Wachstumsflaute setzt russische Fiskalpolitik unter Druck

Eingetrübte Wachstumserwartungen

Die russische Wirtschaft wird 2019 deutlich schwächer als 2018 wachsen. Gleichzeitig vezeichnen der Föderationshaushalt und der staatliche Gesamthaushalt seit 2018 hohe Überschüsse. Kritiker werfen der Regierung deswegen vor, sie bremse mit einer restriktiven Fiskalpolitik das ohnehin schwache Wachstum.

Seit Anfang Juli wurden einige Wachstumsprognosen für die russische Wirtschaft erneut gesenkt. So nahm das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) seine Prognose um 0,5 Prozentpunkte auf 1,3 Prozent zurück. Die Alfa Bank, die führende russische Privatbank, bestätigte ihre pessimistische Einschätzung, dass die Wirtschaft in diesem Jahr noch deutlich schwächer um nur 0,8 Prozent wachsen dürfte. So skeptisch sieht die Frankfurter DekaBank der deutschen Sparkassen die Perspektiven zwar nicht. Sie notiert in der Juli-Ausgabe der „Emerging Markets Trends“ aber auch „Abwärtsrisiken“ für ihre bisherige Prognose von 1,1 Prozent.

Analystin Daria Orlova schreibt:

„Die Einkaufsmanagerindizes haben im Juni ihren Abwärtstrend fortgesetzt, passend zu der globalen Entwicklung, und liegen nun beide unterhalb der Kontraktionsmarke von 50 Punkten. Der negative Effekt der Mehrwertsteueranhebung ist in der Wirtschaft somit angekommen. Gleichzeitig lassen die positiven Effekte der „Nationalen Projekte“ (staatl. Investitionsvorhaben zur Wachstumsförderung), für die die Steuermehreinnahmen verwendet werden sollen, aufgrund der hohen bürokratischen Hürden auf sich warten.“

Wachstumsprognosen 2019 bis 2021
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 201920202021
Helaba, Frankfurt12.07.191,71,7
OPEC, Wien11.07.191,41,4
DekaBank, Frankfurt09.07.191,11,6
WIIW, Wien04.07.191,31,71,9
Alfa Bank, Moskau02.07.190,81,2
FocusEconomics
Consensus Forecast
02.07.191,41,81,8
Berenberg Bank, Hamburg01.07.191,31,7
Reuters Umfrage28.06.191,2
Commerzbank, Frankfurt28.06.191,51,2
Unicredit, Mailand27.06.191,21,0
RIA Rating24.06.191,3
Danske Bank, Kopenhagen20.06.191,31,82,4
Economist Intelligence Unit19.06.191,51,71,7
Ifo Institut, München18.06.191,01,5
Fitch Rating17.06.191,21,91,9
 

Russische Zentralbank, Basisszenario

14.06.191,0 bis 1,5
Urals 65 $/b
1,8 bis 2,3
Urals 60 $/b
2,0 bis 3,0
Urals 55 $/b
DIW Berlin13.06.191,51,9
IfW Kiel13.06.191,31,6
 

Weltbank;
Global Economic Prospects

04.06.191,21,81,8

 

Wie Russland aus der Rezession kam

Wie sich Russland in den letzten 3 Jahren aus der Rezession im Jahr 2015 (- 2,3 Prozent) herausgearbeitet hat, illustrierte BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, am letzten Freitag mit einer neuen Abbildung. Sie zeigt die vierteljährliche Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion und ihrer Verwendung für Verbrauch, Investitionen und Export vom ersten Quartal 2014 bis zum ersten Quartal 2019. Deutlich wird, dass vor allem der private Verbrauch noch kräftig wachsen muss, um wieder den Stand vor der Rezession zu erreichen.

Saisonbereinigte Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts, der Importe und der Nachfrage (Exporte, Öffentlicher Verbrauch, Privater Verbrauch, Anlageinvestitionen) 2014 bis 2019

BOFIT (Bank of Finland): Russian economic growth driven almost exclusively by private consumption; BOFIT Weekly, 12.07.2019; BOFIT: Twitter-Meldung: Chart-Adresse: https://pbs.twimg.com/media/D_RHVR2UcAYwDKU.png

Saisonbereinigt sank das BIP zuletzt schon wieder

Die Abbildung zeigt auf der linken Seite, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion, das reale Bruttoinlandsprodukt (GDP=gross domestic product), erst Anfang 2018 den Rückgang in der letzten Rezession ausgeglichen hat und das 2014 erreichte Niveau (Indexwert 100) überschritt. Nach einem Anstieg um 2,3 Prozent im Jahresdurchschnitt 2018 übertraf das BIP im ersten Quartal 2019 das ein Jahr zuvor erreichte Niveau allerdings nur noch um 0,5 Prozent.

Vom vierten Quartal 2018 zum ersten Quartal 2019 ist das Bruttoinlandsprodukt nach ersten Berechnungen der Statistikbehörde Rosstat saisonbereinigt sogar um 0,4 Prozent gesunken. Angesichts der jüngsten Konjunkturdaten für April und Mai sowie erster Signale für Juni (Rückgang der Einkaufsmanagerindizes) halten einige Beobachter im zweiten Quartal 2019 einen weiteren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion für möglich. Für viele würde Russland damit in eine erneute Rezession abgleiten.

Nur die Exporte sind deutlich höher als vor fünf Jahren

Leicht gesunken sind im ersten Quartal 2019 gegenüber dem Vorquartal auch die realen Ausfuhren (blaue Linie). Sie waren zuletzt auch etwas niedriger als vor einem Jahr. Dank eines sehr kräftigen Anstiegs in den Jahren 2016 und 2017 haben sie sich seit 2014 aber um fast 20 Prozent erhöht und stützten so die Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

Der private Verbrauch ist noch rund 5 Prozent niedriger als 2014

Das größte volkswirtschaftliche Nachfrageaggregat, der Verbrauch der privaten Haushalte (rote Linie), erholt sich nach einem tiefen Einbruch um rund 12 Prozent gegenüber dem Niveau im Jahr 2014 erst seit Mitte 2016 wieder. Er stieg dabei zwar langsamer als die Anlageinvestitionen (grüne Linie). Während die Anlageinvestitionen zeitweilig aber wieder sanken, verlief die Erholung des privaten Verbrauchs bisher relativ stetig.

BOFIT macht jedoch darauf aufmerksam, dass die realen Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte Anfang 2019 noch rund 5 Prozent niedriger waren als im Jahresdurchschnitt 2014. Der tiefe Einschnitt in das Konsumniveau in der letzten Rezession im Jahr 2015 konnte bisher nur gut zur Hälfte ausgeglichen werden.

Im ersten Quartal 2019 verlangsamte sich nach der Erhöhung der Mehrwertsteuer der Anstieg des privaten Verbrauchs laut BOFIT zudem bereits wieder auf rund 1,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Überdies deutet der schwache Anstieg des realen Einzelhandelsumsatzes in den letzten Monaten darauf hin, dass sich das Wachstum des privaten Verbrauchs im zweiten Quartal noch weiter abschwächte. Im April war der Einzelhandelsumsatz real nur 1,2 Prozent höher als vor einem Jahr, im Mai 1,4 Prozent.

Der öffentliche Verbrauch (violette Linie) hat zwar schon Anfang 2017 wieder das Niveau des Jahres 2014 erreicht. Seitdem ist er aber kaum erhöht worden.

Streitpunkte: Verbraucherverschuldung und staatliche Haushaltspolitik

Diese Entwicklung der volkswirtschaftlichen Nachfrageaggregate bildet den Hintergrund für zwei aktuelle Streitfragen der russischen Konjunkturpolitik.

Zum einen wird, insbesondere von Wirtschaftsminister Oreschkin, beklagt, dass selbst die langsame Erholung des realen privaten Verbrauchs wegen des Rückgangs der verfügbaren Einkommen nur möglich war, weil sich die Verbraucher zunehmend verschuldeten. Oreschkin sieht – anders als Zentralbankpräsidentin Nabiullina – in der steigenden Verschuldung der Verbraucher hohe Risiken für die Konjunktur (siehe Ostexperte.de-Bericht zur Diskussion der beiden beim Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg und Lesetipps am Schluss dieses Artikels).

Zum anderen wird angesichts der Konjunkturflaute und der bisher sehr schwachen Steigerung des öffentlichen Vebrauchs die aktuelle Ausrichtung der russischen Fiskalpolitik zunehmend in Frage gestellt. Die Meinungen zu ihr sind sehr geteilt.

wiiw: Russlands Fiskalpolitik ist „restriktiv“

Vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche kamen kürzlich besonders deutliche Vorwürfe an die Adresse der russischen Regierung. In der Zusammenfassung eines Forschungsberichts des wiiw („Osteuropa trotzt dem globalen Gegenwind“) konnte man lesen:

„In Russland (…) hat der restriktive fiskalpolitische Kurs die Wirtschaft an den Rand einer Rezession gebracht.“ (siehe Ostexperte.de vom 05.07.2019)

Die österreichische Zeitung „Kurier“ berichtete, wiiw-Experte Vasily Astrov habe anlässlich der Vorlage der Sommerprognose des Instituts auch die Geldpolitik als einen Grund für die jahrelange Stagnation der russischen Wirtschaft genannt. Finanzminister und Notenbank stünden in Russland „extrem auf der Bremse“, heißt es im Kurier. Das Hauptziel dieser Politik sei laut Astrov, die Widerstandsfähigkeit und Unabhängigkeit Russlands gegenüber dem Ausland zu steigern.

Weltbank: Russlands Fiskalpolitik ist „konservativ“

Beim Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und den Rating-Agenturen fanden die russische Geld und Finanzpolitik hingegen bisher viel Anerkennung. Apurva Sanghi, leitender Volkswirt für Russland der Weltbank, meinte zum Beispiel bei der Veröffentlichung des „Russia Economic Report“ der Weltbank im Juni laut einer Pressemeldung der Weltbank, Russland verfüge mit seinen Haushaltsüberschüssen auf allen Ebenen und der niedrigen öffentlichen und außenwirtschaftlichen Verschuldung weiterhin über starke „makro-fiskalische Puffer“. Dies stehe im Kontrast zur Situation in den meisten anderen Volkswirtschaften (siehe Ostexperte.de). Die Weltbank umschreibt Russlands Fiskalpolitik mit dem Begriff „konservativ“.

DekaBank: Russlands Fiskalpolitik ist „stabilitätsorientiert“

Daria Orlova, Analystin der DekaBank, bezeichnet die russische Fiskalpolitik als „stabilitätsorientiert“. Sie merkt in ihrem Juli-Bericht zur Konjunktur in Russland aber auch an, das kraftlose Wachstum und die schwache Einkommensentwicklung erhöhten den Druck auf die russische Führung, die Wirtschaft zusätzlich fiskalisch zu unterstützen. Unter der Schlagzeile „Wohin mit dem Reservefonds?“ spricht sie die Frage an, ob weitere Öleinnahmen des Staates künftig nicht mehr gespart, sondern für Infrastrukturausgaben verwendet werden sollen:

„Die fiskalische Regel, nach der die Öleinnahmen des Staatshaushaltes aus Ölpreisen oberhalb von 40 USD/Barrel in den Reservefonds fließen, dürfte auf den Prüfstand kommen. Die vorgeschriebene Mindestgrenze des Reservefonds von 7% des BIP in liquiden Aktiva ist erreicht und es ist nicht geregelt, was mit den Reservefondsmitteln darüber hinaus passieren soll.

Orlova skizziert die Positionen von Zentralbank und Finanzministerium:

  • „Die Zentralbank befürchtet eine inflationäre Wirkung der zusätzlichen Staatsausgaben, falls der Reservefonds bspw. in Inlandsinfrastruktur investiert und hat eine Anhebung der Schwelle für die liquiden Assets vorgeschlagen.“
  • „Das Finanzministerium will die inflationären Effekte umgehen, indem auch der weniger liquide Teil der fiskalischen Reserven im Ausland investiert wird.“

Die Analystin hält eine „vollständige Abkehr“ von der bisherigen „stabilitätsorientierten Fiskalpolitik“ der Regierung für „sehr unwahrscheinlich“. Eine Lockerung der Fiskalpolitik ist für sie aber offenbar vorstellbar. Ob die stabilitätsorientierte Politik angesichts der sinkenden Popularitätswerte des Präsidenten auch in Zukunft strikt eingehalten würde, würden die Diskussionen zeigen, schreibt sie.

Haushaltsüberschüsse 2018 waren viel höher als geplant

Die russische Zentralbank analysierte in ihrem Ende Juni veröffentlichten „Monetary Policy Report“ die Entwicklung des staatlichen Gesamthaushalts und des föderalen Haushalts bis Mai 2019.

Nach der Rezession 2015 ist das Defizit im föderalen Haushalt 2016 auf 3,4 Prozent des BIP gestiegen. 2017 konnte es auf 1,4 Prozent verringert werden. 2018 schloss der föderale Haushalt dann mit einem unerwartet hohen Überschuss von 2,6 Prozent des BIP. Der gesamtstaatliche Haushaltsüberschuss erreichte im letzten Jahr sogar 2,9 Prozent.

Quelle: Zentralbank: Monetary Policy Report, S. 46; 24.06.2019

Geplant hatte die Regierung den hohen Überschuss von 2,6 Prozent des BIP im Föderalhaushalt im Jahr 2018 nicht. In der vor gut einem Jahr Ende Mai 2018 eingebrachten Aktualisierung des Haushaltsgesetzes für 2018 ging die Regierung jedenfalls lediglich von einem Überschuss von 0,5 Prozent des BIP aus (siehe Janis Kluge, Stiftung Wissenschaft und Politik: Russlands Staatshaushalt unter Druck; Juli 2018).

Im Ergänzungsgesetz für den Haushalt 2019, das die Duma Mitte Juni in erster Lesung annahm, ist vorgesehen, dass der Überschuss im Föderationshaushalt 2019 auf 1,7 Prozent des BIP sinkt.

Zentralbank-Prognose: Ende 2019 stärkt die Fiskalpolitik die Nachfrage

In den ersten fünf Monaten 2019 stieg der Überschuss laut Zentralbank weiter. Im Zeitraum Juni 2018 bis Mai 2019 betrug er im föderalen Haushalt 3,1 Prozent des BIP.

Die Zentralbank meint dazu, in den ersten Monaten des Jahres 2019 habe die Fiskalpolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage noch gedämpft. Die Ausgaben für Investitionen im staatlichen Gesamthaushalt seien von Januar bis April nominal nur 3,1 Prozent höher gewesen als im Vorjahr.

Im dritten und vierten Quyartal werde der „fiskalische Impuls“ nach ihren Schätzungen jedoch allmählich „den positiven Bereich“ erreichen. Ende 2019 werde die Fiskalpolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stärken, was teilweise der Erfüllung der „nationalen Ziele“ und der Verwirklichung der „prioritären Projekte“ zu verdanken sein werde.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Umweltproteste in St. Petersburg. Auf dem Schild steht: “Ihr habt auch keinen zweiten Planeten”. Foto: Alexander Yakimov / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps

Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2019

Konsumentenverschuldung – Streit zwischen Oreschkin und Nabiullina

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (meist monatlich, vierteljährlich)

Preisentwicklung und Geldpolitik

Präsentationen im Investoren-Programm der Zentralbank in Englisch

Sonstige Veröffentlichungen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann seit Ende Mai 2019:

Klaus Dormann: Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
Veröffentlichung des Deutsch-Russischen Wirtschaftsclubs Düsseldorf; 38 Seiten, 02.06.2019