Wird Russland 2020 die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt?

Ex-Wirtschaftsminister Oreshkin und der IWF sehen 2020 Russland vor Deutschland

Das Vorhaben, bis 2024 zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt zu gehören, hat Putin in seinem diesjährigen Dekret mit wirtschaftspolitischen Zielen für 2030 nicht mehr erwähnt. Zu ungünstig sei die derzeitige Lage der Weltwirtschaft, hieß es aus Regierungskreisen. Allerdings ist Russland von dem Vorhaben alles andere als weit entfernt: kaufkraftbereinigt liegt das russische BIP nur knapp hinter dem deutschen auf Platz sechs – und könnte noch dieses Jahr auf Rang 5 aufsteigen.

Es bleibt Russlands Ziel, zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt zu gehören. Das sagt jedenfalls der frühere Wirtschaftsminister Maxim Oreshkin, der jetzt als Wirtschaftsberater Präsident Putins fungiert. Im Mai 2018 hatte Putin dekretiert, dieses Ziel bis zum Jahr 2024 zu erreichen. Im neuen Zielkatalog für 2030, den Putin im Juli verkündete, wurde es aber nicht mehr ausdrücklich genannt.

Oreshkin meinte jedoch Ende August bei einem Jugendforum, das Ziel werde weiter verfolgt. Er zeigte sich überzeugt, dass es schon in diesem Jahr erreicht wird. Russland werde Deutschland, das 2019 die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt war, 2020 überholen. Aufgabe der russischen Regierung ist es, so Oreshkin, für ein im weltweiten Vergleich überdurchschnittlich hohes Wachstum zu sorgen. So könne der russischen Wirtschaft ein Platz unter den fünf größten Volkswirtschaften gesichert werden.

Putins Mai-Dekret aus dem Jahr 2018: Russland soll 2024 zu den fünf größten Volkswirtschaften gehören

Im Mai 2018 hatte Präsident Putin ein Dekret mit wirtschaftspolitischen Zielen erlassen, die bis zum Ende seiner neuen Amtszeit im Jahr 2024 erreicht werden sollten. Ein Ziel war, Russland zu einer der fünf größten Volkswirtschaften der Welt zu machen. Gemessen werden sollte das an der Höhe des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts laut den Angaben des Internationalen Währungsfonds (siehe Ostexperte.de-Bericht vom Oktober 2018).

Das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt eines Landes wird für zwischenstaatliche Vergleiche ermittelt. Dazu wird das in nationalen Währungseinheiten angegebene Bruttoinlandsprodukt nicht mit dem Wechselkurs, sondern mit der sogenannten „Kaufkraftparität“ („Purchasing Power Parity“) in eine gemeinsame Währung, sogenannte „Internationale Dollar“, umgerechnet.

Die zum Beispiel vom Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank für ein Land errechnete Kaufkraftparität gibt an, wie viele Einheiten der Währung dieses Landes erforderlich sind, um in diesem Land die gleiche Menge von Waren und Dienstleistungen zu kaufen, wie mit einem US-Dollar in den USA gekauft werden können. Ein „Internationaler Dollar“ entspricht also einem US-Dollar.

Ziel der Umrechnung mit Kaufkraftparitäten ist, die Kaufkraft der Währung eines Landes, also Unterschiede im Preisniveau, beim Vergleich des Bruttoinlandsprodukts verschiedener Länder möglichst gut zu berücksichtigen. Eine Umrechnung mit Wechselkursen ist dafür, so erklärt das Statistische Bundesamt, nicht geeignet, „da Wechselkurse nicht nur von Kaufkraftunterschieden beeinflusst werden, sondern auch von Kapitalflüssen zwischen Staaten und Währungsspekulationen“.

Von 2015 bis 2019 lag Russland knapp hinter Deutschland auf Platz 6

Der IWF bietet in seiner „World Economic Outlook Database“ Informationen zur Entwicklung des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts in seinen Mitgliedsländern.

Wie hat sich Russlands kaufkraftbereinigtes Bruttinlandsprodukt im Vergleich mit Deutschland entwickelt? Und welche Entwicklung prognostiziert der IWF bis 2021? Die folgende Tabelle zeigt die Berechnungen und Prognosen des IWF.

Quelle: Internationaler Währungsfonds: World Economic Outlook Database; April 2020

2018, als Putin sein Dekret erließ, war Russlands kaufkraftbereinigtes BIP mit 4.258 Milliarden Internationalen Dollar nur 2,0 Prozent niedriger als das deutsche. Im weltweiten Vergleich lag Russland damit auf Rang 6, nur einen Rang hinter Deutschland. In den Jahren 2011 bis 2014 hatte sich Russland auch schon 4 Jahre lang vor Deutschland platzieren können.

2019 holte Russland gegenüber Deutschland weiter auf. Sein kaufkraftbereinigtes BIP war mit 4.390 Milliarden Internationalen Dollar nur noch 1,2 Prozent niedriger als das Deutschlands (siehe auch Abbildung von de.statista.com). Größte Volkswirtschaft der Welt – gemessen am kaufkraftbereinigten BIP – war 2019 China. Es folgten die USA, Indien und Japan vor Deutschland und Russland. 15 Prozent hinter Russland lag Indonesien auf Rang 7.

2020 verdrängt Russland laut IWF-Prognose Deutschland von Rang 5

Im April 2020 gab der IWF in der Datenbank zu seinem „World Economic Outlook“ auch eine Vorausschau auf die internationale Entwicklung des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts für die Jahre 2020 und 2021.

Der IWF ging dabei im April davon aus, dass 2020 Russlands unbereinigtes reales Bruttoinlandsprodukt um 5,5 Prozent sinken werde, das deutsche aber noch stärker um 7 Prozent (siehe IWF-Chart). Kaufkraftbereinigt werde Russland bei dieser Entwicklung in der Rangliste des Bruttoinlandsprodukts 2020 auf den fünften Platz vorrücken, rechnete der IWF im Frühjahr aus (siehe auch Statista). Russlands kaufkraftbereigtes Bruttoinlandsprodukt werde 2020 mit 4.176 Milliarden Internationalen Dollar 0,4 Prozent höher sein als das deutsche mit 4.161 Milliarden Internationalen Dollar (siehe auch IWF-Tabelle). Bestätigt sich diese Prognose des IWF vom April, wird die russische Regierung also schon 2020 ihr Ziel erreichen, allerdings nur sehr knapp.

Mitte Oktober veröffentlicht der IWF neue Prognosen

Im Juni aktualisierte der IWF in seinem „World Economic Outlook Update“ nur seine Prognosen für die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts, nicht die des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts. Er rechnet in seiner Juni-Prognose in Russland, aber auch in Deutschland mit einem noch stärkeren Einbruch des unbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts als in der Prognose vom April.

Dabei geht der IWF in seiner Juni-Prognose weiterhin davon aus, dass der BIP-Rückgang in Deutschland noch schärfer sein wird (- 7,8 Prozent) als in Russland (- 6,6 Prozent). Das spricht für die Prognose des IWF vom April, dass Russlands kaufkraftbereinigtes BIP 2020 höher sein wird als das deutsche (aber nicht weil die russische Wirtschaft schneller wächst als die deutsche, sondern weil sie langsamer schrumpft). Neue Prognosen für die Entwicklung des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts wird der IWF zu seiner Jahrestagung (12. – 18. Oktober) veröffentlichen.

Auch wenn man den jüngsten Prognosen der russischen und der deutschen Regierung folgt, ist 2020 in Deutschland ein stärkerer Rückgang des BIP als in Russland zu erwarten. Bundeswirtschaftsminister Altmaier teilte am 02. September mit, Deutschlands Wirtschaftsleistung werde in diesem Jahr voraussichtlich um 5,8 Prozent sinken. Das russische Wirtschaftsministerium geht laut Presseberichten in seiner neuen Prognose für die Haushaltsplanung davon aus, dass das BIP nur um 3,9 Prozent abnimmt, also fast zwei Prozentpunkte weniger als das deutsche.

Putins Juli-Dekret überraschend ohne „TOP 5-Ziel“

Im Juli 2020 erließ Präsident Putin ein neues Dekret mit wirtschaftspolitischen Zielen für 2030. Darin wurde das Ziel, dass Russland zu den fünf größten Volkswirtschaften gehören sollte, nicht mehr genannt.

André Ballin berichtete dazu in „Der Standard“:

„Im Gegensatz zu früheren großen Ankündigungen über neue Strategieprogramme fast im Vorbeigehen und ohne größere mediale Beleuchtung unterzeichnete Putin ein neues Dekret zur nationalen Entwicklung bis 2030, das die bisherigen bis 2024 geltenden Strategiepapiere ersetzt.

Im Prinzip hat Putin damit wichtige Teile der Strategie eingedampft oder aufgeschoben. Statt neun strategischer Ziele werden nur noch fünf genannt. Unter anderem nimmt Russland von der Idee Abstand, sich in die globalen Top 5 der Volkswirtschaften einzureihen. Kremlsprecher Dmitri Peskow begründete das Verschwinden des Programmpunkts mit der “ungünstigen internationalen Konjunktur”.

Auch laut der „Moscow Times“ verwies der Kremlsprecher auf die “highly, highly unfavorable global economic conditions“ als Grund für die Aufgabe des Zieles. Eher hätte man annehmen können, dass dieses Ziel nicht mehr genannt wurde, weil es 2020 voraussichtlich erreicht werden dürfte.

Als Wachstumsziel für die russische Wirtschaft wird im neuen Dekret Putins jetzt angestrebt, dass die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts „bei Wahrung der makroökonomischen Stabilität“ im weltweiten Vergleich „überdurchschnittlich“ sein soll.

Oreshkin: Russland soll zu den „TOP-5“ gehören

Der ehemalige Wirtschaftsminister Maxim Oreshkin, der jetzt Wirtschaftsberater Präsident Putins ist, stellte Ende August bei einem Jugendforum laut RT.com aber klar, dass die russische Regierung das Ziel, zu den fünf größten Volkswirtschaften zu gehören, nicht aufgegeben hat. Er meint, wenn Russland künftig sein Ziel erreiche, im weltweiten Vergleich überdurchschnittlich stark zu wachsen, werde es einen Platz in der Gruppe der fünf größten Volkswirtschaften halten können. Oreshkin verwies auf die Prognose des IWF, dass Russland 2020 Rang 5 erreicht. Er fügte aber hinzu, dass es erforderlich sei, die Position der russischen Wirtschaft künftig weiter zu festigen.

2021 ist laut IWF aber Deutschland wieder auf Platz 5

Das Ziel, ein im weltweiten Vergleich überdurchschnittlich starkes Wachstum zu erreichen, dürfte der Präsidentenberater vermutlich auch deswegen betont haben, weil Russland laut der IWF-Prognose vom April den fünften Platz in der „Weltrangliste“ bereits 2021 wieder an Deutschland verlieren wird (siehe auch Statista). Dann wird Russlands kaufkraftbereinigtes BIP laut IWF wieder 1,2 Prozent niedriger sein als das deutsche (wie 2019).

Und auf längere Sicht rückt Indonesien vor

In einigen Jahren dürfte außerdem Indonesien, wo die Bevölkerung noch stark wächst, sowohl Russland als auch Deutschland in der Liste der größten Volkswirtschaften überholen. Laut Prognosen des Angus Maddison-Projektes der Universität Groningen wird Indonesien schon 2024 auf Platz 5 vorrücken (siehe Video zur Veränderung der Rangfolge der 20 größten Volkswirtschaften im Zeitraum 1800 bis 2040).

Die Weltbank errechnet 8 Prozent niedrigeres kaufkraftbereinigtes BIP

Für Verwirrung bei internationalen Vergleichen des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts sorgt oft, dass die Weltbank bei ihren Berechnungen des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts zu deutlich anderen Ergebnissen kommt als der IWF (siehe Vergleich der Angaben von IWF und Weltbank in der russischen Wikipedia). Offenbar können sich diese beiden führenden internationalen Wirtschaftsorganisationen nicht auf ein gemeinsames Verfahren zur Kaufkraftbereinigung des Bruttoinlandsprodukts einigen.

Laut der Weltbank war Russlands kaufkraftbereinigtes BIP im Jahr 2019 mit 4,282 Billionen Internationalen Dollar 8,1 Prozent niedriger als das deutsche (4,66 Billionen Internationale Dollar). In der Datenbank der Weltbank lässt sich dazu auch eine Abbildung erstellen. Laut IWF betrug der Rückstand hingegen nur 1,2 Prozent.

Analysten sehen Konjunktur deutlich weniger optimistisch als Oreshkin

Oreshkin geht laut einem gazeta.ru-Bericht zu seinen Äußerungen auf dem Jugendforum davon aus, dass die russische Wirtschaft bereits 2021 den Rückgang der Produktion im Jahr 2020 durch eine entsprechend starke Erholung ausgleichen wird. Dafür seien, so Oreshkin, auch keine zusätzlichen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft erforderlich. Auch die Beschäftigungslage wird sich nach Einschätzung Oreshkins 2021 erholen, berichtet RT.

Aktuelle Umfragen bei Analysten lassen eine weniger optimistische Einschätzung der Konjunktur erkennen. Umfragen von Reuters und Interfax zeigten zuletzt allerdings zum Teil gegenläufige Trends. Laut der Ende August veröffentlichten Reuters-Umfrage wird für das Jahr 2020 jetzt mit einem stärkeren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts gerechnet (- 4,7 Prozent) als in der Juli-Umfrage (- 4,3 Prozent). Die Interfax-Umfrage lässt hingegen jetzt nur noch einen Rückgang um 4,0 Prozent für 2020 erwarten nach – 4,2 Prozent im Monat zuvor.

Auch laut der Interfax-Umfrage ist im nächsten Jahr bei einem Wachstum von 2,9 Prozent aber nicht zu erwarten, dass der Rückgang im Jahr 2020 um 4,0 Prozent ausgeglichen wird. Laut der Reuters-Umfrage wird der diesjährige Rückgang um 4,7 Prozent im nächsten Jahr bei einem Wachstum um 3,2 Prozent sogar nur zu rund zwei Dritteln ausgeglichen.

Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank geht in einer neuen Prognose für das laufende Jahr jetzt zwar auch von einem weniger starken Rückgang der Produktion aus (- 4,0 Prozent statt bisher – 4,5 Prozent). Für das nächste Jahr erwartet das VEB-Institut jetzt aber eine noch schwächere Erholung (+2,3 Prozent) als bisher (+2,5 Prozent).

Auch Daria Orlova, Russland-Expertin der Dekabank, geht in ihrem am Freitag veröffentlichten Monatsbericht zur russischen Wirtschaft in den „Emerging Markets Trends“ davon aus, dass der diesjährige Produktionsrückgang, den sie jetzt nur noch auf 4,6 Prozent veranschlagt (bisher – 5,6 Prozent), im nächsten Jahr bei einem Wachstum um 3,3 Prozent nur zu rund zwei Dritteln ausgeglichen wird.

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Titelbild: ID1974 / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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„Juli-Dekret“ Präsident Putins zu nationalen Entwicklungszielen Russlands bis 2030

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Einkaufsmanager-Indizes: Kombinierter PMI im August auf 57,3 Punkte gestiegen

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Entwicklung des Rubelkurses

Konjunkturberichte Juli 2020 von Zentralbank, Wirtschaftsministerium und Rosstat

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (wöchentlich, monatlich, vierteljährlich)

Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland