Der Jahreswechsel naht, die Zeit der Rück- und Ausblicke ist da: vor 10 Jahren begannen die Maidan-Proteste in Kiew und wenige Monate später annektierte Russland die Krim. Wie hoch sind die wirtschaftlichen Kosten der vergangenen „Dekade der Konfrontation“ für Russland?
Anders Aslund (u.a. „Senior Fellow“ des „Stockholm Free World Forum“ und früher des „Atlantic Council“) stellt in einem Gastbeitrag für „The Moscow Times“ fest, dass sich die russische Wirtschaft besser entwickelt habe als angesichts der scharfen westlichen Sanktionen und der Belastungen durch den Krieg gegen die Ukraine zu erwarten gewesen sei. 2023 werde die Wirtschaft voraussichtlich um rund 2 Prozent wachsen.
In Russland mehren sich die Stimmen, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr sogar um rund 3 Prozent steigen dürfte und damit die Rezession des Jahres 2022 um 2,1 Prozent mehr als ausgeglichen wird. Das Moskauer „Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen“ hob seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft von 2,3 bis 2,5 Prozent auf 2,8 bis 3,0 Prozent an.
Eine längerfristige Bilanz der Entwicklung der russischen Wirtschaft zieht das russische Wirtschaftsmagazin „The Bell“ in seinem am Freitag veröffentlichten „Wochenbericht“. Es erinnert daran, dass vor 10 Jahren mit den Protesten auf dem Maidan-Platz in Kiew und der Annexion der Krim im März 2014 eine politische Entwicklung begann, die 2022 zum Krieg Russlands gegen die Ukraine führte. „The Bell“ gibt einige Hinweise, wie hoch die wirtschaftlichen „Kosten“ dieser „Dekade der Konfrontation“ sind. Das Magazin analysiert unter anderem, wie sich die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland im internationalen Vergleich entwickelte und wie stark der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen gesunken ist.
Laut der Weltbank ist demnach Russlands reales Bruttoinlandsprodukt je Einwohner von 2013 bis 2022 nur noch um rund 5 Prozent gestiegen. Anders Aslund nennt als Gründe für die Stagnation der russischen Wirtschaft die Finanz-Sanktionen des Westens und die in Russland herrschende „abscheuliche Kleptokratie“. Aslund hält es für realistisch, so berichtet Newsweek, dass die Sanktionen die russische Wirtschaft weiterhin stagnieren lassen. Die immer härteren westlichen Sanktionen würden Russlands Wirtschaft technologisch zunehmend veralten lassen. Die Sanktionen im Finanz- und Energiebereich bedeuteten eine schwere Belastung des russischen Staatshaushalts.
„The Bell“: Russlands BIP je Einwohner in US-Dollar stagnierte seit 2013 fast
In der oberen Hälfte der folgenden Abbildung zeigt „The Bell“, dass Russlands reales Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in US-Dollar von 2003 bis 2022 zwar um rund 55 Prozent gestiegen ist. Seit dem Jahr 2013 hat es aber fast stagniert.
Russlands reales BIP/Einwohner in US-$ im internationalen Vergleich
The Bell: The cost of a decade of confrontation, 24.11.23
Die untere Hälfte der Abbildung zeigt die Entwicklung seit 2013. Bis 2022 nahm das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Russland nur noch um insgesamt rund 5 Prozent zu. Weltweit stieg es rund drei Mal so stark.
In der Ukraine entwickelte sich das reale BIP je Einwohner in US-Dollar noch deutlich ungünstiger als in Russland. 2022 war das reale Pro-Kopf-Einkommen in US-Dollar in der Ukraine knapp ein Fünftel niedriger als im „Maidan-Jahr“ 2013.
Das Einkommensniveau in Russland fiel im internationalen Vergleich
Laut „The Bell“ lag Russlands BIP je Einwohner in US-Dollar vor dem Jahr 2013 nur 2 Prozent unter dem weltweiten Durchschnitt. Bis 2022 sei der Rückstand auf rund zehn Prozent gestiegen.
Russlands BIP/Einwohner in Prozent vom weltweiten BIP/Einwohner
The Bell: The cost of a decade of confrontation, 24.11.23
Der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen in Russland sank seit 2013 stark
Die folgende Abbildung zeigt, dass Russland vor zehn Jahren im Jahr 2013 noch ausländische Direktinvestitionen in Höhe von rund 70 Milliarden US-Dollar zuflossen (graue Säulen, linke Skala). In den folgenden Jahren verzeichnete Russland bis 2021 deutlich geringere Zuflüsse von Direktinvestitionen. Im Jahr 2022 wurden die ausländischen Direktinvestitionen in Russland sehr stark negativ: Rund 40 Milliarden US-Dollar flossen ab, das entspricht rund 2 Prozent des BIP (rote Linie; siehe auch World Bank-Chart).
Ausländische Direktinvestitionen in Russland
Zufluss in Mrd. US-$; in Prozent des BIP
The Bell: The cost of a decade of confrontation, 24.11.23
Die Kapitalflucht ist Russlands größtes Wirtschaftsproblem
Der schweische Russland-Experte Anders Aslund nennt in seinem Gastbeitrag für „The Moscow Times“ die Kapitalflucht als Russlands größtes Wirtschaftsproblem. Er beziffert den gesamten Netto-Kapitalabfluss im Jahr 2022 auf 239 Milliarden US-Dollar. Im ersten Halbjahr 2023 seien nach Schätzungen der Zentralbank weitere 27 Milliarden US-Dollar aus Russland abgeflossen.
Diese Angaben zum Netto-Kapitalabfluss im Jahr 2022 und im ersten Halbjahr 2023 hatte das Moskauer „Center for Macroeconomic Analysis and Short-term Forecasts“ CMASF in „Thesen“ zur Wechselkursentwicklung am 18. Juli 2023 und zum Kapitalabfluss am 07. August veröffentlicht. Busidess Insider berichtete am 25. Juli über die These des CMASF zur Wechselkursentwicklung.
Die „massive Kapitalflucht“ nennt Aslund in seinem Gastbeitrag als einen Grund für die starken Schwankungen des Rubel-Kurses („Der Rubel springt wie ein Jojo“). Hinzu kämen der Ausschluss Russlands von den internationalen Finanzmärkten und seine begrenzten Liquiditätsreserven.
Russlands Devisenreserven hätten vor dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022, so Aslund, eine Höhe von 643 Milliarden US-Dollar erreicht. Bis zum 03. November 2023 seien sie auf 577 Milliarden US-Dollar gesunken (Trading Economics-Chart)
Der Westen habe russische Reserven in Höhe von etwa 280 Milliarden Dollar, die im Westen gehalten wurden, „eingefroren“. Sie sollen für russische Kriegsentschädigungen an die Ukraine verwendet werden. Der Großteil des Restbetrags der Reserven sei nicht liquide. Er könne daher von Russland nicht zur Bezahlung von Waffen verwendet werden.
Wenn die Rüstungsausgaben nicht begrenzt werden, bricht der Rubel tief ein
In einer ausführlichen Analyse der aktuellen Entwicklung der russischen Wirtschaft für das „Salzburg Global Seminar“, die Anfang November veröffentlicht wurde, hob Aslund hervor, dass sich die russische Wirtschaft derzeit anscheinend stabilisiert habe. Auf absehbare Zeit sei aber nur ein „minimales Wachstum“ zu erwarten. Die starke Kapitalflucht könne eine neue plötzliche Währungskrise auslösen.
Nach Einschätzung von Aslund steht Präsident Putin vor der Wahl zwischen einer Einschränkung des Wachstums der Rüstungsausgaben und einer „Versenkung“ des Rubel. Er vermute, dass sich Putin für eine Begrenzung der Aufrüstung entscheidet.
Die meisten internationalen Prognosen, so Aslund, würden davon ausgehen, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr um bis zu 2 Prozent wächst. Alle warnten aber davor, dass Prognosen sehr unsicher seien, weil sich Russland im Krieg befinde.
Russlands Chancen für eine Verbesserung seiner finanziellen Situation sind nach Einschätzung Aslunds am besten, wenn es gelingt, den vom Westen als Sanktionsmaßnahme beschlossenen „Preisdeckel“ für den Export von russischen Öl „zu brechen“.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- EU-Kommission: Nach der Erholung flaut Russlands Wachstum auf 1,6 Prozent ab, 23.11.23
- Wie sehen deutsche Banken Russlands Konjunktur, 17.11.23
- Russlands Wirtschaft wuchs im dritten Quartal noch kräftig weiter, 08.11.23
- Die Verdoppelung des Leitzinses wird das BIP-Wachstum bremsen, 31.10.23
Weitere Lesetipps und Quellen hier als PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Prof. Christian von Soest in „Zaren, Daten. Fakten“ „Sanktionen: Mächtige Waffe oder hilfloses Manöver?“,
- Bloomberg: Russian Figures Suggest Western Oil Sanctions Not Working
- Bloomberg/cash.ch: Rubel trotz Putins Kriegswirtschaft erholt
- Alexandra Prokopenko: Why Russia’s Economy Has Been So Resilient against Sanctions
- Gwendolyn Sasse, ZOIS, im DLF-Interview: 10 Jahre Maidan
- FOCUS-online-Redakteurin Anna Schmid: Die Gegenoffensive ist gescheitert.