Warum es in Russland keinen Boom geben wird

Russlands Wachstum ist schwach und wird es bleiben

Selbst wenn sich die Ölpreise auf erhöhtem Niveau halten und weitere Sanktionen ausbleiben, traut kaum jemand Russland ein Wachstum von mehr als 2 Prozent zu. Wir haben Stimmen zur Reformfähigkeit der russischen Wirtschaft nach 20 Jahren Putin gesammelt, u.a. von Leonid Bershidsky, Thielko Grieß und Gernot Erler.

Seit 2014 ist die russische Wirtschaft nur um rund 0,5 Prozent pro Jahr gewachsen. Der Einbruch der Ölpreise war dafür bei weitem der wichtigste Grund. Das stellte der IWF jetzt in seinem neuen Länderbericht heraus. Die westlichen Sanktionen schwächten das Wachstum deutlich weniger. Im ersten Halbjahr 2019 stieg die gesamtwirtschaftliche Produktion nach Schätzung des Wirtschaftsministeriums auch nur um 0,7 Prozent.

Rückblick: Wie der IWF die Wachstumsflaute seit 2014 erklärt

Der Internationale Währungsfonds analysierte in seinem Anfang August veröffentlichten Russland-Länderbericht unter anderem auch, warum sich das Wachstum der russischen Wirtschaft im Zeitraum 2014 bis 2018 auf rund 0,5 Prozent pro Jahr abgeschwächt hat.

Nach den IWF-Berechnungen dämpften die Sanktionen Russlands Wachstum in diesem Zeitraum nur um durchschnittlich 0,2 Prozentpunkte pro Jahr. Der jährliche Wachstumsverlust durch den Einbruch der Ölpreise war mit durchschnittlich 0,65 Prozentpunkten gut drei Mal höher. Hinzu kamen laut IWF auch Bremswirkungen durch die Fiskalpolitik (0,1 Prozentpunkte) und die Geldpolitik (0,2 Prozentpunkte). Die folgende IWF-Abbildung zeigt, wie sich die Bremseffekte dieser Faktoren addierten.

Internationaler Währungsfonds: Country Report; Russian Federation: 2019 Article IV Consultation-Press Release; Staff Report; Abbildung auf Seite 5, 02.08.2019

Das Wachstum blieb auch im ersten Halbjahr 2019 schwach

Russlands Wirtschaftsministerium schätzte in seinem am Mittwoch veröffentlichten Bericht „Bild der Wirtschaft“, dass das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion im ersten Halbjahr 2019 mit einem Anstieg um 0,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr auch kaum höher war als im Durchschnitt der letzten 4 Jahre. Dabei wuchs das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal um 0,5 Prozent und im zweiten Quartal um 0,8 Prozent (rote Rauten in der folgenden Abbildung):

Im zweiten Quartal 2019 blieb das BIP-Wachstum schwach

Wirtschaftsministerium: Konjunkturbericht „Bild der Wirtschaft – Juli 2019“; 07.08.2019
  • Mit Abstand wichtigster Wachstumsträger war die Industrie (schwarze Säulenteile). Sie wuchs im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahresquartal um 2,1 Prozent und im zweiten Quartal um 3,0 Prozent. Damit steuerte sie im ersten Quartal 0,5 Prozentpunkte zum Wachstum bei und im zweiten Quartal 0,8 Prozentpunkte.
  • Von anderen Wirtschaftsbereichen (u.a. Transport und Logistik) kamen nur schwache Wachstumsimpulse.
  • Die Bauproduktion (rot) und die Agrarproduktion (blau) stagnierten in beiden Quartalen auf dem Vorjahresniveau.
  • Der Groß- und Einzelhandel (dunkelblau) bremste auch im zweiten Quartal das Wachstum, aber nur noch halb so stark (0,2 Prozentpunkte) wie im ersten Quartal (0,4 Prozentpunkte).

Rosstat wird voraussichtlich am 12. August erste Schätzungen zur BIP-Entwicklung im zweiten Quartal veröffentlichen.

Ausblick: Wie stark steigt die Produktion 2019 und bis 2025?

Auch die Moskauer „Higher School of Economics“ hat in ihrer jüngsten Konjunkturumfrage bei wissenschaftlichen Instituten, internationalen Wirtschaftsorganisationen und Banken in der zweiten Juli-Hälfte festgestellt, dass die Wachstumsperspektiven der russischen Wirtschaft immer skeptischer beurteilt werden. Wie in den Umfragen von Reuters und FocusEconomics, über die Ostexperte vor einer Woche berichtete, fiel auch in der HSE-Umfrage die durchschnittliche Wachstumsprognose für 2019 (1,1 Prozent) um 0,2 Prozentpunkte niedriger aus als in der vorangegangenen Umfrage.

Was besonders bemerkenswert ist: Die Experten senkten nicht nur ihre Prognose für 2019 um 0,2 Prozentpunkte, sondern auch für die Jahre 2021 bis 2025. An einen kräftigen Aufschwung der russischen Wirtschaft in den nächsten Jahren glaubt offensichtlich kaum jemand. Nur einer von 25 Befragten ging in der HSE-Umfrage davon aus, dass sich der Produktionsanstieg auf 3 Prozent beschleunigt – und auch das erst 2024 bis 2025. Die russische Regierung erwartet hingegen schon 2021 einen Wachstumssprung auf 3,1 Prozent.

Warum Russlands Wirtschaftswachstum schwach bleibt

HSE-Berichterstatter Sergey Smirnov meint in seinem Kommentar, mit einem so schwachen Wachstum würde offenbar auch gerechnet, weil es als Resultat der drohenden Handelskriege einen Abschwung der Weltwirtschaft geben könne. Zu den Ursachen für die Wachstumsschwäche gehöre aber auch eine ganze Reihe von Faktoren, die nicht „marktbedingt“ seien. Er erwähnt beispielhaft die schlechte Qualität der staatlichen russischen Institutionen und die gegen Russland gerichteten Sanktionen.

Bershidsky: Putin kann sich Reformen für mehr Wachstum gar nicht leisten

Ausführlich hat sich letzte Woche Leonid Bershidsky zu Russlands Wachstumsschwäche geäußert. Der in Berlin lebende Bloomberg-Kolumnist gehörte unter anderem als Redakteur zu den Gründern der russischen Zeitung Wedomosti. Er kommt in einem Kommentar, der auch in der „Moscow Times“ erschien, zu der bemerkenswerten Schlussfolgerung, Präsident Putin könne es sich aus politischen Gründen nicht leisten, das Wachstum der russischen Wirtschaft zu beschleunigen. Dafür erforderliche Maßnahmen würden nämlich das fragile Gleichgewicht zerstören, das seine Macht sichere.

Für mehr Wirtschaftswachstum müsse Putin entweder den Mut haben, die „normalen“ russischen Bürger, deren Geduld bereits weitgehend am Ende sei, weiter zu belasten oder er müsse sich entschließen, den Interessen von Gruppen entgegen zu treten, die wichtige Stützen seines Regimes seien. Putin tue lieber nichts als eines dieser Risiken einzugehen. Bershidsky argumentiert im Einzelnen so:

Bisher sei es der russischen Wirtschaftspolitik zwar gelungen, die Folgen der Schocks durch den Ölpreisverfall und die Sanktionen in relativ engen Grenzen zu halten. Es habe eine straffe Fiskalpolitik gegeben, die Inflation sei niedrig gehalten worden, die internationalen Währungsreserven seien gewachsen und die staatliche Verschuldung gesunken.

Jetzt stelle sich der Regierung jedoch die noch schwierigere Aufgabe, das Wachstum zu beschleunigen.

