Streit über Russlands Geldpolitik: Diskussion auf VTB-Investment-Forum

Über die neuesten Wachstumserwartungen und die kontroverse Leitzinspolitik Russlands

Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit machen der russischen Regierung derzeit viel weniger Sorgen als die stark gestiegene Inflation. Das wurde auch beim Investment-Forum „Russia Calling“ der VTB Bank am 30. November deutlich. Präsident Putin beteiligte sich virtuell an der Konferenz: mit einem ausführlichen Redebeitrag und der Beantwortung von Fragen.

Besondere Aufmerksamkeit fand eine kontroverse Diskussion über die russische Geldpolitik zwischen Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina und Oleg Deripaska. Der Gründer und Eigentümer von „Basic Element“, einer der größten russischen Industriegruppen, kritisiert die starke Erhöhung des Leitzinses durch die Zentralbank.

Baldige Abschwächung des Wirtschaftswachstums zu erwarten

Wenn sich Prognosen der Weltbank in ihrem halbjährlich erscheinenden „Russia Economic Report“ als richtig erweisen, dürfte bald auch die Wachstumsschwäche der russischen Wirtschaft wieder mehr diskutiert werden. Die Weltbank erwartet zwar weiterhin, dass Russland 2021 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 4,3 Prozent erreicht. Sie senkte aber ihre Wachstumsprognose für 2022 von 2,8 Prozent auf 2,4 Prozent und rechnet für 2023 mit einer weiteren Abschwächung auf nur noch 1,8 Prozent.

Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, die für 2021 auch ein Wachstum von 4,3 Prozent erwartet, sieht die weitere Produktionsentwicklung noch deutlich  skeptischer, Sie meint, die russische Wirtschaft werde schon im nächsten Jahr nur noch um 1,5 Prozent wachsen.

Deripaska und Nabiullina stritten über Zinspolitik der Zentralbank

An der wirtschaftspolitischen Eröffnungsdiskussion des Investment-Forums „Russia Calling“ der VTB-Bank beteiligten sich am 30. November auch Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina und der Industrielle Oleg Deripaska. Der „Oligarch“ (Vermögen laut Forbes: 4,3 Milliarden US-Dollar) hatte bereits früher verschiedentlich Kritik an Maßnahmen der Zentralbank geübt. Laut TASS trat er jedoch beim VTB-Forum erstmals gemeinsam mit der Zentralbankpräsidentin in einer öffentlichen Diskussion auf.

Deripaska: Bei den aktuellen Zinsen wächst das Angebot nicht

Deripaska kritisierte beim Forum erneut die Zinserhöhungen der Zentralbank.Zur Verringerung der Inflation es erforderlich, das Angebot an Gütern auszuweiten. Zinserhöhungen verhinderten aber Investitionen. Wenn man mit Leuten aus dem Logistik-Bereich rede, sagten sie einem gewöhnlich, dass es zu den von der Zentralbank beschlossenen Zinsen kein Wachstum auf der Angebotsseite geben werde. Bereits Anfang August hatte Deripaska laut Vedomosti der Zentralbank vorgeworfen, mit ihren Zinserhöhungen die Grundlagen für ein langfristiges Wachstum der russischen Wirtschaft zu unterhöhlen.

Mit dem Kurs der Politik Finanzminister Siluanows zeigte er sich beim Investment-Forum einverstanden. Die russische Wirtschaft „brauche aber mehr Geld“, um ein im weltweiten Vergleich überdurchschnittliches Wachstum zu erreichen. Er wies auf die unterschiedliche Entwicklung in Moskau und den Regionen hin. Kapital fließe aus den Regionen ab. Um das Wachsum zu fördern, schlug er vor, versuchsweise Kredite für Investitionen in Sibirien und im Fernen Osten Russlands zu subventionieren (Video ab Min. 29). Insbesonders der Logistik-Bereich (Eisenbahnen) sollte gefördert werden.

Nabiullina: Investitionen hängen nicht vor allem von den Leitzinsen ab

Zentralbankpräsidentin Nabiullina hielt den Vorwürfen Deripaskas entgegen, die Höhe der Zinsen für langfristige Kredite, die hauptsächlich zur Ausweitung der Produktion erforderlich seien, würden nicht so sehr durch die Zinspolitik der Zentralbank beeinflusst. Die Höhe der Zinsen würde vor allem durch die Erwartungen der Banken und Finanzmärkte hinsichtlich der Preisentwicklung in den nächsten fünf oder zehn Jahren bestimmt. Wenn die Banken zur Einschätzung kämen, dass die Zentralbank die Inflation nicht bekämpfe und es künftig starke Preissteigerungen geben werde, erhöhten sie ihre langfristigen Kreditzinsen um einen „Inflationsaufschlag“. Das habe sich auch in den 2000er Jahren gezeigt, als der Leitzins ziemlich niedrig war, die Zinsen für langfristige Kredite aber viel höher als heute waren (Video ab Minute 37).

Nabiullina fügte hinzu, Kredite seien für die Unternehmen ohne Zweifel eine wichtige Finanzierungsquelle. Am wichtigsten für Investitionen sei aber die Einbringung von Eigenkapital. Wenn Unternehmen ihre Gewinne nicht investierten, dürfte die Ursache dafür wahrscheinlich nicht nicht nur die Höhe der Kreditzinsen sein. Alles auf die Leitzinsen zu reduzieren sei eine unzulässige Vereinfachung, meinte Nabiullina. Das berichtet Vedomosti.

Die Zentralbankpräsidentin warnte auch davor, höhere staatliche Subventionen für Kredite zu fordern. Dies würde zu einer strengeren Geldpolitik führen. Wenn man die Kreditbedingungen für fast jeden günstiger gestalten wolle, bliebe weniger Raum für eine Budgetpolitik, die mit Zinssubventionen strukturpolitische Ziele verfolge. Das müsse man abwägen. Die Geldpolitik und die Haushaltspolitik seien miteinander verbunden. Das müsse man sorgfältig im Auge behalten.

Finanzminister Siluanow: „Moderat feste“ Haushaltspolitik ist „der Anker“

Finanzminister Siluanow hatte einleitend Grundlinien seiner Politik umrissen (Video, ab Min. 19): Erforderlich für eine stabile Wirtschaft seien eine „moderat feste Haushaltspolitik“ mit einem ausgeglichenen Budget und niedrige Zinsen. Die Haushaltspolitik sieht er als „Anker“ für diese Konzeption, so berichtet auch Finmarket.ru. Die Gestaltung der Haushaltspolitik sei sehr wichtig für die Vorhersehbarkeit vieler gesamtwirtschaftlicher Parameter, zum Beispiel der Entwicklung von Preisen und und Wechselkursen.

Die Aktivität der Wirtschaft sollte, so der Finanzminister, nicht durch die Verteilung von Geld aus dem Staatshaushalt angeregt werden, sondern mit zinsgünstigen Krediten. Die Regierung könne aber nicht für alle Sektoren der Wirtschaft Zinssubventionen gewähren, sondern müsse zielorientiert vorgehen. Er sei sicher, dass so das Vertrauen der Investoren gewonnen werde.

Nabiullina bei der AEB: Steigende Preise erforderten höhere Leitzinsen

Am 29. November, einen Tag vor dem VTB-Forum, hatte die Zentralbankpräsidentin auf Einladung der „Association of European Businesses, AEB“ auch mit Vertretern europäischer Unternehmen ihre Geldpolitik diskutiert. AEB-CEO Tadzio Schilling hob hervor, die Zentralbank habe 2020 vor allem mit der Senkung des Leitzinses einen wichtigen Beitrag zur Erholung der russischen Wirtschaft geleistet (AEB-Bericht). Über den Besuch der Zentralbankpräsidentin bei der AEB berichtete auch SNA-Korrespondentin Natalia Pawlowa.

Nabiullina meinte in ihrer Rede bei der AEB, die russische Wirtschaft habe sich nun fast vollständig von der Pandemie erholt. Neue Pandemie-Wellen könnten allerdings zur Einführung neuer Beschränkungen führen. Sie würden die Wirtschaftssektoren unterschiedlich betreffen. Es seien dann gezielte Anti-Krisen-Maßnahmen erforderlich.

Als akutes Problem stellte Nabiullina die Beschleunigung der Inflation heraus. Der Anstieg der Verbraucherpreise sei inzwischen gut doppelt so hoch wie das von der Zentralbank angestrebte Inflationsziel von 4 Prozent. Der verschärfte Preisanstieg habe eine Erhöhung des Leitzinses erfordert. Die Zentralbank erwarte, dass sie an ihrer „rigiden“ Geldpolitik festhalten muss, um die Preissteigerungsrate wieder auf das Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent zu drücken.

Bisher wurde der Leitzins 2021 von 4,25 Prozent auf 7,5 Prozent erhöht

Die folgende Abbildung aus der Anfang Dezember aktualisierten Präsentation der Zentralbank für Investoren zeigt, wie die Zentralbank den Leitzins im Krisenjahr 2020 zunächst zur Stützung der Konjunktur auf 4,25 Prozent senkte (blaue Linie).

Angesichts des beschleunigten Anstiegs der Verbraucherpreise (graue Fläche) erhöhte sie ihn im Verlauf des Jahres 2021 bis zum Oktober wieder auf 7,5 Prozent.

Bank of Russia: Russian Financial Sector – Investor Presentation, November .2021

Der Index der Verbraucherpreise (CPI) stieg im Oktober 2021 im Vorjahresvergleich um insgesamt 8,1 Prozent. Dabei verteuerten sich Lebensmittel (gelbe Linie) um 10,9 Prozent und Nicht-Lebensmittel (blaue Linie) um 8,2 Prozent. Deutlich unterdurchschnittlich stiegen die Dienstleistungspreise (rote Linie) um 4,4 Prozent.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina unterstrich auch in einer Rede bei einer Reuters-Konferenz am letzten Donnerstag, die Notenbank sei angesichts der beschleunigt steigenden Preise sehr in Sorge. In der Woche zum 29. November hat der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise 8,4 Prozent erreicht.

Analysten erwarten weitere Leitzinssteigerung auf 8 Prozent

Bei der nächsten Leitzinsentscheidung am 17. Dezember dürfte laut einer Reuters-Umfrage eine Erhöhung des Zinssatzes von 7,5 auf 8,0 Prozent beschlossen werden.

Nabiullina signalisierte, dass laut dem Basisszenario der Notenbank maximal eine Anhebung um einen Prozentpunkt möglich sei. Sie betonte, die Zentralbank plane nicht, ihr Inflationsziel von vier Prozent anzuheben. Sie hält es laut Reuters weiterhin für realistisch, dass die Inflationsrate bis Ende 2022 auf 4,0 bis 4,5 Prozent fällt.

Die Weltbank erwartet einen schwächeren Rückgang der Inflation als die Zentralbank

Für den Jahresdurchschnitt 2021 rechnet die russische Zentralbank mit einer Beschleunigung des Anstiegs der Verbraucherpreise auf 6,5 bis 6,6 Prozent. Die Inflationsrate wäre damit fast doppelt so hoch wie Im Krisenjahr 2020 (3,4 Prozent). 2022 erwartet die Zentralbank einen Rückgang des durchschnittlichen Preisanstiegs auf 5,2 bis 6,0 Prozent.

Die Weltbank rechnet in ihrem neuen halbjährlichen „Russia Economic Report“ mit einem schwächeren Rückgang der Inflationsrate von 6,6 Prozent im Jahr 2021 auf 6,2 Prozent im Jahr 2022 (letzte Zeile der folgenden Tabelle).

Dabei geht die Weltbank von einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums von 4,3 Prozent im Jahr 2021 auf 2,4 Prozent im nächsten Jahr aus. Das sind Werte, die fast in der Mitte der Prognosespannen der Zentralbank für das Wirtschaftswachstum liegen (2021: 4 bis 4,5 Prozent; 2022: 2,0 bis 3,0 Prozent).

World Bank: Russia Economic Report, No. 46; 01.12.2021

Weitgehende Einigkeit: 2022 nur noch rund 2,5 Prozent Wachstum

Die stark gestiegenen Infektionszahlen in Russland haben bisher offenbar nur wenige Analysten dazu veranlasst, ihre Wachstumsprognosen für 2021 und 2022 merklich zu senken, obwohl der Einkaufsmanager-Index im Dienstleistungsbereich im November weiter gesunken ist. Das Research-Unternehmen Focus-Economics ermittelte in seiner Anfang Dezember veröffentlichten Umfrage (hauptsächlich bei ausländischen Instituten) erneut, dass sich das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion nach der raschen Erholung im Jahr 2021 (+4,2 Prozent) im nächsten Jahr auf 2,6 Prozent abschwächen dürfte. Die November-Umfragen von Reuters und der Moskauer Higher School of Economics decken sich damit weitgehend. Allein die Alfa Bank erwartet derzeit für 2022 eine deutlich stärkere Abschwächung des Wirtschaftswachstums auf nur noch 1,5 Prozent.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 202120222023
Fitch Ratings03.12.214,42,62,0
Alfa Bank, Moskau03.12.214,31,5
FocusEconomics Consensus02.12.214,22,62,2
Weltbank01.12.214,32,4
Reuters-Umfrage30.11.214,32,5
Eurasian Development Bank25.11.214,12,82,1
Vnesheconombank Institute24.11.214,1

Urals 70 $/b

2,3

Urals 66 $/b

Credit Suisse Investment Outlook23.11.214,52,4
Helaba, Frankfurt23.11.213,72,72,0
ACRA Rating-Agentur, Moskau22.11.214,12,71,9
HSE Consensus Forecast 18.11.214,32,52,2
Economist Intelligence Unit, London16.11.214,22,42,4
DekaBank, Frankfurt12.11.214,22,5
EU-Kommission11.11.213,92,62,2
OPEC, Wien11.11.214,02,7
Sachverständigenrat10.11.215,53,2
Moody’s Rating Agency05.11.214,82,21,5
ING Bank, Amsterdam05.11.214,32,23,0
Interfax Consensus Forecast04.11.214,32,6
EBRD, London04.11.214,33,0
Scope Ratings, Berlin29.10.214,52,7
Sberbank, Moskau28.10.214,4
Russische Zentralbank22.10.214,0 bis 4,5

Urals 70 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 65 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 55 $/b

wiiw Wien20.10.214,03,02,8
Zentralbank-Umfrage14.10.214,32,42,2
Gemeinschaftsdiagnose dt. Institute14.10.214,53,22,1
Internationaler Währungsfonds12.10.214,72,92,0
Russisches Wirtschaftsministerium30.09.214,2

Urals 66,0 $/b

3,0

Urals 62,2 $/b

3,0

Urals 58,4 $/b

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

 

Titelbild
Wirtschaftsforum “Russia Calling” am 30.11.2021. Quelle: Screenshot Video / Kremlin.ru (CC BY 4.0)