Russlands Wirtschaftsperspektiven: Kurzfristig aufgehellt – langfristig düster

Zwei Monate vor Jahresende wird immer deutlicher: Die gegen Russland verhängten Sanktionen werden die Produktion der russischen Wirtschaft in diesem Jahr bei weitem nicht so stark einbrechen lassen, wie von vielen im Frühjahr erwartet wurde. Viele Beobachter rechnen allerdings damit, dass sich ein Teil der Rezession nur ins nächste Jahr verschiebt.

Auch der jüngste Konjunkturbericht der Zentralbank dämpft Hoffnungen auf eine zügige Erholung der russischen Wirtschaft (Überschrift der Pressemeldung: „Economic recovery pauses“).

Durch die Sanktionen werden vor allem die längerfristigen Wachstumsmöglichkeiten der russischen Wirtschaft stark beeinträchtigt werden. Das Institut der Deutschen Wirtschaft zeichnet in einer Studie „düstere Perspektiven“. Russland bleibe angesichts der Sanktionen „nur der Ausweg in rückwärtsgewandte technologische Standards“. Das Land werde – analog der Sowjetunion – einen jahrzehntelangen Entwicklungsrückstand gegenüber dem transatlantischen Westen und – im Unterschied zur Sowjetzeit – ebenso gegenüber China verzeichnen.

So düster die langfristigen Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft sein mögen – die Prognosen für die Ergebnisse des Jahres 2022 haben sich deutlich aufgehellt.

Viele erwarten 2022 nur noch einen BIP-Rückgang um 3 bis 4 Prozent

Auch das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) erwartet 2022 jetzt in Russland eine deutlich „mildere“ Rezession als bisher.  Anfang Juli hatte es noch einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 7,0 Prozent für dieses Jahr prognostiziert. Jetzt rechnet das wiiw in seiner „Herbstprognose“ nur noch mit einem Rückgang um 3,5 Prozent.

Seit Anfang Oktober hatten bereits zahlreiche andere internationale Beobachter ihre Prognosen für die diesjährige Rezession der russischen Wirtschaft deutlich abgeschwächt, nachdem die russische Regierung im September den diesjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf nur noch 2,9 Prozent veranschlagt hatte. Die Weltbank senkte ihre Rezessionsprognose auf 4,5 Prozent, der IWF auf 3,4 Prozent.

Auch bei der Mitte Oktober durchgeführten Umfrage der russischen Zentralbank bei Banken und Instituten wurden die Prognosen für die diesjährige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts erneut angehoben. Statt eines Rückgangs der Produktion um 4,2 Prozent rechnen die Teilnehmer (25 russische, 5 ausländische) im Mittelwert jetzt mit einem Rückgang um 3,5 Prozent.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

wiiw: Warum Russlands BIP 2022 nur um 3,5 Prozent sinkt

Die aktuelle Konjunkturentwicklung in Russland beschreibt das wiiw auf seiner Länderseite „Russia“ in einem kurzen Überblick. Bisher seien die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf die russische Wirtschaft insgesamt milder als erwartet. Russlands Wirtschaft habe sich dank hoher Energiepreise, einer Neuorientierung des Handels in Richtung Asien und gestiegener Militärausgaben teilweise an die „neue Normalität“ angepasst.

Dass Russland die Sanktionen bisher so glimpflich überstanden hat, liegt auch an den Maßnahmen der russischen Zentralbank. Das erklärte laut einem Bericht der österreichischen Agentur APA wiiw-Geschäftsführer Mario Holzner am Mittwoch bei der Präsentation der Prognose. Durch strenge Kapitalverkehrskontrollen und die Verpflichtung insbesondere der Energieexporteure, ihre gesamten Fremdwährungseinnahmen sofort in Rubel zu konvertieren, habe der Rubelkurs auf hohem Niveau stabilisiert werden können, sogar auf einem höheren Niveau als vor Ausbruch des Krieges. Damit sei die Inflation stabilisiert worden, weil die Importpreise nicht mehr so stark gestiegen seien. Das habe der Zentralbank ermöglicht, in einer Reihe von Schritten die Zinsen zu senken.

2023 hält die Rezession laut wiiw aber fast unvermindert an

Nach einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,5 Prozent im Jahr 2022 rechnet das wiiw für das Jahr 2023 aber mit einer kaum schwächeren Abnahme um 3,0 Prozent. Der Prognose der russischen Regierung, dass das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt 2023 nur 0,8 Prozent niedriger als 2022 sein wird, folgt das wiiw nicht. Das Institut verweist darauf, dass sich im nächsten Jahr die Folgen des EU-Ölembargos, die Ausfälle beim Gas-Export nach Europa sowie das westliche Hochtechnologie-Embargo verstärkt bemerkbar machen werden.

Zudem wird sich, so Geschäftsführer Holzner, die kürzlich verkündete Teilmobilmachung in Russland negativ auf die Entwicklung der Produktion der russischen Wirtschaft auswirken. “Wir sprechen hier nicht nur von den vermutlich 300.000 eingezogenen jungen Männern, sondern von einer Dunkelziffer von bis zu 700.000, die das Land fluchtartig verlassen haben.” Das seien zum Teil gut ausgebildete Leute, die der russischen Wirtschaft auch mittel- und längerfristigen fehlen würden. Die Erwartung sei, „dass nächstes Jahr ungefähr 0,5 Prozent des Wirtschaftseinbruchs auf die Rechnung dieser Teilmobilmachung gehen wird”.

Erst 2024 wird die russische Wirtschaft nach Einschätzung des wiiw einen geringfügigen Zuwachs der Produktion gegenüber dem Vorjahr erreichen (+ 1,0 Prozent).

Makroökonomische Prognosen des wiiw

wiiw: Russia Overview, 19.10.2022

Die russische Regierung rechnet mit einer raschen Erholung von der Rezession

Die russische Regierung erwartet hingegen, dass die Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion schon 2023 einsetzt. Im Jahresvergleich 2023 gegenüber 2022 werde sich nur noch ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 0,8 Prozent ergeben.

2024 und 2025 erwartet die Regierung einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um jeweils 2,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Wie sich das BIP und andere wichtige Konjunkturindikatoren in Russland laut der Prognose der Regierung bis 2025 entwickeln werden, zeigt folgende Abbildung aus einem Bericht des russischen Rechnungshofs zum Haushaltsentwurf 2023.

Makroökonomische Prognosen für die Haushaltsplanung

reale Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent folgender Indikatoren:

Bruttoinlandsprodukt, Einzelhandel, Anlageinvestitionen, verfügbare Einkommen

Russischer Rechnungshof: Conclusion on the draft budget 2023, PDF, 17.10.2022

Die Regierung geht in ihrem Basis-Szenario davon aus, dass die Rückgänge des BIP um 2,9 Prozent im Jahr 2022 und um 0,8 Prozent im Jahr 2023 mit den Anstiegen des BIP um jeweils 2,6 Prozent in den Jahren 2024 und 2025 ausgeglichen werden.

Der Rechnungshof stellt zu den Prognosen der Regierung im Basisszenario fest:  Bis Ende 2024 werden die meisten Indikatoren (das Bruttoinlandsprodukt, die Industrieproduktion, die Anlageinvestitionen, die Indikatoren für den Lebensstandard der Bevölkerung) ihr 2021 erreichtes Vorkrisenniveau preisbereinigt übertroffen haben. Nur im Außenhandel wird das noch nicht gelungen sein.

Eine tabellarische Übersicht der Prognosen des Wirtschaftsministeriums bietet die Oktober-Ausgabe des Konjunkturberichts der „Economic Expert Group“ (S.6-8).

Zentralbank-Bericht zu aktuellen Wirtschaftstrends dämpft Optimismus

Die volkswirtschaftliche Abteilung der russischen Zentralbank äußert sich in ihrem in der letzten Woche veröffentlichten Bericht „Talking Trends“ zu den konjunkturellen Perspektiven für die Jahre 2022 und 2023 allerdings ziemlich skeptisch. (Überschrift der Pressemitteilung: „Economic recovery pauses“;  RU + Summary EN).

In dem Bericht heißt es zwar auch, dass die russische Wirtschaft insgesamt starke Fähigkeiten zur Anpassung an die vom Ausland verhängten Restriktionen des Handels und des Kapitalverkehrs gezeigt habe. Ein großer Teil der Unternehmen habe erfolgreich die Herkunftsländer ihrer Lieferanten wechseln können. Sie hätten sich neue Anbieter gesichert und logistische Probleme gelöst.

Der Bericht scheut sich aber nicht, die volkswirtschaftlichen Konsequenzen der Teil-Mobilisierung für die Streitkräfte anzusprechen. Die Einberufungen zum Militär bedeuteten angesichts der niedrigen Arbeitslosigkeit neue „Herausforderungen“ bei der Erreichung der Produktionsziele, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen.

Im Juli und August war nach ersten Schätzungen in Russland ein leichter Anstieg der saisonbereinigten gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Vormonat zu verzeichnen (siehe Bericht des Forschungsinstituts der Vnesheconombank). Nach Einschätzung der volkswirtschaftlichen Abteilung der Zentralbank kam die Erholung der Aktivitäten der russischen Wirtschaft im September aber zum Stillstand. Gegen Ende September habe es sogar erste Anzeichen für einen Abschwung gegeben. Die Verringerung des Angebots an Arbeitskräften bedeute Risiken für die Kontinuität der Produktion einzelner Industriezweige, heißt es in „Talking Trends“.

Der Bericht der Zentralbank erwartet außerdem, dass sich die Auswirkungen der Sanktionierungen der russischen Ölwirtschaft und der Verknappung von Hochtechnologieprodukten zum größten Teil wahrscheinlich erst Ende 2022 und im Verlauf des Jahres 2023 zeigen werden. Vorher sei ein Übergang der russischen Wirtschaft zu einem nachhaltigen Wachstum unwahrscheinlich.

In ihrer letzten mittelfristigen Prognose ist die Zentralbank im Juli davon ausgegangen, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2022 um 4 bis 6 Prozent sinken dürfte. Die Prognose soll anlässlich der nächsten Leitzinsentscheidung am 28. Oktober aktualisiert werden. Vertreter der Zentralbank haben bereits mehrfach in Stellungnahmen erkennen lassen, dass die BIP-Prognose wahrscheinlich angehoben werden dürfte.

Institut der Deutschen Wirtschaft sieht „düstere Perspektiven“ für Russland

Das Institut der Deutschen Wirtschaft spricht in einer am 11. Oktober veröffentlichten  Studie zu den mittel- und langfristigen Perspektiven der russischen Wirtschaft die Konjunkturentwicklung in den Jahren 2022 und 2023 nur kurz an. Die Studie weist auf die Auswertung von Prognosen internationaler Banken und Forschungsinstitute durch das Unternehmen „Consensus Economics“ hin:

„Die Projektion makroökonomischer Indikatoren zeigt, dass Russland nach mit hoher Unsicherheit behafteten Prognosen insgesamt einen Rückgang seiner Wirtschaftsleistung von 6,9 Prozent im Jahr 2022 und 2,6 Prozent im Jahr 2023 erleiden dürfte. Damit fiele die Schrumpfung der Wirtschaft geringer aus als in der Finanzkrise 2008 (- 7,8 Prozent) und wäre deutlich schwächer als in den postsowjetischen Umbruchjahren 1992-1994, als zweistellige BIP-Rückgänge zu verzeichnen waren.“

Sanktionen und „Braindrain“ verschlechtern Russlands Wachstumsaussichten

Autoren der IW-Studie sind Professor Dr. Michael Hüther, Direktor des Institut der Deutschen Wirtschaft, und Dr. Simon Gerards Iglesias, Persönlicher Referent des Direktors. Sie konstatieren eine Verschlechterung der Bedingungen für die mittel- und langfristige Entwicklung der russischen Wirtschaft:

Der Westen habe in einem beispiellosen Ausmaß Sanktionen gegen Russland verhängt, die die jahrzehntelangen ökonomischen Verflechtungen weitestgehend auflösten.

Zugleich erlebe Russland als Folge der zunehmenden Repression gegenüber seiner Zivilgesellschaft einen massiven Brain-Drain, insbesondere junger, gut ausgebildeter Personen sowie zahlreicher Wissenschaftler.

Westliche Wirtschaftspartner sind für Russland schwer ersetzbar

Durch die Sanktionen sowie den Rückzug westlicher Unternehmen und internationalen Kapitals verliert Russland, so die Studie, seinen wichtigsten Export- und einen wichtigen Importmarkt.

Die „technologische Lücke zum Westen“ werde damit weiter wachsen. Russland verliere so „zukunftsfähige Entwicklungsperspektiven“. Aufgrund des Bruchs mit dem Westen werde Russland eine Entwicklungsstrategie ohne den Zugang zu Märkten für moderne Technologien, Importgüter und Kapitalinvestitionen entwickeln müssen.

Die Autoren erwarten, dass Russland eine stärkere Bindung zu anderen Märkten wie China und Indien anstrebt. Alternative Handelspartner, allen voran China, könnten den Westen sowohl als Import- als auch als Exportmarkt für Russland auf absehbare Zeit aber nicht adäquat ersetzen. Erste Erfahrungen zeigten zudem, dass sie keineswegs einfach zu finden seien.

Russland fehlen die institutionellen Voraussetzungen für eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft

Die IW-Studie traut der russischen Wirtschaft eine „diversifizierte endogene Entwicklung“ nicht zu. Es gebe „institutionelle Barrieren“, die bis heute nachwirkten. Der „lange Schatten der Sowjetunion“ liege noch immer über der russischen Wirtschaft. Er verhindere die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien und die Herausbildung einer innovativen Unternehmerkultur.

Russland habe eine Transformation aus einer korrupten Staatswirtschaft durch die Mobilisierung eines unabhängigen privaten Sektors nicht geschafft. Die ökonomische Öffnung nach 1990 sei ohne Rücksicht auf die notwendigen institutionellen Voraussetzungen erfolgt. Allen späteren marktwirtschaftlichen Reformen habe die Konsequenz gefehlt. Russland mangele es vor allem an einer verlässlichen Eigentumsordnung, einer dezentralen Innovationskultur und damit eines international wettbewerbsfähigen Sektors.

Die Aussichten für die russische Volkswirtschaft seien „alles andere als rosig“ meinen die Autoren. Allerdings habe dies schon vor dem Angriff auf die Ukraine gegolten. Die institutionellen Schwächen und die demografischen Lasten Russlands seien unabhängig vom Krieg evident. Sie zeigten, dass nicht nur die Transformation der Sowjetunion zu Marktwirtschaft und Demokratie misslungen sei. Auch Putins Versuch, eine Lösung der russischen Wirtschaft aus ihrer Abhängigkeit von Rohstoffen einzuleiten und zu verstetigen, sei vergeblich gewesen.

Die „Holländische Krankheit“ schwächt Russlands Industrie

In der herausragenden Stellung des Rohstoffsektors in der russischen Wirtschaft sehen die Autoren die Gefahr einer Deindustrialisierung durch die „Holländische Krankheit“:

„Der Exportboom von Erdöl, Erdgas und Steinkohle verdrängt das Verarbeitende Gewerbe, dessen Produkte aufgrund der Aufwertung des Rubels sowohl auf dem Weltmarkt als auch gegenüber Importprodukten nicht konkurrenzfähig sind. Dieses als Holländische Krankheit bekannte Phänomen führt zu Deindustrialisierung und zur Zementierung der herausragenden Stellung des Rohstoffsektors. Zugleich bricht durch die Dekarbonisierung der westlichen Industrien mittelfristig ein wichtiger Absatzmarkt für den russischen Rohstoffsektor weg.“

Das Fazit der IW-Studie: Schlechte Aussichten für wachsenden Wohlstand

Aus ihrer Studie leiten die Autoren „düstere Perspektiven“ für die russische Wirtschaft ab:

„Diese Befunde eröffnen zusammengenommen die Aussicht auf eine anhaltend schwache, wenn nicht bezogen auf dem Pro-Kopf-Einkommen schrumpfende Entwicklung. Denn die strukturellen Hemmnisse und institutionellen Mängel werden künftig nicht mehr wie bisher durch die Erlöse aus dem Export von Ressourcen kompensiert werden und wie bisher gibt es keine Aussicht auf eine sinnvolle Nutzung dieser Einnahmen.“

Die Autoren meinen, Russland bleibe „nur der Ausweg in rückwärtsgewandte technologische Standards“. Als Perspektive für die russische Wirtschaft konstatieren sie „wirtschaftliche Entwicklung durch technischen Rückschritt“. Russland werde – analog der Sowjetunion – einen jahrzehntelangen Entwicklungsrückstand gegenüber dem transatlantischen Westen und – im Unterschied zur Sowjetzeit – ebenso gegenüber China verzeichnen.

Zu den Perspektiven der russischen Wirtschaft äußerte sich IW-Direktor Prof. Hüther auch Im Handelsblatt-Podcast „Economic Challenges“ im Gespräch mit Prof. Bert Rürup. Der Krieg mit der Ukraine sei für Russland „ökonomischer Selbstmord“ (ab Minute 20).

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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