Geldpolitik: Russland setzt auf Stabilität

Russlands Geld- und Finanzpolitik bleibt vor allem stabilitätsorientiert

Wie die russische Zentralbank die Inflation im Griff halten und gleichzeitig die Wirtschaft ankurbeln will: Ein Überblick über die russische Finanzpolitik – und was Weltbank und IWF dazu sagen.

Die russische Zentralbank senkte am Freitag ihren Leitzins erwartungsgemäß nicht, obwohl sich das Wachstum der russischen Wirtschaft im ersten Quartal nach Schätzung des Wirtschaftsministeriums auf nur noch 0,8 Prozent abschwächte. Immer mehr Beobachter rechnen spätestens im September aber mit einem ersten Schritt zur Lockerung der Geldpolitik.

Auch die russische Finanzpolitik bleibt vor allem auf Stabilität und eine möglichst große Unabhängigkeit von außenwirtschaftlichen Entwicklungen ausgerichtet. Von ihr ist trotz des schwachen Wirtschaftswachstums kein Umschwenken auf einen expansiven Kurs mit kräftigen Steigerungen der Ausgaben zur Förderung des Wachstums der Produktion zu erwarten. Finanzminister Anton Siluanow unterstrich die Erfolge seiner „Sparpolitik“ kürzlich bei einer Konferenz der Moskauer Wirtschaftsuniversität „Higher School of Economics“. Im Mittelpunkt seiner Rede stand aber, wie die Regierung ein stärkeres Wachstum erreichen will.

Zentralbank hält Leitzins bei 7,75 Prozent

Wie von Analysten in Umfragen einmütig erwartet worden war, beließ die russische Zentralbank am Freitag ihren Leitzins erneut bei 7,75 Prozent. Immerhin deutete sie in ihrer Pressemitteilung an, dass bei der nächsten Sitzung des Direktorenrats am 14. Juni eine Zinssenkung „im zweiten oder dritten Quartal“ erwogen werden könnte. Voraussetzung dafür sei, dass sich Inflation und Wachstum so entwickeln, wie es im Basis-Szenario der Zentralbank angenommen wird.

Die Zentralbank meint in ihrer Pressemitteilung, dass preistreibende Effekte der Mehrwertsteuererhöhung inzwischen weitgehend wirksam geworden sind. Im März sei mit einem Anstieg der Verbraucherpreise um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat wohl die „Preisspitze“ überschritten worden. Im April erwartet die Zentralbank nur noch einen Preisanstieg um 5,1 Prozent. Sie geht davon aus, dass ihr Inflationsziel von 4 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2020 erreicht wird.

Die folgende Abbildung aus einer Veröffentlichung der Zentralbank zur Information von Investoren über den Finanzsektor der russischen Wirtschaft zeigt, wie sich der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat (grau schattierte Fläche) seit Mitte 2018 beschleunigte. Am Jahresende 2018 überschritt er das mittelfristige Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent. Im Februar 2019 stieg er auf 5,2 Prozent (im März auf 5,3 Prozent).

Die Abbildung zeigt auch die Entwicklung des Leitzinses („key rate“). Er wurde von Mitte 2015 bis Mitte 2018 von über 12 Prozent auf 7,25 Prozent gesenkt. Als die Inflation anzog, erhöhte ihn die Zentralbank im September und im Dezember 2018 um jeweils 0,25 Prozentpunkte wieder auf 7,75 Prozent.

Quelle: Russische Zentralbank: Russian Financial Sector, Investor presentation, April 2019; Seite 16

Unverändert moderate Wachstumsprognose der Zentralbank für 2019

Das reale Wachstum der russischen Wirtschaft erwartet die Zentralbank in diesem Jahr weiterhin in einer Spanne von 1,2 bis 1,7 Prozent. Sie stellt in ihrer Pressemitteilung zur Leitzinsentscheidung heraus, dass sie auch nach der Revision der Wachstumsraten für die Jahre 2014 bis 2018 durch die Statistikbehörde Rosstat bei ihrer Einschätzung bleibe, dass das Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft weitgehend ausgeschöpft sei.

