Wissenschaftler kritisieren Russlands Wirtschaftspolitik

Wissenschaftler kritisieren Russlands Wirtschaftspolitik

Im Vorfeld des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums (SPIEF) scheint sich die Kritik an Russlands Wirtschaftspolitik von wissenschaftlicher Seite zu mehren. Zwei prominente Forscher bemängelten in russischen und deutschen Medien Korruption und die Reformunwilligkeit der Regierung.

Sergei Guriev, 2013 emigrierter Rektor der Moskauer „New Economic School“, der seine Tätigkeit als Chef-Volkswirt der Londoner Entwicklungsbank EBRD Ende August beendet, gab einem russischen Internet-Magazin ein ausführliches Interview, in dem er insbesondere die Reformunwilligkeit der russischen Regierung und die weit verbreitete Korruption anprangerte. Natalia Akindinova, Direktorin des Konjunkturforschungszentrums der Moskauer „Higher School of Economics“ äußerte in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung vor allem im Hinblick auf die Rechtssicherheit in Russland scharfe Kritik.

Am 08. Mai veröffentlichte die Londoner “European Bank for Reconstruction and Development (EBRD)“, die als internationale Entwicklungsbank hauptsachlich in Mittel- und Osteuropa, Zentralasien und Nordafrika tätig ist, in ihren halbjährlich erscheinenden  „Regional Economic Prospects“ auch neue Prognosen zur Entwicklung der russischen Wirtschaft. Die 1991 gegründete „Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ beschloss zwar angesichts der Ukraine-Krise im Jahr 2014, künftig keine weiteren Kredite an Russland zu vergeben, betreut in Russland begonnene Projekte aber weiterhin.

Die neue Russland-Prognose der EBRD stimmt mit den einen Tag zuvor veröffentlichten Wachstumsprognosen der EU-Kommission für Russland überein. Nach einer Abschwächung auf 1,5 Prozent im laufenden Jahr erwartet auch die EBRD im nächsten Jahr nur eine leichte Beschleunigung des Wachstums auf 1,8 Prozent.

Scheidender Chef-Volkwirt Guriev kritisiert Russlands Wirtschaftspolitik

Chef-Volkswirt der EBRD ist seit September 2016 Sergei Guriev. Er war zuvor seit 2004 Professor und Rektor der privaten Moskauer Hochschule „New Economic School“ bevor er 2013 emigrierte und eine Lehrtätigkeit an der Pariser Universität SciencesPo aufnahm. Ende August wird er nach drei Jahren seine Arbeit als Chef-Volkswirt der EBRD beenden. Seine Nachfolgerin wird Beata Javorcik (Professorin Universität Oxford).

Guriev kommentierte jetzt in einem fast einstündigen Interview mit Elizaveta Osetinskaya, Gründerin der russischen Internet-Seite „The Bell“, Mängel der russischen Wirtschaftspolitik und nahm zu den Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft Stellung. Nachstehend eine Zusammenfassung einiger Thesen Gurievs durch den Autor dieses Artikels.

Zwei Mythen der russischen Wirtschaftspolitik

Wir hören sehr oft, eine Isolation von der Weltwirtschaft könne für Russland hilfreich sein, um sich auf seine Stärken zu konzentrieren, zu investieren, Neues zu erfinden, einen Rückstand gegenüber anderen Ländern aufzuholen und sie zu überholen. Das ist der erste Mythos: Der Glaube, die russische Wirtschaft könne ohne Integration in die Weltwirtschaft rasch wachsen.

Der zweite Mythos betrifft die Rolle von Staat und Markt. Es ist natürlich so, dass der private Sektor Arbeitsplätze schafft. Aber der Schutz des privaten Eigentums und die Sicherung des Wettbewerbs sind auch notwendig. Wir brauchen Gerichte, die für Rechtssicherheit sorgen, nicht nur Verwaltungsbeamte und Unternehmer. Leider muss man daran erinnern.

Der Rückgang der Realeinkommen in Russland ist leicht zu erklären

Nach Abzug der Inflationsrate stiegen die Einkommen in den letzten fünf Jahren nicht mehr. In einigen Jahren fielen sie. Die Gründe sind für Guriev die Isolierung der russischen Wirtschaft von der Weltwirtschaft, die Zunahme der Staatswirtschaft und fehlende Fortschritte bei der Verbesserung des Investitionsklimas.

Der Kapitalabfluss signalisiert das schlechte Investitionsklima

Das Investitionsklima ist gut, wenn Investoren eine Rendite erzielen können, die ihren Erwartungen entspricht. Angesichts des Abflusses von Kapital aus Russland glauben viele Geschäftsleute aber offenbar, dass es noch ein großes Potenzial für Verbesserungen des Geschäftsklimas in Russland gibt.

Aus Furcht vor westlichen Sanktionen fließt zwar ein Teil des früher ins Ausland abgeflossenen Kapitals nach Russland zurück. Insgesamt fließt aber sehr viel mehr Kapital aus Russland ab. Es ist Kapital, das in Russland investiert werden könnte. Die Eigentümer sind überzeugt, dass ihr Geld im Westen sicherer ist.

Weil es keine Reformen gibt, wächst Russland nur um 1,5 bis 2 Prozent

Die EBRD erwartet, dass die russische Wirtschaft jährlich mit einer Rate von 1,5 bis 2 Prozent wachsen wird, wenn es keine Reformen gibt. Darüber gibt es einen Konsens. Die russische Regierung und der Internationale Währungsfonds erwarten das auch. Der zweite Teil des Konsenses ist allerdings, dass es keine Reformen geben wird. Das bedeutet, dass auch die Einkommen mit einer entsprechenden Rate von 1 Prozent, 1,5 Prozent oder 2 Prozent steigen werden, aber nicht mit einer Rate von 10 Prozent wie zu Beginn oder in der Mitte der 2000er Jahre.

Die Wirtschaftspolitik „kostet“ Russland jährlich rund 30 Milliarden Dollar

Dass Russlands Wirtschaft nur um 1,5 Prozent wachsen wird und nicht mit der von der Regierung angestrebten Rate von 3 Prozent und erst recht nicht wie andere osteuropäische Staaten um 4 Prozent, ist eine Folge der Isolation Russlands von der Weltwirtschaft, der gestiegenen Korruption und der wachsenden Präsenz des Staates in der Wirtschaft. Jeder Prozentpunkt weniger Wachstum entspricht rund 15 Milliarden Dollar. Wenn Russland um 2 Prozentpunkte jährlich weniger wächst, belaufen sich die „Kosten“ seiner Wirtschaftspolitik auf rund 30 Milliarden Dollar jährlich.

(Ganz ähnlich wie Guriev argumentierte übrigens der frühere Erste Stellvertretende Präsident der russischen Zentralbank Sergej Aleksachenko am 09. April in einem Echo Moskwy-Interview. Er meinte, die russische Wirtschaft könnte als Wirtschaft eines Landes auf dem Niveau eines „Entwicklungslandes“ eigentlich rund einen halben Prozentpunkt schneller als die Weltwirtschaft wachsen, also um rund 4 Prozent. Tatsächlich wachse sie jedoch um weniger als 2 Prozent. Der „Preis“ der russischen Außenpolitik betrage somit rund 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, rund 32 Milliarden Dollar jährlich.)

China hat auch Korruptionsprobleme, aber viel geringere als Russland

Zwischen China und Russland gibt es große Unterschiede. In Russland gibt es keinen regelmäßigen Austausch der Eliten, das Niveau der Korruption ist sehr viel höher als in China. China hat auch Probleme mit der Korruption, dem Investitionsklima und der Rechtssicherheit, aber viel geringere Probleme als Russland. Unter den großen Volkswirtschaften ist Russland einer der weltweit korruptesten Staaten.

Natalia Akindinova: Rechtsorgane müssen reformiert werden

Auch Natalia Akindinova, Direktorin des Konjunkturforschungszentrums der Moskauer „Higher School of Economics“, kritisierte in einem Gespräch mit Silke Bigalke in der Süddeutschen Zeitung die weit verbreitete Korruption in Russland. Die Rechtsorgane missbrauchten ihre Macht, was Investoren abschrecke.

Akindinova plädiert vor allem für Justizreformen, um die Lage zu verbessern:

„Heute werden Strafverfahren für Geld eingeleitet und für Geld geschlossen. So kann man unliebsamen Konkurrenten schaden. Das ist ein Business. Man kann nicht sagen, dass Gerichte und Staatsanwälte ihre öffentliche Funktion nicht ausüben. Aber in vielem sind sie korrumpiert. Die Leute haben Angst, dass man ihnen alles wegnimmt und sie ins Gefängnis wirft. Das schränkt die Wirtschaft stark ein. Ich weiß nicht wie, aber dies zu ändern wäre das Wichtigste.“

„Verhärtungen und Verbote in allen Bereichen“

Natalia Akindinova verweist darauf, dass in Russland nicht nur Freiheiten im politischen Bereich unterdrückt werden. Immer mehr staatliche Regulierungen schadeten auch der Wirtschaft:

„Nach der Duma-Wahl im Dezember 2011 gab es Proteste, weil Wahlbeobachter Missbrauch feststellten. Doch nach Putins Inauguration wurden die Demonstrationsteilnehmer verfolgt, viele kamen ins Gefängnis. Es wurde klar, dass solche politische Tätigkeit in Russland nun gefährlich ist. Zuerst wurden Freiheiten im politischen Bereich unterdrückt, dann in der Wirtschaft.

Es gibt Verhärtungen und Verbote in allen Bereichen. Jetzt versuchen Behörden, Internetinhalte zu regulieren. Menschen werden bestraft für Reposts und für unerwünschte Aussagen im Netz. Dazu die Idee eines isolierten russischen Internets. Auch das schadet der Wirtschaft.“

Aber die Wirtschaft ist trotz großer Probleme „stabil genug“

Trotz dieser scharfen Kritik an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und Mängeln der Rechtssicherheit meint Akindinova aber, die Wirtschaft sei „stabil genug“:

“Russland ist durch einen Fonds auch gegen Ölpreissenkungen mehr oder weniger versichert. Man hat reales Geld und keine Schulden, die Lage kann über eine gewisse Zeit gerettet werden.

Grundlage ist der Brennstoffsektor, er sorgt für Stabilität in der Staatskasse. Eine große Rolle spielen auch Großbetriebe, die seit der Sowjetzeit bestehen, im Maschinenbau, der Militär-, der Chemieindustrie, in der metallverarbeitenden Branche, bei Infrastrukturbetrieben. Oft sind das Monopole, sie erhalten die Staatsaufträge. Die Beschlüsse dieser Unternehmen kontrolliert die Regierung. Die wichtigen russischen Oligarchen finden Platz an einem Tisch. Das macht den Großteil der Wirtschaft relativ stabil und leicht verwaltbar.“

Guriev: Signifikante Verringerung der Inflation gelungen

Sergei Guriev verweist in seinem Interview auf Erfolge der Zentralbank bei der Stabilisierung des Geldwertes. In Russland habe es früher Inflationsraten von 6 Prozent, 10 Prozent und 15 Prozent gegeben. Im letzten Jahr habe die Preissteigerung hingegen unter 4 Prozent gelegen. In diesem Jahr werde sie höher sein. Aber insgesamt sei es der Zentralbank gelungen, eine signifikante Verringerung der Inflation zu erreichen.

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Quellen und Lesetipps: