Russland: Höhere BIP-Prognose des IWF, aber die Industrie stagnierte im Juni

Auf 1,5 Prozent hat der Internationale Währungsfonds seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft angehoben. Zur Begründung verweist er auf „hard data“. Die Entwicklung des Einzelhandels, der Bauwirtschaft und der Industrieproduktion hätten ein „starkes erstes Halbjahr“ der russischen Wirtschaft angezeigt. Mit einer kräftigen Stimulierung durch staatliche Ausgaben sei diese Entwicklung angetrieben worden.

Laut ersten Berechnungen des russischen Statistikamtes ist der Anstieg der russischen Industrieproduktion im Juni aber ins Stocken geraten. Saison- und kalenderbereinigt stagnierte sie laut Rosstat auf dem im Mai erreichten Niveau. Berechnungen des Forschungsinstituts der Wneschekonombank zufolge sank die Industrieproduktion im Juni gegenüber dem Vormonat sogar etwas (- 0,3 Prozent). Weitere Konjunkturdaten für Juni werden am 02. August veröffentlicht.

Der IWF erhöht seine Wachstumsprognose um 0,8 Prozentpunkte

Der Internationale Währungsfonds hatte der russischen Wirtschaft bereits Ende Januar für 2023 ein schwaches Wachstum prognostiziert (+ 0,3 Prozent). Diese Prognose hob er Anfang April auf 0,7 Prozent weiter an. Damals rechnete fast niemand damit, dass sich Russland schon 2023 aus der Rezession lösen könnte.

Viele andere Internationale Wirtschaftsorganisationen sowie westliche Banken und Forschungsinstitute blieben auch im Mai und Juni noch bei ihren Rezessionsprognosen für Russland. Selbst die Anfang Juli veröffentlichte Analysten-Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics (mit nur wenigen russischen Teilnehmern) lässt im Durchschnitt lediglich eine Stagnation der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 erwarten.

Dennoch hob der IWF jetzt seine Prognose für das diesjährige Waichstum der russischen Wirtschaft um 0,8 Prozentpunkte auf 1,5 Prozent weiter an. Im „World Economic Outlook Update“ heißt es dazu (Seite 5):

“The forecast for Russia in 2023 has been revised upward by 0.8 percentage point to 1.5 percent, reflecting hard data (on retail trade, construction, and industrial production) that point to a strong first half of the year, with a large fiscal stimulus driving that strength.” 

Russlands Wirtschaft wächst so stark wie die „entwickelten Volkswirtschaften“

Gleichzeitig erhöhte der IWF seine Prognosen für das Wachstum der gesamten Weltwirtschaft auf 3,0 Prozent und für das Wachstum der Gruppe der „Entwickelten Volkswirtschaften/Developed economies” auf 1,5 Prozent. Russlands Wirtschaft wächst 2023 laut der IWF-Prognose also nur halb so stark wie die Weltwirtschaft insgesamt, aber ebenso stark wie die Gruppe der „Entwickelten Volkswirtschaften“.

IWF-Prognosen zum BIP-Wachstum gegenüber dem Vorjahr in Prozent vom Juli (Prognosen vom April in Klammern)

BOFIT WEEKLY REVIEW 2023/30: IMF raises its forecast for global economic growth, 28.07.23

 

Die deutsche Wirtschaft wird nach Einschätzung des IWF in diesem Jahr um 0,3 Prozent schrumpfen. Im April hatte der IWF einen etwas schwächeren Rückgang der Wirtschaftsleistung in Deutschland um 0,1 Prozent prognostiziert.

Die IWF-Prognose wird von vielen russischen Beobachtern geteilt 

Die neue Prognose des IWF für Russlands Wirtschaftswachstum entspricht dem Ergebnis der Mitte Juli veröffentlichten Umfrage der russischen Zentralbank, an der allerdings nur wenige ausländische Banken und Forschungsinstitute beteiligt waren. Ähnlich stark wie der IWF hob jetzt auch das Moskauer „Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen (CMASF)“ seine Wachstumsprognose an. Es rechnet mit einem BIP-Anstieg um 1,5 bis 1,8 Prozent. Die russische Zentralbank selbst erhöhte ihre Prognosespanne auf ein Wachstum von 1,5 bis 2,5 Prozent.

 

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 

Die Industrieproduktion ist im ersten Halbjahr um 2,6 Prozent gestiegen

 Wie sich Russlands Industrieproduktion im ersten Halbjahr 2023 entwickelt hat, teilte das Statistikamt Rosstat am letzten Donnerstag mit.

Ihr vor einem Jahr im Juni 2022 erreichtes Niveau übertraf die Produktion der Industrie im Juni 2023 um insgesamt 6,5 Prozent (siehe folgende Abbildung). Im zweiten Quartal war sie 6,3 Prozent höher als vor einem Jahr, als die Produktion nach dem Beginn des Ukraine-Krieges stark sank. Im gesamten ersten Halbjahr 2023 stieg die Industrieproduktion im Vorjahresvergleich um 2,6 Prozent.

 

Russlands Industrieproduktion
Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent

Trading Economics: Russia Industrial Output Misses Forecasts, 26.07.23

 

Zum Anstieg der Produktion im Juni 2023 um 6,5 Prozent gegenüber Juni 2022 trug vor allem das Verarbeitende Gewerbe bei. Hier beschleunigte sich das Wachstum der Produktion gegenüber dem Vorjahr auf 13,1 Prozent. Im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ sank die Produktion im Juni hingegen im Vorjahresvergleich um 1,7 Prozent.

Rosstat: Bereinigt stagnierte die Industrieproduktion im Juni

Saison- und kalenderbereinigt ist die Industrieproduktion nach ersten Berechnungen des Statistikamtes Rosstat im Juni allerdings nicht weiter gewachsen, sondern hat auf dem im Mai erreichten Stand stagniert (blaue Linie in der folgenden Abbildung; nur die von Rosstat berechnete „Trendlinie“, die bis zum Mai reicht, ist noch schwach aufwärts gerichtet.)

 

Index der Industrieproduktion laut Rosstat

Monatsdurchschnitt 2020 = 100

unbereinigt (rote Linie), saison- und kalenderbereinigt (blaue Linie), Trend (graue Linie)

Rosstat: Industrieproduktion im Juni (mit Chart); 26.07.23

 

VEB-Institut: Die Industrieproduktion sank im Juni bereinigt um 0,3 Prozent

Die ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) weichen von den Rosstat-Berechnungen etwas ab. Laut dem Wochenbericht des VEB-Instituts hat die Industrieproduktion im Juni nicht stagniert, sondern ist kalender- und saisonbereinigt um 0,3 Prozent niedriger als im Mai gewesen. In der folgenden Abbildung zeigt die schwarze Linie die Entwicklung der gesamten Industrieproduktion.

 

Entwicklung der Industrieproduktion (Januar 2014 = 100);

Insgesamt; Bergbau/Förderung von Rohstoffen; verarbeitendes Gewerbe;
saison- und kalenderbereinigt; Schätzung des VEB-Instituts

VEB Institut: World Economy and Markets Review, 28.07.23

Das „Verarbeitende Gewerbe“ hat sich weitgehend erholt

Im Mai und April war die Industrieproduktion laut VEB-Institut gegenüber dem Vormonat insgesamt noch um jeweils 0,8 Prozent gestiegen. Sie näherte sich damit weiter ihrem Ende 2021 erreichten Niveau (schwarze Linie).

Die Wachstumsimpulse dafür kamen hauptsächlich vom „Verarbeitenden Gewerbe“ (obere dunkelgrüne Linie). Die Branchen des „Verarbeitenden Gewebes“ steigerten ihre Produktion gegenüber dem Vormonat im April insgesamt um 1,0 Prozent und im Mai um 1,8 Prozent. Im Juni sank die Produktion im verarbeitenden Gewerbe gegenüber Mai jedoch um 1,0 Prozent. Sie war damit aber immer noch etwa so hoch wie auf ihrem bisherigen Rekordstand Ende 2021.

Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ blieb weit zurück 

Weit schwächer als das „Verarbeitende Gewerbe“ entwickelte sich seit 2014 die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (untere hellgrüne Linie). Hier nahm die Produktion im Juni 2023 gegenüber dem Vormonat zwar um 0,5 Prozent zu. Sie war damit aber noch 1,7 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Das Anfang 2022 erreichte Produktionsniveau unterschritt die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ weiterhin deutlich.

Starkes Wachstum von Maschinenbau und Metallurgie brach im Juni ab

Das VEB-Institut analysiert auch die Entwicklung wichtiger Branchen innerhalb des „Verarbeitenden Gewerbes“ (s. folgende Abbildung). Hier verzeichneten im Juni die meisten Branchen Produktionsrückgänge gegenüber Mai, auch der Maschinenbau (obere dunkelgrüne Linie) und die „Metallurgie“ (schwarze Linie). Die Produktion dieser beiden „rüstungsnahen“ Branchen war seit Mitte 2022 besonders stark gestiegen. Im Juni 2023 sank ihre Produktion gegenüber Mai jedoch überdurchschnittlich stark (Maschinenbau: – 1,8 Prozent; Metallurgie: – 1,7 Prozent).

 

Produktion ausgewählter Branchen des Verarbeitenden Gewerbes (2014 = 100);

Maschinenbau,  Koks und Erdölprodukte,  Metallurgie,  Chemie, Nahrungsmittel;

saison- und kalenderbereinigt, Schätzung des VEB-Instituts

VEB Institut: World Economy and Markets Review, 28.07.23

 

Schwächere Produktionsrückgänge verzeichneten im Juni die Herstellung von Koks und Mineralölprodukten (untere rote Linie: – 0,7 Prozent gegenüber Mai), die Produktion von Lebensmitteln (hellgrüne Linie: – 0,6 Prozent) und die Chemische Industrie (mittlere hellgraue Linie: – 0,1 Prozent).

Der Krieg treibt den Anstieg der Produktion

Alexandra Prokopenko („Visiting Fellow“ im „Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP“) berichtet in ihrem am Freitag veröffentlichten wöchentlichen Wirtschafts-Newsletter für „The Bell“ zwar, die russische Wirtschaft sei dabei, den Einbruch des Jahres 2022 vollständig aufzuholen. Das habe kürzlich Präsident Putin herausgestellt (TASS-Bericht).

Die Analystin betont aber, dass die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes, der Bauwirtschaft und des Einzelhandels durch den Krieg vorangetrieben werde. Prokopenko begründet das so:

Die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ wird durch den Rüstungssektor, der derzeit im „Dreischichtbetrieb“ am Rande seiner maximalen Kapazität arbeitet, angekurbelt.

Im Juni beispielsweise waren bei folgenden Erzeugnissen die stärksten Produktionszuwächse zu verzeichnen: Radarausrüstung (+75,4 % im Jahresvergleich); Computer, Elektronik und Optik (+71,6 %), Enderzeugnisse aus Metall (+45,8 %); Elektrogeräte (+32,1 %).

Die Bauproduktion wird hauptsächlich durch staatlich vergünstigte Hypotheken getrieben. Derzeit sind 51 Prozent der Kredite staatlich subventioniert, ein Anstieg um zwei Prozentpunkte seit April. Darüber hinaus werden Bauarbeiten auf dem besetzten ukrainischen Gebiet fortgesetzt.

Das Einzelhandelswachstum wird durch höhere Gehälter und Sozialleistungen gefördert. In Regionen mit Betrieben der Rüstungsindustrie und in Regionen, in denen viele Soldaten stationiert sind, steigen die Realeinkommen.

Prokopenko sieht eine „Überhitzungsgefahr“ für die russische Wirtschaft

Gleichzeitig meint Prokopenko, eines der größten Hindernisse für das Wachstum der russischen Wirtschaft sei der Mangel an Arbeitskräften. Er führe zusammen mit den begrenzten Anlagekapazitäten zu einer „Überhitzung“ der Wirtschaft. Das Angebot könne die Nachfrage nicht decken und die Preise stiegen entsprechend. Um die Wirtschaft abzukühlen, könnte die Zentralbank gezwungen sein, die Zinssätze weiter zu erhöhen.

Die Wissenschaftlerin warnt: Je stärker auf eine Anregung der Produktion durch Ausgaben für das Militär gesetzt werde, desto schlimmer werde die anschließende „Ausnüchterung“.

Die Finanzierung der Staatsausgaben ist „für etwa zwei Jahre“ gesichert

Zur Belastung des föderalen Haushaltes durch den Krieg verweist Alexandra Prokopenko  auf eine Zusicherung von Finanzminister Anton Siluanow, dass das jährliche Defizit 2,5 Prozent des BIP nicht überschreiten wird. Der Finanzminister hatte am 25. Juli in einem Interview geäußert, das Defizit im föderalen Haushalt könne 2,0 bis 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. Bisher war ein Defizit von 2,0 Prozent des BIP geplant (Interfax-Bericht).

Die Haushaltslage hat sich, so Prokopenko, in den letzten Monaten verbessert. Das Haushaltsdefizit sei von seinem Höchststand im April bis Ende Juni von 3,4 Billionen Rubel auf 2,6 Billionen Rubel gesunken. Ferner habe das erreichte Wirtschaftswachstum zu einem Anstieg der Steuereinnahmen außerhalb des Energiesektors und zu einem Rückgang der Ausgaben geführt.

Die Analystin meint zwar, es bestehe immer noch ein hohes Risiko, dass das Defizit über das derzeitige Niveau hinaus weiter ansteigt. Wenn es aber nicht zu einem plötzlichen Ölpreisverfall oder einer ähnlich katastrophalen Entwicklung komme, sind nach ihrer Einschätzung genug finanzielle Mittel vorhanden, um die laufenden Ausgaben etwa zwei Jahre lang aufrechtzuerhalten.

Wie das Defizit bekämpft werden kann

Abgesehen von Ausgabekürzungen sieht Alexandra Prokopenko für die Regierung folgende Möglichkeiten, das Defizit zu bekämpfen:

Erstens könne die Regierung die Steuern erhöhen. 2023 sei das zwar nicht möglich. Das derzeitige Moratorium für Steuererhöhungen laufe aber im Jahr 2024 aus. Es sei allerdings unwahrscheinlich, dass die Regierung vor den im nächsten Jahr bevorstehenden Wahlen Steuererhöhungen ankündigt. Das könnte aber unmittelbar nach den Wahlen geschehen.

Außerdem bestehe die Möglichkeit von „heimlichen Steuererhöhungen“. So habe es kürzlich einen Vorschlag gegeben, die Zölle auf Alkoholeinfuhren aus Ländern zu erhöhen, die Russland als „unfreundlich“ einstuft.

Auch die Aufnahme von Krediten bei Banken könnte dazu beitragen, das Haushaltsdefizit zu decken.

Schließlich könnten, so Prokopenko, auch die Entnahmen aus dem „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ erhöht werden. Insgesamt verfüge der Fonds noch über 6,8 Billionen Rubel an liquiden Mitteln (vor allem Gold und Yuan). Bis Ende 2024 solle ihr Bestand nach Angaben des Finanzministeriums um rund zwei Drittel auf 2,3 Billionen Rubel abgebaut werden.

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Zentralbank: Russlands Wirtschaft wächst 2023 um 1,5 bis 2,5 Prozent, 24.07.23

Zentralbank-Umfrage: Die Wachstumsprognosen für Russland steigen weiter, 17.07.23

Mehr als 2 Prozent“ – Hohe Wachstumserwartungen in Russland, 10.07.23

Russland: Konjunkturdaten stützen Wachstumsprognosen – trotz „Meuterei“, 03.07.23

 

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

 

Kontroverse Meinungen zum Ukraine-Krieg von:

Alexander Rahr: „Eine große Katastrophe für uns alle“

Klaus von Dohnanyi und Jana Puglierin diskutieren zu: Ukraine & Beyond – Werte oder Interessen?

Michael Thumann im Gespräch mit Martin Bialecki: “Wladimir Putins Regime der Revanche”

Leo Ensel: „Respektvoll streiten!“; Anmerkungen zu „Respekt geht anders“ von Gabriele Krone-Schmalz

Tagesschau: Alexander Graf Lambsdorff wird Botschafter in Russland: “Eine sehr schwierige Aufgabe”

BNN: Nord Stream 2: Matthias Warnig ist raus – Gerhard Schröder bleibt

Deutsche Welle: Gazprom droht Kiew (und Wien) mit Stopp des Gas-Transits

 

Titelbild
railway fx / Shutterstock.com