Kontroverse Meinungen zu den Wachstumsperspektiven Russlands
Lesen Sie im ersten Teil dieses Artikels einen Überblick über die konjunkturelle Entwicklung im laufenden Jahr sowie die Prognosen bis 2021. In diesem Teil finden Sie Hinweise, wie unterschiedlich zwei renommierte Experten für die russische Wirtschaft kürzlich die Wachstumsmöglichkeiten Russlands beurteilten.
Dr. Roland Götz: Regierungsprogramm ist ein “Wunschkatalog“
Zu den aktuellen Wachstumsplänen der Regierung nahm Mitte Oktober auch Dr. Roland Götz (CV), in seiner in den Russland-Analysen erschienenen Studie „Russlands langfristige Wirtschaftspläne“ Stellung. Götz analysiert die unter Präsident Putin seit dem Jahr 2000 verabschiedeten langfristigen Wirtschaftspläne. Die derzeit aktuelle „Prognose der sozialökonomischen Entwicklung der Russischen Föderation bis 2036“, die im Herbst 2018 von der Regierung beschlossen wurde, behandelt er ausführlich.
Ziel der Regierung ist, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Zeitraum 2019 bis 2036 inflationsbereinigt um 3 Prozent pro Jahr wachsen soll. Götz hält das für unwahrscheinlich. Er schreibt:
„Das aktuelle Wirtschaftsprogramm ist (wie auch seine Vorgänger) keine Prognose, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte, sondern ein Wunschkatalog: Russlands Volkswirtschaft soll unter Wahrung makroökonomischer Stabilität (geringe Inflation und Arbeitslosigkeit, geringes Budgetdefizit) 18 Jahre lang im Tempo der Weltwirtschaft wachsen und dabei Deutschland als Wirtschaftsmacht überrunden.“
Für mehr Investitionen fehlt das Vertrauen der Unternehmer in den Staat
Voraussetzung für ein Gelingen des Wirtschaftsprogramms wäre, so Götz, eine deutliche Verbesserung des Investitionsklimas. Dafür müsse vor allem das Vertrauen der Unternehmer in die staatlichen Strukturen gestärkt werden. Dies setze jedoch eine Reform des politischen Systems voraus, woran die herrschenden Kreise kein Interesse hätten, weil sie dann um ihre Privilegien fürchten müssten. Götz schreibt:
„Die politischen, bürokratischen und ökonomischen Eliten Russlands sind am Erhalt des autoritären politischen Systems mit seiner gefügigen Justiz interessiert, weil es ihnen ihre Positionen und Privilegien sichert. Ein Aufschwung der Unternehmen außerhalb des Rohstoffsektors, wovon das Gelingen der aktuellen Wirtschaftsplanung abhängt, wird dadurch sehr erschwert. Daher sind das geplante Wirtschaftswachstum und eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung kaum zu erwarten.“
Staatsfunktionäre plündern Unternehmen
Götz stellt besonders heraus, dass es gute Gründe gebe, warum das Vertrauen der Geschäftswelt in die staatlichen Strukturen „äußerst schwach“ sei.
„Unternehmer können sich kaum dagegen wehren, dass Staatsfunktionäre sie wegen geringfügigen oder auch nur konstruierten Verletzungen von Vorschriften erpressen, Schmiergeld verlangen oder Gewinnerzielung als Betrug klassifizieren, weil die Gerichte fast immer der Auffassung der Anklagebehörden folgen… . Diese »Unternehmensplünderung « (russ.: reiderstwo) geht nicht mehr wie in den 1990er Jahren von Kriminellen aus, sondern wird heute von regionalen Netzwerken der »Silowiki« organisiert.“
Selbst die wiederholte Kritik Präsident Putins an derartigen Praktiken habe keine Wirkung gezeigt.
„Verzweiflungsschrei“ von Zentralbankpräsidentin Nabiullina
Götz erinnert an den „Verzweifelungsschrei“ von Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina in einer Rede auf dem 28. Internationalen Finanzkongress in Sankt Petersburg am 4. Juli 2019. Er zitiert Nabiullina:
“Eine Verbesserung des Investitionsklimas kann sich nicht auf den Abbau administrativer Hindernisse beschränken. Erforderlich sind der Schutz des Privateigentums, unabhängige Gerichte und insbesondere die gerichtliche Beilegung von Unternehmenskonflikten, die beste Qualität der Unternehmensführung sowie die Entwicklung des menschlichen Potenzials. Diese Worte sprechen wir seit vielen Jahren fast unverändert aus. Zuerst schienen sie nur richtig zu sein, dann ein Gemeinplatz, dann leere Worte von Beamten und jetzt manchmal wie ein Schrei der Verzweiflung.“
Dr. Mikhail Dmitriev: Vieles spricht für 2 bis 3 Prozent Wachstum
In einem ausführlichen Interview mit der russischen Forbes-Ausgabe zu aktuellen Fragen der russischen Wirtschaftspolitik äußerte sich Ende Oktober auch Dr. Mikhail Dmitriev, der u.a. von 2000 bis 2004 Stellvertretender Wirtschaftsminister Russlands war, zu den Wachstumsperspektiven Russlands.
Dmitriev nennt etliche Gründe, die trotz Rechtsunsicherheit für ein Wachstum von 2 bis 3 Prozent sorgen können. 2020 dürfte sich das Wachstum nach seiner Einschätzung stärker als von den meisten Beobachtern erwartet auf 2,5 Prozent beschleunigen, obwohl sich das Wachstum der Weltwirtschaft wahrscheinlich abschwächen werde.
Ein Grund sei, dass die Bremswirkungen der Anfang 2019 erfolgten Mehrwertsteuererhöhung wegfielen.
Außerdem werde die Erhöhung des Renteneintrittsalters wachstumswirksam. Die Weltbank schätze den Wachstumseffekt auf einen Prozentpunkt.
Zudem werde die Zentralbank die Leitzinsen weiter senken. Unternehmen könnten so leichter Kredite erhalten.
Darüber hinaus würden die Staatsausgaben im nächsten Jahr erstmals wieder real steigen. Wahrscheinlich werde das Finanzministerium auch die im Nationalen Wohlfahrtsfonds angesammelten Finanzreserven zur Finanzierung nationaler Projekte nutzen, insbesondere für Infrastrukturinvestitionen.
Dmitrievs Fazit: Falls die Regierung die Möglichkeiten zu einer Stimulierung der Nachfrage optimal nutzt, kann sie ein Wachstum der Wirtschaft von 2 bis 3 Prozent erreichen – sogar wenn sich die globale Konjunktur abschwächt. Dann können auch die Einkommen der Bürger ihre bisherigen historischen Höchststände übertreffen.
Rechtsunsicherheit gefährdet aber das Wachstum
Auch Dr. Dmitriev sieht aber die Investitionen der Unternehmen und damit das Wachstum der Wirtschaft durch mangelnde Rechtssicherheit gefährdet. Nach seiner Erfahrung fürchten sich die meisten Unternehmer vor Eingriffen und Druck durch das Justizsystem. Oft käme es zu „unfreundlichen Übernahmen“. Wenn bei der sich jetzt verbessernden Investitionskonjunktur diese Risiken verstärkt wahrgenommen würden, könnte das Vertrauen der privaten Investoren weiter geschwächt werden.
^*^Quellen und Lesetipps:
Roland Götz, Mikhail Dmitriev und Andrey Klepach zur russischen Wirtschaftspolitik
- Mikhail Dmitriev im Forbes.ru-Interview mit Yana Milyukov und Lyudmila Petukhova: “It will be difficult to propose a new president”: the economist who predicted the protests named two scenarios for Russia until 2024; Forbes.ru, 31.10.2019
- Andrey Klepach, Chef-Volkswirt Vnesheconombank, im bne Intellinews-Interview mit Ben Aris: Window on the East: Russia’s multi-billion dollar spending programme; Audio-Podcast, 20 Min.; 21.10.2019
- Roland Götz: Russlands langfristige Wirtschaftspläne; Russland-Analysen 376, 17.10.2019
Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (meist monatlich, vierteljährlich)
- Andrey Ostroukh (Reuters): Russia likely to cut key rate to 6% in 2020, rouble seen easing: Reuters poll; 31.10.2019
- TASS: Sberbank raised its forecast for the dollar exchange rate for 2019-2021; 31.10.2019
- FocusEconomics: Russia Economic Outlook; 29.10.2019
- World Bank: Russia Monthly Economic Developments, October 2019; 29.10.2019
- World Bank: Country Snapshot Russian Federation; October 2019
- Vnesheconombank Institute: SEMAFON: September 2019; russian economic indicators; 30.10.2019
- Vnesheconombank Institute: Monthly GDP Index September 2019; 29.10.2019
- Zentralbank: Medium-Term Forecast; 25.10.2019i
- Center for Macroeconomic Analysis and Short-term Forecasting, CMASF: Trends of the Russian Economy – September 2019; 24.10.2019
- RIA Rating: Unexpected economic accelaration in the third quarter; 20.09.2019
- Johanna Melka (BNP Paribas): Russia: Resilience but no growth; 18.10.2019
- Economic Expert Group: Economic Review – October 2019; 17.10..2019
- Center for Macroeconomic Analysis and Short-term Forecasting, CMASF: Dynamics of Industrial Production in September and the third quarter 2019; 17.10.2019
- Daria Orlova (DekaBank): Russland: Zentralbank signalisiert mehr Lockerung; in Emerging Markets Trends, Oktober 2019; 16.10.2019
- Natalia Orlova (Alfa Bank): Russia: 9M19 Macro Statistics – Strong income growth unlikely to save CBR from more rate cuts; 18.10.2019
- Internationaler Währungsfonds: World Economic Outlook, October 2019; 15.10.2019l; Yandex-Presselinks zum IWF-Ausblick; BOFIT (Bank of Finland): IMF lowers growth forecast for global economy; BOFIT weekly, 18.10.2019
- Eurasian Development Bank: Monthly Review; 15.10.2019
- Economist Intelligence Unit: EU-Russia tensions will remain high; 15.10.2019
- Stepanov, I. Morgacheva (independent analysts and consultants ARB/Bankenverband): Current Trends in the Economy. October 2019; arb.ru, 14.10.2019
- World Bank: Europe and Central Asia Economic Update; 09.10.2019; Anna Galcheva: The World Bank again lowered its forecast for Russia’s economic growth; rbc.ru, 09.10.2019; The Moscow Times: World Bank Cuts Russian Growth Forecast; 09.10.2019
- Analytical Center of the Russian Government: Current trends of the Russian Economy; September 2019: Cargo Transportation in Russia: Review of Current Statistics; mit 6 Charts zur monatlichen gesamtwirtschaftlichen Konjunktur-Entwicklung am Schluss des Berichts; 10.09.2019
- OPEC: Monthly Oil Market Report; 09.10.2019
- Patrick Heinisch (Helaba): Russland: Haushaltsüberschüsse trotz Fiskalimpulsen; Helaba: Konjunktur kompakt; 09.10.2019
- Macro Advisory: Macro Monthly – October 2019; 09.10.2019
- OECD: Composite Leading Indicator; Russia: Signs of easing growth momentum; 08.10.2019
- www.intellinews.com: Russia Country Report October 2019; 06.10.2019
- Danske Bank: Emerging Markets Briefer; Russia: Macro factors become stronger over negligible growth; 04.10.2019
- BOFIT (Bank of Finland): BOFIT’s latest forecast sees Russian economic growth falling to 1 % this year; BOFIT Weekly, 04.10.2019
- BOFIT (Bank of Finland): Stimulus included in Russia’s 2020−2022 government sector budget framework; BOFIT Weekly, 04.10.2019
- BOFIT (Bank of Finland): BOFIT Forecast for Russia 2019 – 2021; 03.10.2019
- Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2019: Industrie in der Rezession – Wachstumskräfte schwinden; 02.10.2019
- WKO Außenwirtschaft Österreich: Außenwirtschaftscenter Moskau: Wirtschaftsbericht Russische Föderation – September 2019; Oktober 2019
Monatsberichte Wirtschaft September 2019 von Zentralbank, Regierung und Rosstat
- Zentralbank: Economy: facts, assessments and comments; russ.+englisch, Pressemeldung: High yields contributed to the economic growth in Q3; 25.10.2019
- Wirtschaftsministerium: Bild der Wirtschaftsaktivität; Bericht zu Rosstat-Monatsdaten, 17.10.2019
- Rosstat: Sozio-ökonomische Lage in Russland; PDF: Januar-September 2019; 17.10.2019
- ru: According to the results of January-September, the Ministry of Economic Development estimates the growth of GDP at 1.2%; 17.10.2019
- Mikhail Yushkov: The Ministry of Economic Development reported about doubling the growth of the economy; rbc.ru, 18.10.2019
- Yandex-Presselinks: Einzelhandelsumsatz stieg im September schwächer; 17.10.2019
- Yandex-Presselinks: Arbeitslosenquote laut Rosstat gestiegen; 17.10.2019
Zentralbank-Präsentationen im Investoren-Programm in Englisch
- Zentralbank: Investor presentation „Russian Financial Sector“; mit Macro-Update; Oktober 2019
- Zentralbank: Investor presentation „Russia’s Economic Outlook and Monetary Policy“; September 2019
Wirtschaftsministerium: Prognosen und Vorlagen für die Haushaltsberatungen;
Stellungnahme des Rechnungshofs vom 14.10. zur Regierungsprognose
- Valery Mironov (HSE): New medium-term forecast of the Ministry of Economic Development of Russia and reality 2019; HSE comments on state and business + ru ; 24.10.2019
- Wirtschaftsministerium: Polina Badasen: Ministry of Economic Development of Russia estimates the probability of the implementation of the target scenario as high; 14.10.2019
- TASS: Accounts Chamber: the forecasted economic growth of the world and Russian economies is not sufficiently substantiated; 14.10.2019
- Julia Starostina, Anna Galcheva: The Accounts Chamber criticized the draft budget for three years. Auditors doubt the sharp acceleration of the economy and are dissatisfied with underfunding of education and health; rbc.ru, 14.10.2019
- Rechnungshof: The Accounts Chamber publishes an Opinion on the draft federal law “On the Federal Budget for 2020 and for the Planning Period 2021 and 2022”; 14.10.2019
- Wirtschaftsministerium: Forecast of socio-economic development of the Russian Federation for the period until 2024; 30.09.2019
- Wirtschaftsministerium: Preliminary results of the socio-economic development of the Russian Federation January-August 2019 and the expected results of the socio-economic development of the Russian Federation for 2019; Vorlage für Haushaltsberatungen; 30.09.2019
Sonstige Veröffentlichungen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:
- Jake Cordell: What’s Next for Russia’s Economy? The Moscow Times, 01.11.2019
- TASS: Sberbank raised its forecast for the dollar exchange rate for 2019-2021; 31.10.2019
- BOFIT (Bank of Finland): Russian economy enjoys growth spurt; BOFIT Weekly, 25.10.2019
- Ksenia Zubacheva: How much have Russians actually changed in 10 years? RBTH, 25.10.2019
- Evsey Gurvich (Economic Expert Group): Is a New Economic Crisis Coming? russiancouncil.ru; 24.10.2019
- Sergey Pukhov (HSE): Zahlungsbilanz: Die Ruhe vor dem Sturm? HSE comments on state and business; 24.10.2019
- Liam Peach (CAPITAL ECONOMICS): Russian retail sales set for a tepid recovery; Intellinews.com, 23.10.2019
- russland.capital: Medwedew: In russischer Wirtschaft ist alles in Ordnung; 22.10.2019
- TASS: Medvedev said that foreign investors do not lose interest in Russia, despite the sanctions; 21.10.2019
- The Moscow Times: Russia’s Gold Reserves Will Cushion Oil Price Fall, Says Finance Minister; 21.10.2019
- TASS: Siluanov said that Russia has taken measures to reduce the damage from falling oil prices; 20.10.2019; Finanzminister Anton Siluanow im CNBC-Interview mit Geoff Cutmore: Russia can withstand a sharp drop in oil prices; Video, 1.27 Min.; CNBC: Russia does not want to exploit US-China trade war, finance minister says; 19.10.2019
- Olga Khvostunova: A Tale of Two Russias; Institute of Modern Russia, 16.10.2019
- Anna Galcheva: Siluanov: $ 30 trillion in business accounts not working for the economy; rbc.ru, 11.10.2019
- Ivan Tkachev, Olga Ageeva: Russian budget execution turned out to be the lowest in 11 years; rbc.ru, 11.10.2019
- Julia Starostina, Anna Galcheva: Deputies criticized government forecast for inertia; rbc.ru; 09.10.2019
- Stanislav Murashov, Andreas Schwabe (Raiffeisen Bank International): An outlook on Russia’s economy: Financial strength and economic weakness; Discover CEE; 08.10.2019
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann seit Anfang Oktober 2019: