenderbereinigt um 0,1 Prozent gesunken ist.
Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014=100)
Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 07.06.24
Führende russische Institute erwarten 2024 ein Wachstum von über 3 Prozent
Die Prognosen von Forschungsinstituten und Banken für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft sind weiter gestiegen. Einen Tag vor dem Leitzinsentscheid der russischen Zentralbank am 07. Juni hob das Institut für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften seine Erwartung für den Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts auf 3,4 Prozent an. Vor einem Vierteljahr hatte es noch ein Wachstum von lediglich 1,9 Prozent erwartet.
Das Moskauer „Zentrum für makro-ökonomische Analysen und kurzfristige Prognosen“ (CMASF) hob seine Prognose für 2024 auf 3,0 bis 3,5 Prozent an.
Ähnlich optimistisch hatte sich bereits am 23. Mai das Forschungsinstitut der Wneschekonombank geäußert. Das VEB-Institut erhöhte seine Wachstumsprognose für 2024 von 2,1 auf 3,2 Prozent und für 2025 von 2,3 auf 2,7 Prozent. Andrei Klepach, Chef-Volkswirt der Wneschekonombank und früherer Stellvertretender Wirtschaftsminister, meinte beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg in einem Pressegespräch sogar, dass ein Wachstum von 3,5 bis 3,6 Prozent erreicht werden könne (Expert.ru: The Russian economy may repeat last year’s growth).
Die Weltbank hob ihre Wachstumsprognose von 2,2 auf 2,9 Prozent an
Auch die Wachstumserwartungen westlicher Analysten haben sich kräftig weiter erhöht. Das zeigt die monatliche Umfrage des in Barcelona ansässigen Research-Unternehmens „FocusEconomics“, an der weit überwiegend westliche Banken und Forschungsinstitute und nur wenige russische Analysten beteiligt sind. Die durchschnittliche Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft stieg auf 2,7 Prozent (Mai-Umfrage: +2,4 Prozent). Die Frankfurter DekaBank erhöhte ihre Prognose sogar auf 3,5 Prozent.
Die Weltbank rechnet in den am 11. Juni veröffentlichten „Global Economic Prospects“ 2024 jetzt in Russland mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion von 2,9 Prozent. Ihre Prognose ist damit nur noch wenig niedriger als die Prognose des Internationalen Währungsfonds (3,2 Prozent). Im nächsten Jahr erwarten die beiden Organisationen aber ein deutlich niedrigeres Wachstum (Weltbank: + 1,4 Prozent; IWF: + 1,8 Prozent).
BIP-Prognosen 2024 bis 2026
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Das Wachstum liegt derzeit nahe 3,5 Prozent
Die russische Zentralbank hielt am 07. Juni weiterhin an ihrem Leitzins von 16 Prozent fest. Zuletzt hatte sie ihn im Dezember angehoben. Angesichts der anhaltend hohen jährlichen Inflationsrate und weiter steigender Prognosen für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft hatten bei Umfragen vor dem Leitzinsentscheid bis zu einem Drittel der Analysten eine Zinserhöhung erwartet.
Die Nachfrage übersteigt das Angebot, die Inflationserwartungen zogen an
Der Stellvertretende Präsident der russischen Zentralbank, Alexey Zabotkin, betonte im Vorfeld des Leitzinsentscheides in einem Interview mit „Argumente und Fakten“ die Notwendigkeit hoher Zinsen angesichts der aktuellen Konjunkturentwicklung. Er meinte zur Zinspolitik der Zentralbank:
„Die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen ist stark gewachsen. Aus einer Reihe von Gründen kann das Angebot damit nicht Schritt halten. Die Reaktion der Unternehmen ist in solchen Fallen immer dieselbe: sie erhöhen die Preise. Wenn Kredite in dieser Situation billig bleiben würden, würde die Nachfrage das Angebot noch mehr übersteigen. Deswegen ist eine Periode hoher Zinsen im Interesse der gesamten Gesellschaft. Sie ist notwendig, um eine niedrige Inflation zu erreichen.“
Die Wirtschaftszeitung Kommersant kam vor dem Leitzinsentscheid zur Einschätzung, eine Leitzinserhöhung sei wahrscheinlicher geworden. Die Inflationserwartungen hätten vor dem Hintergrund der erhöhten Wachstumserwartungen angesichts der steigenden privaten Nachfrage und der wachsenden Kreditaufnahme der Verbraucher zugenommen. Der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vormonat habe sich im April saisonbereinigt beschleunigt. Die Nachfrage der Verbraucher übersteige weiterhin die Produktionskapazitäten.
Bei ihrer Presse-Konferenz nach dem Leitzinsentscheid meinte Zentralbank-Präsidentin Elwira Nabiullina, laut vorläufigen Schätzungen liege das aktuelle Wachstum der russischen Wirtschaft bei der oberen Grenze der Wachstumsspanne, die die Zentralbank in ihrer Prognose im April für 2024 genannt habe (2,5 bis 3,5 Prozent). Zur nächsten Leitzinsentscheidung Ende Juli werde die Zentralbank die Daten überprüfen und ihre Prognose aktualisieren (Izvestia.ru).
Nabiullina betonte, dass sich die Zentralbank die Möglichkeit offen halte, den Leitzins im Juli „beträchtlich“ zu erhöhen (das heiße, um mehr als einen Prozentpunkt), falls der anhaltende Inflationsdruck nicht nachlasse und sich inflationäre Risiken realisieren würden (Interfax.com).
Ihr Stellvertreter Alexey Zabotkin wies darauf hin, bei den bisher für das erste Quartal vorliegenden Daten müsse der durch das Schaltjahr verursachte Effekt eines zusätzlichen Tages am 29. Februar berücksichtigt werden. Er könne erst in einigen Monaten beurteilt werden. Ende Juli seien aber genügend Daten zur Einschätzung der Wirtschaftsaktivität im zweiten Quartal verfügbar (Finmarket.ru).
Ergebnisse der Analysten-Umfrage der Zentralbank
Vor ihrer Leitzinsentscheidung am 07. Juni hat die russische Zentralbank wieder Banken, Forschungsinstitute und Wirtschaftsmedien zu den Perspektiven der russischen Wirtschaft bis 2026 befragt. Vor allem der kräftige Anstieg ihrer Prognosen für das diesjährige Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion wird der russischen Regierung gefallen.
Hinsichtlich der weiteren Konjunkturentwicklung bleiben die Umfrage-Teilnehmer, darunter nur wenige ausländische, jedoch deutlich skeptischer als die Regierung, die in ihrer Ende April konzipierten Haushaltsplanung davon ausgeht, dass das Wachstum der russischen Wirtschaft 2024 noch 2,8 Prozent erreicht und sich 2025 nur moderat auf +2,3 Prozent abschwächt. Die Regierung will, so Minister Reschetnikow beim SPIEF, ihre Prognosen im Jul/August aktualisieren (Interfax.com).
Analysten: Der BIP- Anstieg erreicht 2024 noch 2,9 Prozent
Der Mittelwert der Analysten-Prognosen für den diesjährigen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion war bereits bei der April-Umfrage der Zentralbank von 1,8 auf 2,1 Prozent gestiegen. Jetzt erwarten die 27 Teilnehmer im Jahr 2024 im Mittelwert sogar einen Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts von 2,9 Prozent (siehe obere schwarze Linie in der folgenden Abbildung). Ihre individuellen Wachstumsprognosen reichen dabei von 2,3 bis 3,8 Prozent (schraffierte Fläche in der Abbildung).
Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts
Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Central Bank of Russia: Macroeconomic survey of the CBR, 29.05 24
Das Wachstum der russischen Wirtschaft wäre mit dem von den Analysten erwarteten Anstieg von 2,9 Prozent noch etwas stärker als die Regierung Ende April in ihrer Haushaltsplanung annimmt (+ 2,8 Prozent). Gegenüber dem 2023 erreichten Wachstumstempo (+3,6 Prozent) würde es sich nur wenig abschwächen. Auch die EU-Kommission hat Mitte Mai ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft auf 2,9 Prozent angehoben (siehe Ostexperte-Bericht).
2025 flaut das Wachstum laut der Umfrage aber auf nur noch 1,7 Prozent ab
Das Ergebnis der Zentralbank-Umfrage für Russlands Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr entspricht ebenfalls der jüngsten Prognose der EU-Kommission. Die Umfrage-Teilnehmer rechnen 2025 im Mittelwert wie die EU mit einem Abflauen des Wachstums auf nur noch 1,7 Prozent.
Die Spannbreite der Analysten-Prognosen reicht dabei von 0,9 bis 2,7 Prozent. Die Prognose der russischen Regierung, dass sich der Anstieg der Produktion 2025 auf lediglich 2,3 Prozent abschwächt und dort 2026 stabilisiert, teilen nur wenige Analysten.
Wie entwickelt sich der Anstieg der Verbraucherpreise?
Von April bis November 2023 hatte sich der Anstieg der russischen Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat ständig beschleunigt. Er zog von + 2,3 Prozent auf + 7,5 Prozent an. Im Dezember und Januar sank die jährliche Inflationsrate geringfügig auf 7,4 Prozent. Laut dem Statistikamt Rosstat beschleunigte sie sich im April 2024 aber auf 7,8 Prozent.
Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in %
Trading Economics: Russia Inflation Edges Up as Expected, 17.05.24
Der Leitzins wurde bisher auf 16 Prozent erhöht
Zur Dämpfung des beschleunigten Preisanstiegs erhöhte die russische Zentralbank ihren Leitzins im Verlauf des Jahres 2023 bis auf 16 Prozent im Dezember (siehe orange Balken in der folgenden Abbildung).
Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in % (blaue Linie) und Leitzins der russischen Zentralbank in Prozent pro Jahr (orange Säulen)
aif.ru; The rate is not a hindrance to the economy, 25.05.24
Inflationsprognose der Analysten: Der Preisanstieg sinkt im Jahresverlauf 2024
Im weiteren Verlauf des Jahres 2024 erwarten die von der Zentralbank befragten Analysten einen Rückgang der jährlichen Inflationsrate. Der jährliche Preisanstieg wird im Dezember 2024 laut der Umfrage nur noch 5,5 Prozent erreichen. Er wäre damit niedriger als Ende 2023 (7,4 Prozent; siehe erste Zeile der folgenden Tabelle). Bei der April-Umfrage hatten die Analysten mit einem noch stärkeren Rückgang des Preisanstiegs auf 5,2 Prozent am Jahresende 2024 gerechnet.
Im Jahresdurchschnitt 2024 wird sich der Anstieg der Verbraucherpreise nach Einschätzung der Analysten aber nicht verringern, sondern auf 7,1 Prozent beschleunigen (siehe zweite Zeile). Damit würde sich die Inflationsrate gegenüber 2023 um 1,2 Prozentpunkte erhöhen – trotz des Rückgangs der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts von 3,6 auf 2,9 Prozent (siehe letzte Zeile).
Entwicklung von Verbraucherpreisen, Leitzins und Wirtschaftswachstum;
Zentralbank-Umfrage vom Mai 2024 (in Klammern: Umfrage vom April 2024)
Central Bank of Russia: Macroeconomic survey of the CBR, 29.05 24
Nach Einschätzung von Bloomberg-Ökonom Alex Isakov wird die jährliche Inflationsrate im Mai weiter auf 8,2 Prozent steigen, danach aber bis zum Jahresende 2024 auf 5,7 Prozent sinken. Die „Überhitzung“ der russischen Wirtschaft setze eine weitere Erhöhung des Leitzinses auf die Tagesordnung meint Bloomberg.
Analysten-Prognose: Leitzins steigt im Jahresdurchschnitt 2024 auf fast 16 Prozent
Im Jahresdurchschnitt 2023 betrug der Leitzins 9,9 Prozent pro Jahr. Angesichts der gestiegenen Inflationsrate erwarten die Analysten in der Zentralbank-Umfrage im Mittelwert jetzt, dass der im Dezember 2023 auf 16 Prozent erhöhte Leitzins im Jahresdurchschnitt 2024 15,9 Prozent betragen wird (schwarze Linie in der folgenden Abbildung). Bei der April-Umfrage hatten sie noch mit einem schwächeren Anstieg des Leitzinses auf 14,9 Prozent im Jahresdurchschnitt 2024 gerechnet.
Leitzins in Prozent pro Jahr im Jahresdurchschnitt
Finam.ru: Analysts have raised their forecast for the average level of the key rate in Russia in 2024 to 15.9%, 29.05.24
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- EU teilt Russlands Wachstumserwartungen, 28.05.24
- Neue Analysen zum Wachstum der russischen Kriegswirtschaft, 21.05.24
- Immer wahrscheinlicher: Russlands Wirtschaft wächst 2024 um rund 3 Prozent, 08.05.24
- Wächst Russlands Wirtschaft auch 2024 um 3,6 Prozent?, 23.04.24
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Deutsch-Russische Auslandshandelskammer; Podcast: Prof. Michael Rochlitz über Russlands Wirtschaft
- Newsweek: Putin Suffering ‘Enormous Difficulties’ Selling Russia’s Gas
- DIW: Sanktionen gegen russisches Erdgas würden Versorgung in EU und Deutschland nicht gefährden
- Atlantic Council, V. Milov: Oil, gas, and war: The effect of sanctions on the Russian energy industry
- bne Intellinews; Ben Aris: Better sanctions are needed to curb Russia’s flourishing war economy
- CEPR Policy Insight 131; Yuriy Gorodnichenko, Iikka Korhonen, Elina Ribakova: Russian economy on war footing: A new reality financed by commodity exports, Download
- Alexander Rahr: Machtwechsel im Kreml, Preußische Allgemeine;
- Alexander Rahr vor 10 Jahren im Phoenix-Interview: Pulverfass Ukraine
- BR24, “Münchner Runde”: Waffen oder Diplomatie: Was hilft Europa gegen Putin?
- Maybrit Illner: TV-Duell: Habeck gegen Merz zu Erdgaseinfuhren aus Russland
- BR 24; Adrian Dittrich, Dominic Possoch: Putins Angebot: Warum verhandelt der Westen nicht? mit Video, u.a. mit Interviews mit Prof. Gerhard Mangott und Oberst a.D. Ralph Thiele
- ntv.de: “Historischer Fehler”. Habeck gibt Union Schuld an schwerer Wirtschaftskrise, 01.06. 24; Video:
- Robert Habecks Rede zu Nord Stream 2 und zu deutschen Erdgaseinfuhren aus Russland; 01.06.24
- RBC.ru: The Ministry explained how Russia became the fourth economy in the world in 2021