Bleibt Russlands Wirtschaft langfristig in der Rezession stecken?

Die November-Daten zu Russlands Konjunktur stimmen die Russische Regierung zuversichtlich. Doch Experten sind sich weiter uneins, wie lange die Rezession die Wirtschaft im Griff hat. Die neuesten Wachstumsprognosen im Überblick.

Nach Schätzung des Wirtschaftsministeriums war das Bruttoinlandsprodukt in den ersten elf Monaten 2022 nur 2,1 Prozent niedriger als im Vorjahr. Die Prognose der Regierung, dass die Produktion der Wirtschaft im Gesamtjahr 2022 um 2,9 Prozent sinkt, dürfte sich eher als zu pessimistisch erweisen, auch wenn man berücksichtigt, dass Befragungen von Unternehmen eine Abschwächung der Geschäftsaktivitäten im Dezember signalisieren. Die jüngsten Analysten-Umfragen lassen für 2022 jedenfalls einen BIP-Rückgang um 2,7 Prozent (Interfax) oder 2,8 Prozent (Reuters) erwarten. Präsident Putin sprach kürzlich sogar von einem Rückgang um lediglich 2,5 Prozent.

Das englische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ titelte: „In 2022 Russia kept the economic show on the road“. Russlands Konjunktur habe sich 2022 viel besser als erwartet entwickelt. Trotzdem sei das Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr aber nur in wenigen Ländern noch stärker geschrumpft als in Russland. Damit fand der Artikel – in kurzen Auszügen – auch Aufnahme in die internationale Presseschau von Inosmi“, eine Publikation der staatlichen Nachrichtenholding Rossija Sewodnja“.

Viele westliche Beobachter stellen angesichts der bisher unerwartet schwachen Auswirkungen der Sanktionen immer stärker heraus, dass der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen Russland vor allem auf längere Sicht schaden werden. Manche meinen, sie werde sich aus dem „Abwärtsstrudel“ nicht mehr lösen können.

„Erosion von Russlands langfristigem Wachstumspotenzial“

Heli Simola, Senior Economist am Institute for Emerging Economies der Bank of Finland, meint in einem Artikel für das „World Economic Forum“, die russische Wirtschaft sei zwar nicht mit einem plötzlichen Einbruch, aber mit einer langen, schmerzhaften Rezession konfrontiert. Sie verweist auf Prognosen, die in den beiden Jahren 2022 und 2023 einen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um insgesamt 7 bis 8 Prozent erwarten lassen (wie die BOFIT-Prognose vom 10.10.2022).

Die BOFIT-Expertin merkt an, schon vor dem Krieg sei das Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft meistens auf nur rund 1,5 Prozent pro Jahr geschätzt worden. Infolge des Krieges ergäben sich zusätzliche Belastungen für die demografische Entwicklung und das Angebot an Arbeitskräften (Einberufungen zum Kriegsdienst, dauerhafte Invalidität oder Tod durch Kriegsdienst, Auswanderung).

Simola argumentiert, die Investitionen der russischen Wirtschaft würden wegen der allgemeinen hohen Unsicherheit und durch den streng begrenzten Zugang zu ausländischen Finanzierungsquellen eingeschränkt. Die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität werde außerdem durch zunehmende staatliche Eingriffe, eine Vorrangstellung der Rüstungsindustrie und den fehlenden Zugang zu westlicher Technologie belastet.

In der folgenden Abbildung stellt Heli Simola heraus, dass der Internationale Währungsfonds im Oktober 2022 das durchschnittliche jährliche Wachstum der russischen Wirtschaft in den nächsten fünf Jahren nur noch auf 0,7 Prozent veranschlagte. Im Oktober 2021 hatte der IWF es noch auf rund 1,5 Prozent veranschlagt, im Oktober 2013 – vor der Annektion der Krim – sogar auf 3,5 Prozent.

Die langfristige Wachstumsprognose für Russland wurde in den Prognosen des IWF World Economic Outlook deutlich gesenkt

Heli Simola: What effects have sanctions had on the Russian economy? World Economic Forum, 22.12.2022

Russland – auf dem Weg in den Abgrund“

Im „Ausblick 2023“ der Hamburger Berenberg Bank meint Dr. Holger Schmieding, der Ukraine-Krieg habe „die russische Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel gestürzt, aus dem sie sich wohl nicht mehr befreien kann, solange das System Putin in Moskau herrscht.”

Die westlichen Sanktionen gegen Russland lähmten das Land zwar nicht unmittelbar. Aber sie wirkten wie ein schleichendes Gift”. Es fehle immer mehr an Maschinen und Technologie aus dem Westen, die Russland für seine Industrie und für die Suche nach und Förderung von Rohstoffen gerade in der Arktis brauche. Schmieding kommentiert die Belastungen Russlands durch steigende Militärausgaben und die Auswanderung so:

Vor vier Jahrzehnten überforderten die Kosten des Afghanistan-Einsatzes und des Wett-rüstens mit den von Präsident Reagan geführten USA und der NATO die verknöcherte sowjetische Wirtschaft. Künftig wird Russland einen noch wesentlich größeren Teil seiner begrenzten Mittel für das Militär ausgeben müssen.

Gleichzeitig wächst die Unzufriedenheit im eigenen Land. Russland verliert einen Teil seiner besonders gebildeten städtischen Elite, ohne die kein modernes Land auf Dauer funktionieren kann.”

Ähnlich hatte sich Schmieding bereits im Podcast “Schmiedings Blick” vom 25. August zur aktuellen Lage und zu den Perspektiven der russischen Wirtschaft geäußert.

Zur Entwicklung des Anteils Russlands an den deutschen Warenausfuhren veröffentlichte die Berenberg Bank folgende Abbildung. Der Einbruch der deutschen Ausfuhren nach Russland (untere graue Linie) zeigt, so Schmieding, wie sehr sich Russland von westlicher Technologie abgekoppelt habe.

Berenberg Bank: Ausblick 2023 – Zurück zu besseren Zeiten?  22.12.2022

Sehr unterschiedliche Prognosen für 2023

Laut den Erwartungen der russischen Regierung wird sich die Rezession im jetzt begonnenen Jahr 2023 auf nur noch 0,8 Prozent abschwächen. Das halten aber nur wenige Beobachter für möglich. Die Unsicherheit über die weitere Konjunkturentwicklung ist jedoch sehr hoch. Die Prognosen klaffen weit auseinander.

Das zeigt auch ein Bericht des Konjunkturforschungsinstituts der russischen Akademie der Wissenschaften zu seiner Konferenz „Aussichten für die Entwicklung der russischen Wirtschaft im Jahr 2023“ vom 22. Dezember. Dmitry Belousov (Direktor am Moskauer Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen, CMASF) stellte in seiner Präsentation vier Szenarien vor. Im „Ziel-Szenario“ werde das russische Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 um 1,9 Prozent sinken. In einem „Risiko-Szenario“ sei aber auch ein Rückgang um 6,4 Prozent möglich.

Szenarien zur Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts 2023

Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

D.R. Belousov: Forecast for 2023 – scenario forks and possible results, Video, 22.12.2022

Die Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, Natalia Orlova, bekräftigte am Jahresende in einem Finam.ru-Artikel, dass sie 2023 mit einer Rezession von 6,5 Prozent rechnet.

Die Konjunkturforschungsabteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften geht in ihrer vierteljährlich erscheinenden Prognose hingegen davon aus, dass sich das Rezessionstempo halbiert und von 2,7 Prozent im Jahr 2022 auf 1,3 Prozent im Jahr 2023 sinkt. Bei der Interfax-Umfrage erwarteten die Analysten hingegen im Durchschnitt nur eine Abschwächung der Rezession von 2,7 auf 2,2 Prozent.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

November-Daten vielfach besser als erwartet, aber…

Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin des Finanzportals Finam, ist sich aufgrund ihrer ausführlichen Analyse der vom Statistikamt Rosstat am Jahresende veröffentlichten Konjunkturdaten für November “fast sicher”, dass der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 3 Prozent nicht überschreiten wird.

Sie stellt eine Verbesserung der Konjunkturentwicklung in vielen Bereichen fest:

  • Die Industrieproduktion und der reale Umsatz im Einzelhandel sanken im November im Vorjahresvergleich weniger stark als erwartet wurde.
  • Die Arbeitslosigkeit ist auf ein Rekordtief gefallen.
  • Die Reallöhne stiegen im Oktober im Vorjahresvergleich um 0,4 Prozent.

Belenkaya fügt aber einschränkend hinzu:

  • Für die Verbesserung der Entwicklung der Industrieproduktion dürften Aufträge aus dem Rüstungsbereich gesorgt haben.
  • Die Knappheit an Arbeitskräften hat sich durch die “Mobilmachung” und die Auswanderung erhöht. Mit der Verknappung des Angebots von Arbeitskräften bestätigen sich auch Bedenken der Zentralbank wegen inflationstreibender Risiken.
  • Zur Verbesserung der Konjunktur im Konsumbereich im Vergleich zum November 2021 könnten Sondereffekte beigetragen haben: Vor einem Jahr gab es wegen der Pandemie “arbeitsfreie Tage”, im November 2022 hingegen Sonderverkäufe mit Rabatten.

Im Bereich der Förderung von Rohstoffen hat sich, so Belenkaya, die Entwicklung zwar etwas verbessert. In einigen von den Sanktionen betroffenen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes (Metallurgie, Chemie) habe sich der Rückgang der Produktion etwas abgeschwächt.

Die Abnahme der Produktion im KFZ-Bereich, in der Holzwirtschaft und bei der Produktion von Medikamenten habe sich jedoch verschärft.

Die Bauwirtschaft verzeichne zwar insgesamt ein Wachstum. Seit September beschleunige sich jedoch der Rückgang im Wohnungsbau.

VEB-Institut: Saisonbereinigt ist das BIP im November beschleunigt gestiegen

Das Forschungsinstitut der Wneschekonombank hat auf der Basis der Rosstat-Daten berechnet, wie sich die Produktion in den Branchen saisonbereinigt entwickelt hat und eine erste Schätzung für das Bruttoinlandsprodukt vorgenommen. Das Erholungstempo des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vormonat hat sich laut VEB-Institut von 0,8 Prozent im Oktober auf 1,1 Prozent im November beschleunigt. In allen wichtigen Wirtschaftsbereichen seien Produktionszuwächse zu verzeichnen.

Die folgende Abbildung zeigt, dass sich die gesamtwirtschaftliche Produktion von ihrem Einbruch im ersten Halbjahr zu einem beträchtlichen Teil erholt hat.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014 = 100)

Institut der Wneschekonombank: Wochenbericht, 30.12.2022

Im Vergleich zum November 2021 war das Bruttoinlandsprodukt laut den ersten Berechnungen des VEB-Instituts im November 2022 aber noch 3,3 Prozent niedriger. Nach Angabe des Wirtschaftsministeriums betrug der Rückgang sogar noch 4,0 Prozent.

Gestiegene Produktion im Rohstoffbereich und im Verarbeitenden Gewerbe

Die folgende Abbildung lässt erkennen, dass in der Industrie sowohl die Produktion im “Verarbeitenden Gewerbe” (dunkelgrüne Linie) als auch im Bereich “Bergbau/Förderung von Rohstoffen” (hellgrüne Linie) im November saisonbereinigt gegenüber dem Vormonat gestiegen sind. Der Index der saisonbereinigten Entwicklung der gesamten Industrieproduktion (schwarze Linie) erhöhte sich im November gegenüber Oktober um 0,5 Prozent, etwa ebenso stark wie die Indizes der beiden abgebildeten Teilbereiche der Industrie.

Indizes der Industrieproduktion  (Jan.2014 = 100)

Industrie insgesamt: schwarze Linie, Bergbau/Förderung von Rohstoffen: hellgrüne Linie, Verarbeitendes Gewerbe: dunkelgrüne Linie

Institut der Wneschekonombank: Wochenbericht, 30.12.2022

Im Vergleich zum November 2021 war die Industrieproduktion im November 2022 insgesamt noch 1,8 Prozent niedriger (Bergbau/Förderung von Rohstoffen: – 2,2 Prozent; Verarbeitendes Gewerbe: – 1,7 Prozent).

Weitere Erholung der Reallöhne und des privaten Verbrauchs

Die Reallöhne sind laut VEB-Institut im Oktober gegenüber September um 0,8 Prozent gestiegen. Sie waren 0,4 Prozent höher als vor einem Jahr.

Vor dem Hintergrund der gestiegenen Reallöhne (graue Linie) sind im November die realen Umsätze im Einzelhandel (schwarze Linie) und im Bereich der privaten Dienstleistungen (dunkelgrüne Linie) gegenüber dem Vormonat gewachsen. Der Einzelhandel verbuchte den stärksten Anstieg (+ 1,2 Prozent) seit Februar. Der reale Umsatz mit privaten Dienstleistungen stieg um 0,5 Prozent.

Indizes der Reallöhne und der realen Umsätze im Einzelhandel und mit Dienstleistungen

Jan. 2014 = 100

Institut der Wneschekonombank: Wochenbericht, 30.12.2022

Der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich übertraf im November sein Vorjahresniveau um 2,0 Prozent. Der reale Einzelhandelsumsatz war hingegen noch 7,9 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Der kombinierte Einkaufsmanager-Index sank unter die “Wachstumsschwelle”

Die Entwicklung der durch Befragung von Unternehmen im Dezember ermittelten “Einkaufsmanager-Indizes” signalisiert, dass sich die Geschäftsaktivitäten der Unternehmen im Dezember abschwächten. Der “S&P Global Russia Composite PMI Output Index”, den das Marktforschungsunternehmen S&P Global” aufgrund der Befragungen von Unternehmen im “Verarbeitenden Gewerbe” und im Dienstleistungsbereich errechnete, sank im Dezember von der “Wachstumsschwelle” von 50 Punkten auf 48,0 Punkte.

Hauptursache für den Rückgang waren sinkende Umsätze im Dienstleistungsbereich. Im Verarbeitenden Gewerbe stiegen die Verkaufserlöse hingegen weiter. Die Aufträge aus dem Ausland sanken erneut und zwar in hoher Geschwindigkeit.

In der folgenden Abbildung wird die Entwicklung des kombinierten Einkaufsmanager Indexes (blaue Linie) mit der Entwicklung der vierteljährlichen Veränderungsrate des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal (rote Linie) verglichen. Im zweiten Quartal 2022 war das reale Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem zweiten Quartal 2021 um 4,1 Prozent gesunken. Im dritten Quartal verringerte sich der Rückgang gegenüber dem Vorjahresquartal auf 3,7 Prozent (Interfax-Bericht).

S&P Global Composite Index und Veränderung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent

S&P Global: S&P Global Russia Services PMI, Russia Composite PMI, 30.12.2022

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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