Die Anhebung der Mehrwertsteuer Anfang 2019 habe die Wirtschaftsaktivität leicht gedämpft. Das zusätzliche Steueraufkommen werde aber schon 2019 für höhere Staatsausgaben, einschließlich Investitionen, genutzt werden. Ab 2020 könne es höhere Wachstumsraten geben, da dann die sogenannten „nationalen Projekte“ verwirklicht werden sollen.

Im Basisszenario ihres Ende März veröffentlichten „Monetary Policy Report“ nimmt die Zentralbank an, dass sich das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr auf 1,8 bis 2,3 Prozent beschleunigt.

Wird der Leitzins schon Mitte Juni gesenkt?

Natalia Orlova, Chefvolkswirtin der Alfa Bank, meint in ihrem Kommentar zur Entscheidung der Zentralbank, bei der nächsten Sitzung am 14. Juni werde die Diskussion über eine Senkung des Leitzinses im Mittelpunkt stehen. Sie glaubt, eine Senkung um 0,25 Prozentpunkte auf 7,5 Prozent sei das wahrscheinlichste Szenario, falls die russische Wirtschaft im April und Mai wie im ersten Quartal schwach wachse.

Inflationsraten über 5 Prozent und die hohen Inflationserwartungen sorgten aber weiterhin für viel Ungewissheit. Es gebe auch keine Klarheit, ob die Kraftstoffpreise weiterhin eingefroren bleiben und ob es zu einer von Ministerpräsident Medwedew vorgeschlagenen Senkung der Mehrwertsteuer für Nahrungsmittel kommen werde. Die Zentralbank habe wegen dieser Ungewissheit genügend Gründe, den Leitzins nicht zu senken.

Dmitry Dolgin, ING-Chefvolkswirt für Russland, hielt bisher erst im letzten Quartal 2019 eine Leitzinssenkung für möglich. Er glaubt jetzt, dass die Kraftstoffpreise bis zum Jahresende eingefroren bleiben und die Verbrauchernachfrage schwach bleibt. Deswegen rechnet er damit, dass sich die Inflationsrate bis zum Jahresende auf 4,6 Prozent abschwächt. Unter diesen Bedingungen wäre es der Zentralbank möglich, im September und im Dezember den Leitzins um jeweils 0,25 Prozentpunkte zu senken – allerdings nur wenn die westlichen Sanktionen nicht verschärft werden.

Dass eine Leitzinssenkung schon Mitte Juni beschlossen wird, hält Dolgin für möglich. Dies sei aber ein „optimistisches Szenario“. Er erinnert daran, dass der Rubel im zweiten und dritten Quartal wegen saisonaler Entwicklungen der Leistungsbilanz unter Druck kommen könnte und es außenpolitische Risiken gebe (Ukraine, Venezuela).

Nabiullina verteidigte ihre Geldpolitik

Zentralbankpräsidentin Elvira Nabiullina nahm zu den hohen Leitzinsen in Russland im März in einem ausführlichen Interview der Zeitschrift „Finance & Development“ des Internationalen Währungsfonds Stellung. Sie strich heraus, eine niedrige Inflation sei für jeden wichtig. Die Zentralbank täte, was erforderlich sei, um die angestrebte Inflationsrate zu erreichen.

Manchmal werde der Zentralbank zwar vorgehalten, sie erreiche ihr Inflationsziel nur, indem die Zinsen zu stark erhöht würden und das Wachstum der Wirtschaft gedrückt würde. Die Berechnungen der Zentralbank zeigten jedoch, dass dies tatsächlich nicht der Fall sei. Denn die gegenwärtige Wachstumsrate der Wirtschaft liege nahe bei der potenziellen Wachstumsrate von 1,5 bis 2 Prozent. Der historisch niedrige Stand der Arbeitslosigkeit sei dafür ein weiterer Beweis. Wenn die tatsächliche Produktion der Wirtschaft der potenziell erreichbaren Produktion nahe kommt, sei es nicht möglich, mit geldpolitischen Maßnahmen das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Dafür brauche man dann „strukturelle Änderungen“.

Finanzminister Anton Siluanow zu den Erfolgen seiner Finanzpolitik

Mit welchen finanz- und ordnungspolitischen Maßnahmen die russische Regierung das Wachstum der Wirtschaft und die Entwicklung der Unternehmen fördern will, erläuterte Finanzminister Anton Siluanow bei der Eröffnung der 20. Internationalen April-Konferenz der Moskauer Higher School of Economics. Er meinte in seiner Rede zur Finanz- und Wirtschaftspolitik, die Regierung habe in den letzten Jahren die Grundlagen für weitere Reformen und strukturelle Änderungen gelegt.

Anders als andere energiepreisabhängige Länder habe Russland seine Verschuldung nicht erhöht, sondern verfolge eine „ausgeglichene“ Haushaltspolitik. Er verwies darauf, dass der föderale Haushalt 2018 einen Überschuss von 2,6 Prozent des BIP aufwies und finanzielle Reserven gebildet wurden. Schon bei einem Ölpreis von nur 45 Dollar/Barrel sei es inzwischen möglich, einen ausgeglichenen Haushalt zu erzielen.

Hohe Haushaltsüberschüsse im letzten Jahr

Die russische Zentralbank veröffentlichte in ihrem „Monetary Policy Report“ zur Entwicklung des föderalen Haushalts und des konsolidierten Haushalts für den Gesamtstaat Anfang April folgende Übersicht. Sie zeigt, dass der Überschuss im staatlichen Gesamthaushalt 2018 mit 2,9 Prozent noch höher war als im Föderationshaushalt. Von den Einnahmen des Föderationshaushalts entfielen 2018 rund 46 Prozent auf den Öl- und Gasbereich, deutlich mehr als 2017 (rund 40 Prozent).

Einnahmen, Ausgaben und Haushaltssaldo
im konsolidierten Haushalt des Gesamtstaates und im föderalen Haushalt
in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt

Quelle: Russische Zentralbank: Monetary Policy Report, S. 48; 01.04.2019

Wie die Regierung für mehr Wachstum sorgen will

Siluanow sprach auf der HSE-Konferenz zahlreiche Maßnahmen an, mit denen die russische Regierung das Wachstum der Wirtschaft fördern will.

Dazu gehöre im ordnungspolitischen Bereich unter anderem auch, dass die Regierung für verlässliche Rahmenbedingungen sorge. So werde es in den nächsten sechs Jahren keine größeren Änderungen im Steuersystem geben. Eine weitere Aufgabe sei, gleiche Chancen im Wettbewerb zu garantieren. Die Kritik, dass es Vorteile für staatliche Unternehmen gebe, sei berechtigt.

Beim Abbau administrativer Belastungen für die Unternehmen habe es schon einige Erfolge gegeben, meinte der Minister. So sei Russland im internationalen Ranking der Weltbank zu den Geschäftsbedingungen für Unternehmen („Doing Business“) inzwischen von Platz 130 in den Kreis der führenden 30 Staaten vorgerückt. Es gebe auch Maßnahmen, mit denen russische Investoren, die Kapital im Ausland angelegt hätten, bewegt werden sollten, wieder in Russland zu investieren.

Der Finanzminister unterstrich die Notwendigkeit, dass sich die Unternehmen an der Realisierung großer Investitionsprojekte beteiligen. Nur so sei es möglich, die angestrebte Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Investitionsquote von 21 auf 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erreichen.

Bei der Realisierung der sogenannten „nationalen Projekte“ gehe es unter anderem um den Ausbau der Infrastruktur, die Digitalisierung der Wirtschaft, die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen.

Ein weiteres Ziel sei, die Ausfuhr von Gütern außerhalb des Rohstoff-Bereichs in den nächsten sechs Jahren zu verdoppeln. Die Regierung werde die Unternehmen dabei unterstützen.

Die Weltbank lobt die russische Wirtschaftspolitik, fordert aber insbesondere mehr Wettbewerb

Die Weltbank stellt in ihrem Anfang April veröffentlichten „Country Snapshot“ zunächst zahlreiche Stärken und Erfolge der russischen Wirtschaftspolitik heraus. Dank der hohen Währungsreserven (468,5 Milliarden US-Dollar) und einer niedrigen Auslandsverschuldung (rund 29 Prozent des BIP) könne Russland externe Schocks gut absorbieren. Gestiegene Ölpreise in Kombination mit einem schwächeren Rubel, eine effizientere Steuerverwaltung und eine konservative Fiskalpolitik hätten für eine Verbesserung der Haushaltslage auf allen staatlichen Ebenen gesorgt.

Von den im Rahmen der nationalen Projekte eingeleiteten Initiativen zur Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Erziehung, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur erwartet auch die Weltbank, dass sie das Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft stärken können. Die Bank betont jedoch gleichzeitig, dass eine Intensivierung des Wettbewerbs auf dem russischen Markt weiterhin besonders wichtig sei, um eine höhere Produktivität zu erreichen. Die Weltbank erwähnt dazu, dass staatliche Banken über fast 70 Prozent des im Bankensektor investierten Kapitals verfügen.

Als prioritäre politische Ziele nennt die Weltbank eine Begrenzung der staatlichen Rolle in der Wirtschaft, die Förderung fairer Wettbewerbsbedingungen, eine Steigerung der Investitionen und verstärkte Maßnahmen zur Entwicklung des Humankapitals.

Die Wachstumsperspektiven bleiben nach Einschätzung der Weltbank mittelfristig jedoch moderat. Nach 1,4 Prozent in diesem Jahr rechnet sie in den beiden nächsten Jahren mit einem Wachstum von 1,8 Prozent.

Der IWF fordert eine weitere fiskalische Konsolidierung, sieht aber Möglichkeiten für eine geldpolitische Lockerung

Der Internationale Währungsfonds rechnet auch nur mit einem moderaten Wachstum (2019: 1,6 Prozent; 2020: 1,7 Prozent). Er gab in seinem Anfang April veröffentlichten „World Economic Outlook“ auch einige Empfehlungen zur Förderung von privaten Investitionen und der Steigerung der Produktivität in Russland. Der IWF rät der russischen Regierung, die Rechte der Eigentümer besser zu schützen und die Regierungsführung zu verbessern („improve governance“), die Arbeitsmärkte zu reformieren und mehr in die Infrastruktur zu investieren.

In der russischen Finanzpolitik sieht der IWF die kürzliche Lockerung der „Budget-Regel“, die das Sparen ölpreisbedingter Mehreinnahmen vorschreibt, kritisch. Die Lockerung habe „einen prozyklischen positiven fiskalischen Impuls“ ausgelöst. Der Fonds warnt, dass so die Glaubwürdigkeit der russischen Haushaltspolitik geschwächt werden könnte. Eine weitere fiskalische Konsolidierung sei erforderlich, um auf mittlere Sicht die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik zu gewährleisten.

Zur Geldpolitik der Zentralbank meint der IWF, der Leitzins sei angesichts des wachsenden Inflationsdrucks in der zweiten Jahreshälfte über die „neutrale Zinsrate“ hinaus erhöht worden. Falls sich die Inflation nicht beschleunige, habe die Zentralbank deswegen jetzt die Möglichkeit, die Konjunktur geldpolitisch zu stützen, wenn sich die wirtschaftliche Aktivität in nächster Zeit abschwächen sollte.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Chefin der Russischen Zentralbank Elvira Nabiullina; Fotorechte:  ID1974 / Shutterstock.com
^*^

Quellen und Lesetipps

Leitzinsentscheidung am 26.04.2019 und Berichte zur russischen Geldpolitik

Finanzminister Siluanow zur russischen Finanz- und Wirtschaftspolitik:

Weltbank und IWF zur russischen Wirtschaftspolitik:

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte:

Kalender für Veröffentlichung neuer russischer Konjunkturdaten:

Wirtschaftsministerium:
Mittelfristige Prognose bis 2024 vom 22.04. und 09.04. mit Presseberichten

Konjunktur im März 2019: Monatsbericht Wirtschaftsministerium; Rosstat-Monatsdaten: Sozio-ökonomische Lage im März, 18.04.2019; mit Analysten- und Presseberichten

Sonstiges zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann: