Russische Wirtschaft: Wachstumsprognosen für 2021 über 4 Prozent

Zweifel an gesunkenem Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal

Die Corona-Infektionszahlen sind in Russland seit Juni sehr stark gestiegen. Trotzdem blieben die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung relativ moderat – weshalb die Wachstumsprognosen weiterhin positiv sind.

Am 21. Oktober ordnete Präsident Putin zwar einige zusätzliche „arbeitsfreie Tage“ an. Mit einem ähnlich langen und umfassenden „Lockdown“ wie im Frühjahr 2020 ist aber nicht zu rechnen, zumal die vierte Infektionswelle ihren Höhepunkt Anfang November anscheinend überschritten hat (siehe Chart in Corona in Zahlen.de). Die Prognosen für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft sind wegen der relativ geringen Beschränkungen der Produktion der Unternehmen nur vereinzelt gesenkt worden. Ob das Bruttoinlandsprodukt vom zweiten zum dritten Quartal gesunken ist, ist noch umstritten.

HSE-Umfrage: Anstieg der Wachstumsprognose von 4,0 auf 4,3 Prozent

Das Ergebnis der am Donnerstag veröffentlichten Umfrage des Instituts für Konjunkturforschung der Moskauer Wirtschaftsuniversität „Higher School of Economics“ lässt vermuten, dass bisher trotz stark gestiegener Infektionszahlen an den Wachstumserwartungen für 2021 weitgehend festgehalten wird. Im Vergleich mit der Umfrage vor drei Monaten wird mehr Wachstum erwartet.

Die HSE-Umfrage wurde vom 02. bis zum 11. November durchgeführt, also nach Ankündigung der „arbeitsfreien Tage“. Die befragten 26 russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstitute rechnen jetzt für 2021 im Durchschnitt mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 4,3 Prozent. In der letzten Umfrage Ende Juli/Anfang August hatten sie ein niedrigeres Wachstum von 4,0 Prozent für 2021 erwartet.

Die neue Wachstumsprognose der HSE-Umfrage entspricht fast genau den Ergebnissen der Umfrage der Zentralbank von Mitte Oktober (+ 4,3 Prozent) sowie den am Monatswechsel veröffentlichten Umfragen der Nachrichtenagenturen Interfax (+ 4,3 Prozent) und Reuters (+ 4,4 Prozent) sowie des Research-Unternehmens FocusEconomics (+ 4,2 Prozent).

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 202120222023
HSE Consensus Forecast 18.11.214,32,52,2
Economist Intelligence Unit, London16.11.214,22,42,4
DekaBank, Frankfurt12.11.214,22,5
EU-Kommission11.11.213,92,62,2
OPEC, Wien11.11.214,02,7
Sachverständigenrat10.11.215,53,2
Moody’s Rating Agency05.11.214,82,21,5
ING Bank, Amsterdam05.11.214,32,23,0
Interfax Consensus Forecast04.11.214,32,6
EBRD, London04.11.214,33,0
FocusEconomics Consensus02.11.214,22,62,2
Scope Ratings, Berlin29.10.214,52,7
Reuters-Umfrage29.10.214,4
Sberbank, Moskau28.10.214,4
Russische Zentralbank22.10.214,0 bis 4,5

Urals 70 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 65 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 55 $/b

wiiw Wien20.10.214,03,02,8
Zentralbank-Umfrage14.10.214,32,42,2
Vnesheconombank Institute14.10.214,4

Urals 67 $/b

2,4

Urals 60 $/b

Gemeinschaftsdiagnose dt. Institute14.10.214,53,22,1
Internationaler Währungsfonds12.10.214,72,92,0
Russisches Wirtschaftsministerium30.09.214,2

Urals 66,0 $/b

3,0

Urals 62,2 $/b

3,0

Urals 58,4 $/b

Die Inflationsprognose für 2021 hat sich um fast 2 Prozentpunkte erhöht

Am stärksten verändert haben sich in der neuen HSE-Umfrage im Vergleich mit der letzten Umfrage die Inflationserwartungen für 2021 und 2022. Es wird mit deutlich mehr Inflation als bisher gerechnet. Die Verbraucherpreise dürften laut der neuen Umfrage im Dezember 2021 um 7,7 Prozent höher sein als ein Jahr zuvor. Vor drei Monaten war nur mit einem Anstieg der Inflationsrate auf 5,8 Prozent gerechnet worden.

Der folgende Ausschnitt aus einer Tabelle der HSE zu den Prognosen für die Jahre 2021 bis 2027 bietet einen Vergleich der Ergebnisse der jüngsten Umfrage vom 02. bis zum 14. November mit den Ergebnissen der Umfrage vom 27. Juli bis zum 09. August.

Die Tabelle enthält Prognosen für folgende Wirtschaftsindikatoren:

  • Reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in Prozent
  • Arbeitslosenquote in Prozent
  • Anstieg der Verbraucherpreise in Prozent am Jahresende
  • Leitzins der Zentralbank in Prozent im Jahresdurchschnitt
  • Rubel/Dollar-Kurs am Jahresende
  • Urals-Ölpreis, in US-Dollar/Barrel im Jahresdurchschnitt

HSE-Consensus Forecast: Survey of independent experts: high inflation is not forever; 18.11.2021

Im vierten Quartal wird im Durchschnitt weiterhin 3 Prozent Wachstum erwartet

16 Befragte gaben bei der HSE-Umfrage auch Prognosen zur vierteljährlichen Entwicklung ab. Einen deutlichen „Dämpfer“ der Wachstumserwartungen durch die vierte Infektionswelle kann man auch in den Quartalsprognosen nicht erkennen.Für das vierte Quartal 2021 erwarten die Befragten im Durchschnitt wie bei der letzten Umfrage Ende Juli/Anfang August ein Wirtschaftswachstum von 3,0 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal.

Das russische Wirtschaftsministerium teilt diese Erwartung, so die Stellvertretende Ministerin Polina Kryuchkova in einem Interfax-Interview. Das Ministerium halte an seiner Wachstumsprognose von 4,2 Prozent im Jahr 2021 fest. Die arbeitsfreie Woche werde keinen Einfluss auf das Produktionsergebnis im Gesamtjahr haben. Das berichtet Finmarket.ru.

Artem Zaigrin, Chef-Volkswirt der in London ansässigen Börsenfirma „Sova Capital“, meint hingegen, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft wegen der „arbeitsfreien Tage“ und teilweiser Lockdowns im vierten Quartal 2021 im Vergleich zum vierten Quartal 2020 auf 1,7 Prozent verringern dürfte.

Er schätzt, dass die angeordneten Beschränkungen der Aktivitäten der Unternehmen die russische Wirtschaft im Jahr 2021 mehr als 0,3 Prozentpunkte Wachstum kosten dürften. Deswegen erwarte Sova Capital für das Jahr 2021 nur 3,8 Prozent Wachstum. Das berichten FocusEconomics und bne Intellinews.

Das Inflationsziel von 4 Prozent wird erst im zweiten Quartal 2023 erreicht

Trotz der stark gestiegenen Inflationserwartungen gehen die Analysten in der HSE-Umfrage weiterhin davon aus, dass es der russischen Zentralbank gelingen wird, ihr angestrebtes Inflationsziel von 4 Prozent zu erreichen. Allerdings rechnen sie jetzt damit, dass dies rund ein halbes Jahr länger dauern wird als bisher angenommen wurde. Bei der letzten Umfrage hatten die Analysten schon für das dritte Quartal 2022 einen Rückgang der Inflationsrate auf 4,1 Prozent erwartet. Jetzt erwarten sie für das dritte Quartal 2022 noch eine Inflationsrate von 5,7 Prozent. Das Inflationsziel von 4 Prozent wird laut der jüngsten Umfrage erst im zweiten Quartal 2023 erreicht sein.

Das jährliche Wachstum des BIP verlangsamte sich im dritten Quartal stark

Nach vorläufigen Berechnungen des russischen Statistikamtes Rosstat verlangsamte  sich der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion im dritten Quartal 2021 im Vergleich zum Vorjahresquartal auf 4,3 Prozent. Im zweiten Quartal war das Bruttoinlandsprodukt noch 10,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor als der „Lockdown“ im zweiten Quartal 2020 die Produktion stark einschränkte. Damals sank das Bruttoinlandsprodukt im Vorjahresvergleich um 7,8 Prozent. Die folgende Abbildung des Forschungsinstituts der Vnesheconombank zeigt den starken Rückgang der jährlichen Wachstumsrate vom zweiten zum dritten Quartal 2021.

Reales Bruttoinlandsprodukt

Veränderungen gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“; 19.11.2021

Ist das BIP vom zweiten zum dritten Quartal 2021 gesunken?

Berechnungen, wie sich das reale Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt vom zweiten zum dritten Quartal 2021 entwickelt hat, veröffentlichte Rosstat noch nicht. Erste Angaben von Banken und Instituten dazu stimmen nicht völlig überein. Unter anderem legte das VEB-Institut eine erste Schätzung vor. Danach war das BIP im dritten Quartal 0,9 Prozent niedriger als im zweiten Quartal 2021. Die folgende Abbildung des VEB-Instituts lässt einen entsprechenden Rückgang des BIP-Indexes von rund 104 auf rund 103 Indexpunkte erkennen.

Index des realen Bruttoinlandsprodukte
viertes Quartal 2018 = 100; saisonbereinigt

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“; 19.11.2021

Das Moskauer „Centre for Macroeconomic Analysis and Short-term Forecasts“, CMASF, geht in seiner ersten Schätzung von einem Rückgang des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts vom zweiten zum dritten Quartal 2021 um rund 0,4 Prozent aus. Die folgende Abbildung des CMASF zeigt einen Rückgang des Indexes des BIP von 118,2 auf 117,7 Punkte.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts, 2010=100

unbereinigt (blaue Linie) und saisonbereinigt (rote Linie)

CMASF: Analysis of macroeconomic trends; 16.11.2021

Laut Berechnungen von „Sova Capital“ ist das reale Bruttoinlandsprodukt vom zweiten zum dritten Quartal hingegen noch geringfügig um 0,15 Prozent gestiegen. Das berichten FocusEconomics und bne Intellinews.

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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