Mehr Wachstum, mehr Inflation – Neue Wirtschaftsprognosen für Russland

HSE-Umfrage bei 28 Banken

Am Freitag veröffentlichte Russlands Statistikamt Rosstat eine „vorläufige Schätzung“ für die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im zweiten Quartal 2021. Das Produktionsniveau des zweiten Quartals 2020, in dem das Bruttoinlandsprodukt wegen des weitreichenden „Lockdowns“ gegenüber dem zweiten Quartal 2019 um 7,8 Prozent eingebrochen war, wurde um 10,3 Prozent übertroffen. Das Bruttoinlandsprodukt war gleichzeitig 1,7 Prozent höher als vor zwei Jahren im zweiten Quartal 2019.

Russlands Bruttoinlandsprodukt ist inzwischen also wieder höher als vor der „Corona-Krise“, die im Gesamtjahr 2020 zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,0 Prozent gegenüber 2019 führte. Für das gesamte Jahr 2021 ist mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 4,0 Prozent zu rechnen. Das ergab eine in der letzten Woche veröffentlichte Umfrage der Moskauer „Higher School of Economics“ bei 28 russischen und ausländischen Banken und Instituten. Vor einem Vierteljahr war in der Umfrage nur ein Wirtschaftswachstum von 3,1 Prozent für 2021 erwartet worden.

Während sich die Wachstumsprognosen also deutlich erhöhten, verschlechterten sich gleichzeitig die Perspektiven für die Entwicklung der Verbraucherpreise erheblich. Ende April war in der HSE-Umfrage noch erwartet worden, dass sich der jährliche Preisanstieg im Dezember 2021 auf 4,7 Prozent verringert. Jetzt wird damit gerechnet, dass er am Jahresende noch 5,8 Prozent betragen wird.

RAS-Konjunkturforschungsinstitut: Das Wachstum hat sich abgeschwächt

Das Institut für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften (IEF RAS) veröffentlicht seit dem Frühjahr neben seinen vierteljährlich erscheinenden „mittelfristigen“ Konjunkturprognosen auch monatliche Schätzungen für die „kurzfristige“ Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Diese kurzfristigen BIP-Schätzungen berücksichtigen nach Angaben des Instituts – anders als die „mittelfristigen Prognosen“ –Wechselwirkungen innerhalb der Wirtschaft nicht. Sie berücksichtigen auch nicht mögliche Konsequenzen wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Hauptaufgabe dieses kurzfristigen Prognose-Instruments ist es, die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in den kommenden Monaten unter der Annahme zu schätzen, dass die gegenwärtigen Trends der Entwicklung wichtiger häufig veröffentlichter Indikatoren anhalten.

In seiner jüngsten „kurzfristigen“ BIP-Schätzung vom 09. August erwartet das RAS- Institut für 2021 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 5,2 Prozent gegenüber 2020. Einen Monat zuvor hatten die RAS-Berechungen sogar einen Anstieg um 5,6 Prozent ergeben. Zur Begründung des Rückgangs der Wachstumsschätzung um 0,4 Prozentpunkte verweist das RAS-Institut auf die Abschwächung der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe und die nachlassende Verbrauchernachfrage. Ursachen dafür seien unter anderem steigende Rohstoffkosten, Einschränkungen der Produktion bei der neuen Infektionswelle und der beschleunigte Anstieg der Verbraucherpreise. Bisher aufgeschobene Käufe der Verbraucher seien inzwischen nachgeholt.

In der folgenden Abbildung des RAS-Instituts zeigt die blaue Linie die saisonbereinigte Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (2005=100) seit Juni 2016. Die gestrichelte Linie zeigt, wie sich das BIP von Juni 2016 bis März 2020 im Trend entwickelte. Deutlich wird, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion ihren Einbruch im April 2020 inzwischen aufgeholt hat. Sie ist aber rund 2 Prozent niedriger, als wenn sie im bisherigen Trend weiter gestiegen wäre.

Schätzung der saisonbereinigten Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (2005=100)

Institut für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften: Assessment of GDP growth rates in the short term; 09.08.2021

Auch Daria Orlova, Analystin der Frankfurter DekaBank, stellt im Russland-Kapitel der am Freitag veröffentlichten „Emerging Markets Trends“ fest, dass die russische Wirtschaft Mitte 2021 ihr Vorkrisenniveau wieder erreicht hat. Nach zwei starken Quartalen habe das Aufholtempo im Sommer jedoch nachgelassen. Die jüngsten Monatsdaten vom Juni zur Industrieproduktion und zum Einzelhandel seien eher enttäuschend ausgefallen. Außerdem seien die Einkaufsmanagerindizes im Juli sowohl im verarbeitenden Gewerbe als auch im Dienstleistungsbereich erneut zurückgegangen (siehe Ostexperte.de-Bericht).

Die jährliche Inflationsrate erreichte im Juli erneut 6,5 Prozent

Während das Wachstum der Produktion an Tempo verliert, beschleunigte sich der Anstieg der Verbraucherpreise Im Vergleich zum Vorjahresmonat bis zum Juni 2021 auf 6,5 Prozent. Damit hatten viele Beobachter nicht gerechnet. Meist wurde angenommen, dass die Inflationsrate bereits im Verlauf der Frühjahrsmonate langsam sinken werde. Im Juli 2021 stiegen die Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich erneut um 6,5 Prozent. Die bei den Verbrauchern in Umfragen ermittelte „gefühlte“ Inflationsrate war mit 16,5 Prozent im Juli noch deutlich höher (siehe Zentralbank: „Inflation Expectations and Consumer Sentiment“, S. 1). Tatiana Evdokimova, Mitarbeiterin des „Joint Vienna Institute“ in Wien, twitterte anlässlich einer Russland-Reise dazu: „Came to Russia after a 7-month break and have to admit that inflation is visible with a naked eye. No wonder that perceived inflation of 16.5% y/y in July is way higher than the actual data.“

Verbraucherpreise in Russland

Veränderungen gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent

Tatiana Evdokimova: Tweet; 09.08.2021; Bildadresse

Die Abbildung zeigt, dass sich die Nicht-Lebensmittel (graue Linie) im Juli 2021 gegenüber Juli 2020 noch etwas stärker verteuerten (+ 7,6 Prozent) als die Lebensmittel (+ 7,4 Prozent; blaue Linie). Weiterhin deutlich unterdurchschnittlich ist der Preisanstieg bei den Dienstleistungen (+ 3,8 Prozent).

Der Preisauftrieb gegenüber dem Vormonat lässt aktuell aber nach

Der Anstieg des Preisniveaus gegenüber dem Vormonat hat sich im Juli aber halbiert. Während der Verbraucherpreisindex im Juni gegenüber Mai um rund 0,6 Prozent gestiegen ist, erhöhte er sich im Juli gegenüber Juni nur noch um rund 0,3 Prozent. Der „Preisdruck“ wird offenbar geringer. Eine Erklärung dafür ist, dass auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage jetzt langsamer wächst als während der bisherigen raschen „Erholung“ der Konjunktur vom „Lockdown“. DekaBank Analystin Daria Orlova verweist auf saisonbedingte Einflüsse bei den Lebensmittelpreisen.

DekaBank erwartet bis Ende 2021 eine Erhöhung des Leitzinses auf 7 Prozent

Zu den Aussichten für eine weitere Anhebung des Leitzinses, den die Zentralbank am 23. Juli um einen Prozentpunkt auf 6,5 Prozent erhöhte, meint Orlova:

„Die Zentralbank bleibt gegenüber Preisschwankungen sensitiv, doch nach der starken Leitzinsanhebung im Juli dürften die künftigen Straffungsschritte nicht mehr vorprogrammiert sein. Das Inflationsumfeld bleibt anfällig für Schwankungen in den Ernteerträgen, der Situation auf den globalen Rohstoffmärkten sowie der Reaktion des russischen Rubels auf mögliche geopolitischen Spannungen, sodass wir ein Leitzinsniveau von 7,0% am Jahresende erwarten.“

Daria Orlova; DekaBank: Russland: Aufholdynamik verliert an Schwung; in: Emerging Markets Trends; 13.08.2021

Die DekaBank erwartet, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt 2021 auf 5,9 Prozent erhöht (2020/2019: + 3,4 Prozent). Im Jahresdurchschnitt 2022 rechnet sie mit einem Rückgang der jährlichen Inflationsrate auf 4,3 Prozent.

Wie deutsche Banken Russlands Wachstumsperspektiven sehen

Für Russlands Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr geht die DekaBank weiterhin von einer Zuwachsrate von 3,8 Prozent aus. Die Commerzbank hob ihre Prognose für 2021 Anfang August geringfügig auf 3,9 Prozent an.

2022 rechnet die Commerzbank jetzt mit einer im Vergleich zu anderen Prognosen geringen Abschwächung des Wachstums auf 3,1 Prozent. Die DekaBank geht hingegen weiterhin von einem deutlichen Rückgang der Wachstumsrate auf 2,2 Prozent aus.

Unverändert niedrig schätzt die Frankfurter Helaba die Wachstumsperspektiven der russischen Wirtschaft ein. 2021 werde das Bruttoinlandsprodukt nur um 3,0 Prozent steigen.2022 werde sich das Wachstum auf 2,0 Prozent abschwächen. Länder-Analyst Patrick Heinisch verweist in der Helaba-Analyse „Im Fokus: Russland“ als Risiko für das Wachstum vor allem auf die neue Infektionswelle:

„Seit Anfang Juni befindet sich Russland, und insbesondere die Hauptstadt Moskau, in einer dritten Corona-Welle. Anfang Juli vermeldete das Gesundheitsministerium die meisten CoronaToten innerhalb eines Tages. Zwar ist der Anteil der Russen, die mindestens eine Corona-Impfung erhalten haben, von 9,5 % Mitte Mai auf 13,6 % Ende Juni gestiegen. Das Ziel einer Impfabdeckung von 60 % bis Jahresende wird aber kaum zu erreichen sein. Auch wenn die Regierung die Gouverneure in den Regionen mit Lockdown-Maßnahmen beauftragt und eine Impfpflicht verhängt hat, sollte die Wirtschaft nicht ungeschoren davonkommen. Wir erwarten für 2021 nur ein Wachstum von 3 %. In den Jahren danach werden sich die Wachstumsraten auf durchschnittlich 2 % pro Jahr abschwächen, vergleichbar mit dem Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2019 – für ein Schwellenland wie Russland eigentlich zu wenig.“ Zur weiteren Information: Florian Kellermann; Dlf: Rekord bei Corona-Toten in Russland: Extreme Übersterblichkeit; Podcast, 4 Min.;14.08.2021

HSE-Konsens-Prognose für das Wirtschaftswachstum deutlich gestiegen

In der am 11. August veröffentlichten Konjunktur-Umfrage der Moskauer „Higher School of Economics“ bei 28 russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstituten ergab sich als Mittelwert für den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr eine Wachstumsrate von 4,0 Prozent. Vor einem Vierteljahr war in der Umfrage nur ein Wirtschaftswachstum von 3,1 Prozent für 2021 erwartet worden. Im nächsten Jahr wird mit einem Rückgang des Wachstums auf 2,5 Prozent gerechnet.

Zum Vergleich: Die etwas früher im Juli durchgeführte Umfrage von FocusEconomics, die nur wenige Prognosen russischer Stellen erfasst, ermittelte einen Konsens für das diesjährige Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

  202120222023
DekaBank, Frankfurt13.08.213,82,2 
Helaba, Frankfurt13.08.213,02,0 
OPEC, Wien12.08.213,22,5 
Higher School of Economics-Umfrage11.08.214,02,52,2
Commerzbank, Frankfurt06.08.213,93,1 
Interfax-Umfrage04.08.213,92,3 
FocusEconomics Consensus03.08.213,52,62,3
CMASF, Moskau02.08.213,62,3 
Reuters-Umfrage30.07.213,92,4 
RIA Rating, Moskau30.07.214,0  
Sberbank29.07.214,23,3 
Internationaler Währungsfonds27.07.214,43,1 
Russische Zentralbank23.07.214,0 bis 4,5 Urals 65 $/b2,0 bis 3,0 Urals 60 $/b2,0 bis 3,0 Urals 55 $/b
Economist Intelligence Unit, London20.07.213,42,41,9
Standard & Poor’s Rating17.07.213,72,5 
ING Bank, Amsterdam16.07.213,82,23,0
Zentralbank-Umfrage15.07.213,52,42,2
OPEC, Wien15.07.213,02,3 
Vnesheconombank Institut12.07.214,32,22,8
DekaBank, Frankfurt09.07.213,82,2 
Fitch Ratings09.07.213,72,72,0
Wirtschaftsministerium08.07.213,8 Urals 65,9 $/b3,2 Urals 64,8 $/b3,0 Urals 60,8 $/b
wiiw, Wien07.07.213,53,02,6

Die Inflationsrate bleibt 2021 deutlich höher als bisher erwartet

Während sich die Wachstumsprognosen laut HSE-Umfrage in den letzten drei Monaten also deutlich erhöhten, verschlechterten sich gleichzeitig die Perspektiven für die Entwicklung der Verbraucherpreise erheblich. Ende April war in der HSE-Umfrage noch erwartet worden, dass sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise bis zum Dezember 2021 auf 4,7 Prozent verringert. Jetzt wird damit gerechnet, dass er am Jahresende noch 5,8 Prozent betragen wird.

Konsens-Prognosen in den HSE-Konjunktur-Umfragen vom 27.07. bis 09.08.2021 und vom 23. bis 30.04.2021

(Reales BIP-Wachstum, Arbeitslosenquote, Verbraucherpreisanstieg gegenüber Vorjahr im Dezember, Leitzins am Jahresende, Rubel/Dollar-Kurs am Jahresende; Urals-Ölpreis in US-Dollar im Jahresdurchschnitt)

Higher School of Economics, Development Center; Sergey Smirnov: Consensus forecast – Survey of independent experts: short-term optimism; 11.08.2021

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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