Russlands Wirtschaft: Weitere Leitzinserhöhung auf 6,75 Prozent

Mit der Konjunkturerholung verschärfte sich der Preisanstieg auf 6,7 Prozent

Nachdem der Anstieg der Verbraucherpreise in Russland im März 5,8 Prozent erreicht hatte, rechneten viele mit einem Rückgang der Inflationsrate im weiteren Jahresverlauf. Bisher kam es anders. Nach einem kurzen Rückgang im April verschärfte sich der Anstieg der Verbraucherpreise. Im August erreichte er 6,7 Prozent. Russlands Zentralbank reagierte auf die beschleunigte Geldentwertung mit mehreren Anhebungen ihres Leitzinses. Ende Juli erhöhte sie ihn sogar um einen ganzen Prozentpunkt auf 6,5 Prozent. Am Freitag hob sie ihn aber nur noch um einen viertel Prozentpunkt an.

Ein Grund für die relativ moderate Erhöhung des Leitzinses dürfte sein, dass das Wachstum der Produktion deutlich schwächer geworden ist. Russlands Wirtschaftsministerium geht in den aktuellen Haushaltsberatungen dennoch davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt 2021 um 4,2 Prozent wachsen wird. Bisher hatte es mit 3,8 Prozent gerechnet.

Leitzins jetzt 6,75 Prozent

Am 08. September teilte die Statistikbehörde Rosstat mit, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat von 6,5 Prozent im Juli auf 6,7 Prozent im August beschleunigt hat. Zwei Tage später hob die russische Zentralbank ihren Leitzins weiter von 6,5 Prozent auf 6,75 Prozent an. Überwiegend war mit einer doppelt so starken Erhöhung um 0,5 Prozentpunkte gerechnet worden (zum Beispiel in einer Reuters-Umfrage).

Gerit Schulze; GTAI Moskau: Tweet vom 10.09.2021

Bei der Entscheidung der Zentralbank für die relativ moderate Erhöhung des Leitzinses dürfte eine Rolle gespielt haben, dass einige Frühindikatoren auf eine Abschwächung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Juli und August hindeuten. Mit einem Rückgang oder einer Stagnation des Bruttoinlandsprodukts im gesamten dritten Quartal rechnet die Zentralbank aber nicht. Sie meint in ihrer Presseerklärung zur Leitzinserhöhung, dass sich das Wirtschaftswachstum im dritten Quartal fortsetzt, wenn auch in einem etwas langsameren Tempo.

Stärkster Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr seit 5 Jahren

Mit 6,7 Prozent sind die Preise für die russischen Verbraucher im August 2021 im Vergleich zum August 2020 so schnell gestiegen wie seit 5 Jahren nicht mehr.

Anstieg der Verbraucherpreise

gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent

Trading Economics: Russia Inflation Hits 5-Year-High in August; 08.09.2021

Nahrungsmittel verteuerten sich im August gegenüber dem Vorjahr sogar um 8,5 Prozent. In Umfragen wurde der starke Anstieg der Preise von den Bürgern schon bisher regelmäßig als vorrangiges Problem genannt worden. Darauf verweist die Moscow Times.

Die von der Regierung im Vorfeld der Duma-Wahlen am 19. September gewährten  Einmal-Zahlungen an Rentner, an Haushalte mit Kindern und an Beschäftigte beim Militär dürften auch als Ausgleich für die beschleunigte Geldentwertung gedacht sein. Nach Einschätzung einiger Analysten haben die Zahlungen aber einen unwillkommenen Nebeneffekt haben: Sie sorgen für einen Nachfrageschub, der zusätzlich preistreibend wirkt. Das meint zum Beispiel Alexander Knobel vom Gaidar Institut.

Zum Preisauftrieb erheblich beigetragen hat auch in Russland die Erholung der Weltkonjunktur von der Corona-Pandemie. Bei steigender Nachfrage verknappte sich das Angebot. Hinzu kamen Unterbrechungen von Lieferketten. Die Rohstoffpreise und die Kosten wichtiger Vorprodukte stiegen weltweit.

Gegenüber Juli sank der Preisanstieg im August saisonbedingt auf 0,2 Prozent

Während sich in Russland der Anstieg der Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahresmonat im August auf 6,7 Prozent beschleunigte, ergab sich im Vergleich zum Vormonat Juli ein Rückgang der Inflationsrate auf 0,2 Prozent. Im Juli waren die Preise gegenüber Juni noch um 0,3 gestiegen. Analysten hatten für den August in diesem Jahr sogar nur einen monatlichen Preisanstieg von 0,1 Prozent erwartet.

Hintergrund dafür ist, dass die Preise für Nahrungsmittel in den Sommermonaten saisonbedingt gegenüber dem Vormonat sinken. In den letzten 5 Jahren hatte das laut Finmarket.ru auch den Index der Verbraucherpreise insgesamt im August abnehmen lassen.

Sberbank-Index für die gesamtwirtschaftliche Aktivität sank im Juli

Zum Rückgang des Preisanstiegs gegenüber dem Vormonat auf 0,2 Prozent im August dürfte beigetragen haben, dass sich Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion vom Rückschlag durch den Lockdown im Jahr 2020 erholt hat und die Wachstumsdynamik abflaute. Der von der Sberbank berechnete „Index für die Wirtschaftsaktivität“ (schwarze Linie in der folgenden Abbildung, rechte Skala) stagnierte im Mai und Juni bereits fast. Im Juli sank er gegenüber dem Vormonat erstmals seit Mai 2020 wieder (- 0,2 Prozent; siehe Säule in der folgenden Abbildung, linke Skala).

Index der gesamtwirtschaftlichen Aktivität sank erstmals seit Mai 2020

Sberbank-Wochenbericht: „Global Economic News“, 07.09.2021

Sberbank: Jetzt ist eine „moderate Zunahme“ der Produktion zu erwarten

Der Rückgang des Indexes im Juli 2021 war nach Einschätzung der Sberbank aber häuptsächlich durch nur zeitweilig wirksame Faktoren bedingt. So habe es wegen der Pandemiewelle erneute Beschränkungen der Produktion gegeben. Bei einigen Wirtschaftsindikatoren sei nach dem schnellen Wachstum in der Erholungsphase gleichzeitig eine „gewisse Korrektur“ zu beobachten.

In den nächsten Monaten erwartet die Sberbank wieder eine „moderate Zunahme“ der gesamtwirtschaftlichen Aktivität. Das Wachstum der Wirtschaft erhalte einerseits Impulse von den Einmal-Zahlungen, die den Umsatz im Einzelhandel stimulierten. Eine Lockerung der pandemiebedingten Restriktionen werde zudem die Nachfrage nach Dienstleistungen verstärken. Andererseits werde die Wirtschaftsaktivität aber bei einer weiteren Straffung der Geldpolitik mit steigenden Zinsen durch eine Abnahme des Wachstums der Kredite gebremst werden.

Auch das Forschungsinstitut der Vnesheconombank berichtet über ein vorläufiges Ende des Wirtschaftsaufschwungs. Nach seinen ersten Berechnungen sank das Bruttoinlandsprodukt von April bis Juli saison- und kalenderbereinigt bereits um rund ein Prozent (siehe Ostexperte.de-Bericht vom 07.09.). Weitere Informationen dazu veröffentlichte das VEB-Institut jetzt im seinem monatlichen Bericht zur Entwicklung des BIP.

Nabiullina: Das „Vorkrisen-Niveau“ wurde schon im zweiten Quartal erreicht

Zentralbankpräsidentin Nabiullina stellte in ihrem Statement zur Leitzinserhöhung heraus, dass die russische Wirtschaft bereits im zweiten Quartal wieder ihr „Vorkrisen-Niveau“ erreicht habe. Ohne den Ölsektor, dessen Produktion noch aufgrund der Vereinbarungen mit der OPEC+ eingeschränkt sei, habe sich die gesamtwirtschaftliche Produktion sogar nicht nur erholt, sondern sie sei auf den vor dem Ausbruch der Pandemie erreichten Wachstumspfad zurückgekehrt.

Die Beschäftigungslage habe sich fast vollständig erholt. Die Arbeitslosenquote sei im Juli fast auf ihr Rekordtief gesunken. Das künftige Wachstum der russischen Wirtschaft werde deswegen vor allem vom Anstieg der Arbeitsproduktivität abhängen. Die Entwicklung der Wirtschaft sei in den einzelnen Branchen und Regionen aber natürlich unterschiedlich, betonte Nabiullina gleichzeitig.

Der Dienstleistungsbereich leidet unter erneuten Corona-Restriktionen

In der Presseerklärung der Zentralbank heißt es zur Produktionsentwicklung, auf der einen Seite werde die Nachfrage nach Konsumgütern, insbesondere außerhalb der Lebensmittel, vom Wachstum der Reallöhne und der geringen Sparneigung der Haushalte bei hohen Inflationserwartungen angetrieben. Die Investitionsaktivitäten würden durch hohe Gewinne und eine wachsende Nachfrage aus dem In- und Ausland verstärkt. Gleichzeitig habe sich aber die Erholung im Dienstleistungsbereich abgeschwächt, weil Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie teilweise verstärkt wurden.

Nabiullina: Warum anhaltend hohe Inflationserwartungen schaden

Zum Anstieg der Verbraucherpreise im August um 6,7 Prozent meinte Nabiullina in ihrem Statement, damit würde die Inflationsprognose der Zentralbank überschritten. Als wichtigste Ursachen für den beschleunigten Preisanstieg, die die Zentralbank mit ihrer Geldpolitik nicht beeinflussen könne, nennt Nabiullina:

  • Die Entwicklung der Welt-Rohstoffpreise
  • Die Ergebnisse der Ernte von Gemüse und Früchten in Russland
  • Engpässe in globalen Lieferketten

Alle diese Inflationsfaktoren beeinflussten die Inflationserwartungen der Verbraucher. Bei höheren Inflationserwartungen würden die Verbraucher ihre Nachfrage verstärken. Dann könnten die Unternehmen ihre Kostensteigerungen fast vollständig in den Preisen weitergeben. Ihre Gewinne könnten die Unternehmen so halten oder sogar steigern. Das wiederum schwäche ihre Anstrengungen, die Kosten zu senken und die Arbeitsproduktivität zu steigern.

Aktualisierung der mittelfristigen Prognosen der Zentralbank am 22.10.

Ihre Prognosen zur mittelfristigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom Juli 2021 will die Zentralbank erst anlässlich der nächsten Leitzinsentscheidung am 22. Oktober wieder aktualisieren. Die Zentralbank erwartet derzeit, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im Jahr 2021 um 4 bis 4,5 Prozent wächst und in den Jahren 2022 bis 2024 um jeweils 2 bis 3 Prozent. In der Pressekonferenz nach der Leitzinsentscheidung sagte Nabiullina dazu, sie halte eine Aufwärtsrevision der Wachstumsprognose für 2021 für möglich. Das berichtet Finmarket.ru.

Das Wirtschaftsministerium erwartet 2021 jetzt 4,2 Prozent Wachstum

Russland Wirtschaftsminister Reshetnikov meinte zu den Wachstumsperspektiven der russischen Wirtschaft beim „Moscow Financial Forum“ am 08. September, sein Ministerium habe seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft auf 4,2 Prozent angehoben. Er meine, dass diese Wachstumsrate mindestens erreicht werde. In einem Anfang Juli veröffentlichten Entwurf der Prognosen für die Haushaltsplanung war das Ministerium noch von einem Produktionsanstieg von 3,8 Prozent im Jahr 2021 ausgegangen.

Andererseits erwartet das Wirtschaftsministerium laut Reshetnikov jetzt im Jahr 2022 nicht mehr einen Rückgang der Wachstumsrate auf 3,2 Prozent sondern auf 3,0 Prozent. 2023 und 2024 werde weiterhin mit einem Wachstum von 3,0 Prozent gerechnet.

Analysten heben Inflationsprognosen für Ende 2021 an

Hinsichtlich der Preisentwicklung wiederholte die Zentralbank anlässlich der Leitzinsentscheidung ihre Prognosen, dass die jährliche Inflationsrate

  • im vierten Quartal 2021 zu sinken beginnt,
  • im Jahr 2022 auf 4 bis 4,5 Prozent abnimmt,
  • danach nahe bei 4 Prozent liegen wird

Die Zentralbank verzichtete aber auf eine Wiederholung ihrer Prognose vom Juli, dass die Inflationsrate am Jahresende 2021 5,7 bis 6,2 Prozent betragen werde. In der Anfang September veröffentlichten Analysten-Umfrage der Zentralbank wurde im Durchschnitt für Ende 2021 ein Rückgang der jährlichen Inflationsrate auf 5,9 Prozent ermittelt. Dmitry Dolgin, Analyst der ING-Bank, der bisher – wie die Zentralbank – eine Begrenzung des Preisanstiegs auf 5,7 Prozent am Jahresende für möglich hielt, meint in seiner Analyse der Leitzinsentscheidung, dass er jetzt mit einem Preisanstieg von 6 bis 6,5 Prozent für Ende 2021 rechnet. Analysten des Börsenbrokers Sova Capital erwarten, dass die Inflationsrate in den nächsten Monaten die 7-Prozent-Marke überschreiten könnte, vor allem wenn der in diesem Jahr besonders heiße und trockene Sommer in Russland die Nahrungsmittelpreise weiter nach oben treibt. Das berichtet die Moscow Times.    

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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