Die „Milliarden-Freunde“ müssen bei Laune gehalten werden

Der IWF schlage dafür unter anderem auch eine Reform des staatlichen Beschaffungswesens und eine Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft vor. Staatliche Aufträge machen laut IWF in Russland 28,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und sind die wichtigste Quelle der Korruption.

Reformen, die den staatlichen „Fußabdruck“ in der Wirtschaft verringern, würden aber, so Bershidsky, die wichtigsten Stützen von Putins Regime unterminieren. Die verlässlichste Unterstützungsbasis bildeten für Putin die Beschäftigten von staatlichen Vewaltungen und staatlichen Unternehmen.

Zudem seien Putins „Milliarden-Freunde“ durch staatliche Aufträge reich geworden. Da viele von ihnen jetzt mit Sanktionen belegt seien, bildeten Aufträge der Regierung für sie die einzige Quelle für die Ansammlung weiteren Reichtums. Putin müsse diese „Cronies“ bei guter Laune halten, wenn er vermeiden wolle, einen „Stich in den Rücken“ zu bekommen.

Thielko Grieß: „Es bräuchte dringend eine andere Politik“

Auch Thielko Grieß, Russland-Korrespondent des Deutschlandfunks, sieht 20 Jahre nachdem Putin Ministerpräsident wurde, dringenden Reformbedarf. Er schildert die Lage Putins so:

„Gefahr droht ihm (Putin) dann, wenn das von ihm geprägte autoritäre Wirtschaftsmodell nicht mehr genug abwirft, um die Masse mit dem Notwendigsten, die Mittelklasse mit Europaurlaub und die Herrschenden, ihn eingeschlossen, mit der soundsovielten Luxusvilla zu versorgen.

In den vergangenen Jahren aber ist Russland ökonomisch immer weiter abgerutscht. Es bräuchte also dringend eine andere Politik.“

Wie Bershidsky hält auch Grieß Putins Regierungssysstem aber nicht für reformfähig:

„Ein grundlegend anderes Russland wird es mit Putin nicht geben. Einstweilen bleiben beide, das Land und er, fest aneinander gekettet.“

Gernot Erler: Putin hat Reform der russische Wirtschaft versäumt

Dass Putin eines Tages die Macht aus der Hand gibt, ist für den SPD-Politiker Gernot Erler durchaus vorstellbar. Erler war unter anderem von 2015 bis 2018 „Russland-Beauftragter“ der Bundesregierung.
In einem DLF-Interview zu „20 Jahren Putin“ meinte er, Putin werde die Macht aber wahrscheinlich nur abgeben, wenn es ihm gelinge, einen Nachfolger aus seinem Vertrauensumfeld zu finden, der nicht an den Machtverhältnissen rüttele und auch nicht an den wirtschaftlichen Vorteilen der Gruppe, die jetzt die Macht habe.
Bis 2024 werde Putin auf jeden Fall noch Präsident sein. Erler glaubt nicht, dass dann ein „völliger Wechsel“ sehr wahrscheinlich sei, sondern dass alle auf das Ziel Kontinuität setzen würden.
Die aktuellen Proteste in Russland können Putins Politik und Macht nicht ernsthaft in Gefahr bringen, glaubt Erler. Allerdings sehe es so aus, als ob Putins „Problemlösungsfähigkeiten“ abnähmen. Grund dafür sei vor allem, dass Putin eine Reform der Struktur der russischen Wirtschaft versäumt habe. Sie basiere nach wie vor auf Öl- und Gasexporten und sei damit von den Weltmarktpreisen für Energierohstoffe abhängig.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Alexey Savchuk / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps

20 Jahre Putin an der Macht:

IWF-Länderbericht:

Konjunkturberichte von Wirtschaftsministerium, Rosstat und Zentralbank mit Analysten-Berichten:

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (meist monatlich, vierteljährlich)

Sonstige Veröffentlichungen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann seit Anfang Juli 2019: