Russlands Konjunktur: Rückblick und Ausblick

2022 sank die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands laut der „ersten Schätzung“ des Statistikamtes um 2,1 Prozent. Dr. Roland Götz hat in den Russland-Analysen eine Bilanz der Entwicklung der russischen Wirtschaft im letzten Jahr gezogen.

Fast alle Konjunkturprognosen für die russische Wirtschaft erwarten für 2023 ein Anhalten der Rezession. Wie stark sich das Rezessionstempo 2023 abschwächt oder ob es sich sogar beschleunigt, ist aber umstritten. Der zweite Teil des folgenden Artikels gibt Hinweise zu den Russland-Prognosen der am 05. April veröffentlichten „Gemeinschaftsdiagnose“ der deutschen Konjunkturforschungsinstitute und zu den Prognosen der Mailänder Großbank UniCredit, die 2023 eine leichte Beschleunigung der Rezession erwartet.

Rückblick auf 2022: Russland erwies sich als „ziemlich robust“ gegenüber Sanktionen

Dr. Roland Götz stellt in einer in den „Russland-Analysen“ und in der Zeitschrift „Osteuropa“ veröffentlichten Analyse fest:

2022 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Russlands gegenüber 2021 real (inflationsbereinigt) um 2,1 Prozent zurückgegangen und damit weit weniger, als vorhergesagt worden war.

Obwohl das föderale Budget ein Defizit von 2,2 Prozent des BIP aufwies, kam es nicht zu einem Absturz des Rubelkurses: Die russische Währung hat – nachdem sie im März 2022 einen kurzzeitigen Höchststand verzeichnete – gegenüber 2022 im Jahresdurchschnitt sogar etwas aufgewertet.

Die Arbeitslosigkeit war 2022 geringer als 2021.

Nur die Inflation trübte dieses Bild: Die Konsumgüterpreise stiegen im Jahresvergleich um 14 Prozent an – doppelt so hoch wie 2021.

Nach den bis Mitte März 2023 vorliegenden statistischen Angaben, die stets noch revidiert werden, kann kein Zweifel daran bestehen, dass Russlands Volkswirtschaft sich 2022 gegenüber den Sanktionen als ziemlich robust erwiesen hat.“

Die Russland-Analysen veröffentlichten dazu folgende Tabelle

Roland Götz: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022, in: Russland-Analysen Ausgabe 435, 27.03.2023

Götz: Die Sanktionen bewirkten einen BIP-Verlust von rund 5 Prozent

Die unteren Zeilen der Tabelle weisen aus, dass die Energie- und Rohstoffpreise 2022 stark gestiegen sind. Gleichzeitig wuchs die Weltwirtschaft noch um 3,4 Prozent. Bei diesen Rahmenbedingungen hätte eigentlich auch die stark auf den Rohstoffexport orientierte russische Wirtschaft weiter wachsen müssen. Götz meint, dass die Sanktionen das verhindert haben:

„Daraus, dass die Prognosen eines starken Wirtschaftseinbruchs für 2022 nicht eintrafen kann nicht geschlossen werden, dass die Wirtschaftssanktionen nicht gewirkt haben. Denn für 2022 war von Russlands Behörden ein Zuwachs des BIP um rund drei Prozent erwartet worden. Der tatsächliche Rückgang um rund zwei Prozent bedeutet somit einen BIP-Verlust im Umfang von rund fünf Prozent, der auf die Sanktionen zurückgeführt werden kann. Denn sonst ist schwer erklärbar, warum Russlands Wirtschaft in einem Jahr kein Wachstum aufwies, in dem das weltwirtschaftliche BIP um 3,4 Prozent und der Preisindex für Energierohstoffe – die hauptsächlichen Exportgüter Russlands – um 59 Prozent angestiegen waren.“ (Grafik 1 und Tabelle 1 in der von den Russland-Analysen veröffentlichten Rubrik Statistik: Russlands Wirtschaft).

Nur schwache Sanktionierung der Energieexporte

Als wichtigsten Grund für die „Sanktionsresilienz Russlands“ stellt Götz heraus, dass Russlands Energiebereich bis Ende 2022 von Sanktionen weitgehend ausgenommen blieb. So habe die russische Volkswirtschaft das ganze Jahr über von einem erheblichen  Zufluss von Deviseneinnahmen profitiert. Er schreibt:

„Russlands Sanktionsresilienz lag vor allem daran, dass Russland 2022 Erdöl, Erdölerzeugnisse und Kohle in gleicher Menge wie 2021 exportieren konnte und dabei noch vom weltweiten Preisanstieg dieser und anderer Rohstoffe profitierte. Denn während manche Länder Russlands Energieexporte rascher sanktionierten, vollzogen die EU-Mitglieder diesen Schritt nur partiell und verzögert, weil man Versorgungsengpässe und Preisanstiege befürchtete. Die USA dagegen verboten bereits im März 2022 die Einfuhr von Kohle, Erdöl, Erdölprodukten und Flüssiggas aus Russland. Australien, Kanada und das Vereinigte Königreich beendeten Mitte 2022 ihre Importe von Erdöl und Erdölprodukten aus Russland.“

Außerdem habe sich Russland dem Druck der Sanktionen teilweise entziehen können, indem es seine Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten, die sich den Sanktionen nicht anschlossen, ausweitete (kaukasische und zentralasiatische Nachbarstaaten, China, Indien, Türkei, Singapur, Vereinigte Arabische Emirate).

Auch hätten sich längst nicht alle Unternehmen aus den Sanktionen verhängenden Ländern aus Russland zurückgezogen.

Gemeinschaftsdiagnose: „Florierende Sanktionsumgehungsindustrie“

Die Projektgruppe „Gemeinschaftsdiagnose“ der deutschen Konjunkturforschungsinstitute weist in ihrer am Mittwoch veröffentlichten „Frühjahrsprognose“ auch darauf hin, dass es Russland gelungen sei, einen Teil der Sanktionen erfolgreich zu umgehen. Zur Entwicklung des russischen Außenhandels heißt es dort:

„Der Außenhandel ging nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zunächst stark zurück, belebte sich im Verlauf des Jahres aber wieder. Zwar blieben die Einfuhren aus Europa bis zuletzt sehr niedrig, gleichzeitig erhöhten sich die Importe aus China, Indien und der Türkei aber deutlich, und in Ländern wie Kasachstan und Turkmenistan ist offenbar eine florierende Sanktionsumgehungsindustrie entstanden.

Bei den Exporten sind Rückgänge im Volumen vor allem beim Erdgas zu verzeichnen, während die Ölausfuhrmenge gegen Jahresende nur wenig unter dem Vorkriegsstand lag.“

Seit Anfang 2023 treiben die Sanktionen das Budgetdefizit stark nach oben

Die Institute stellen aber gleichzeitig fest, dass die gegen Russland verhängten Sanktionen seit Anfang 2023 immer spürbarer werden:

„Vor allem haben die Anfang Dezember 2022 beziehungsweise Anfang Februar 2023 in Kraft gesetzten EU-Embargos auf Öl und Ölprodukte sowie der Ölpreisdeckel von 60 US-Dollar pro Barrel auf international gehandeltes Öl den Preis für russisches Öl stark unter Druck gesetzt und die Staatseinnahmen aus Gas- und Erdölgeschäften in den ersten zwei Monaten dieses Jahres deutlich verringert. Dies hat zusammen mit stark gestiegenen Staatsausgaben zu einem hohen Budgetdefizit geführt.“

Der private Konsum sank deutlich, die Anlageinvestitionen wuchsen spürbar

Zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion, ihrer Verwendung und der Preisentwicklung in Russland heißt es in der „Gemeinschaftsdiagnose“:

Nach einem erheblichen Einbruch der Wirtschaft im Frühjahr nahm … die wirtschaftliche Aktivität trotz der Wirtschaftssanktionen im weiteren Verlauf des Jahres wieder zu. Während der private Konsum deutlich zurückging, expandierten die Anlageinvestitionen spürbar. Dieser Anstieg ist maßgeblich auf staatliche Infrastrukturinvestitionen und öffentlich geförderte Investitionsprojekte zurückzuführen, die bereits vor dem Jahr 2022 begonnen wurden. Zudem wurde die Rüstungsproduktion stark ausgeweitet.

Die Inflationsrate ist im Vorjahresvergleich zwar bis zuletzt weiter gesunken, die laufende Inflation hat aber in den vergangenen Monaten wieder angezogen, wohl auch weil der Rubel im Winter spürbar an Wert verloren hat.“

Nach schwachem Produktionsrückgang niedrige Wachstumsaussichten

„Alles in allem“ erwarten die Institute in ihrer „Gemeinschaftsdiagnose“ für den Jahresdurchschnitt 2023 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 1,0  Prozent und für das kommende Jahr einen Anstieg um 1,5 Prozent.

Sie argumentieren, die Wachstumsaussichten für die russische Wirtschaft seien auch deshalb getrübt, weil durch die Teilmobilmachung und die Abwanderung schätzungsweise eine Million qualifizierte Arbeitskräfte fehlten. Zudem beeinträchtige das westliche Exportverbot für Hochtechnologie die Wachstumsaussichten. 

Die BIP-Prognosen der „Gemeinschaftsdiagnose“ entsprechen fast genau dem Mittelwert der Prognosen, den die russische Zentralbank vor einem Monat nach ihrer Umfrage bei vorwiegend russischen Banken und Instituten errechnete. Die im Jahr 2023 zu erwartende Rezession war Mitte März vom Kieler Institut für Weltwirtschaft auf 0,4 Prozent und vom Münchner ifo Institut auf 0,5 Prozent veranschlagt worden. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hatte einen Rückgang des BIP um 1,1 Prozent und das  RWI Essen um 2,8 Prozent prognostiziert.

BIP-Prognosen 2022 bis 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Götz: Wandel zu „Kriegswirtschaft“ und „Stagnation“ zu erwarten

Roland Götz informiert in seiner Analyse auch detailliert über die Veränderungen der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts und der Beiträge der Wirtschaftsbereiche zur Erstellung der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Er meint zu den Perspektiven der russischen Wirtschaft:

„Wahrscheinlich wird … der voraussichtlich fortdauernde Krieg gegen die Ukraine eine Erhöhung des staatlichen Verbrauchs und der staatlichen Investitionen (einschließlich der Waffenproduktion) mit sich bringen, während der private Konsum abnehmen wird. Auch der Spielraum der Investitionen für zivile Zwecke wird geringer werden. Russlands Volkswirtschaft wird sich so zunehmend in eine Kriegswirtschaft verwandeln, die zwar nicht kollabieren, aber langfristig von Stagnation geprägt sein wird.“

UniCredit: Die Rezession beschleunigt sich 2023 etwas auf 2,5 Prozent

Die Mailänder Großbank UniCredit veröffentlicht vierteljährlich ausführliche Konjunkturberichte für die Staaten in Mittel- und Osteuropa. Ende März erschien „CEE Quarterly“ für das 2. Quartal 2023 (86 S.; deutsche Übersetzung bald bei Bank Austria).

Die Moskauer UniCredit-Analysten Artem V. Arkhipov und Ariel Chernyy haben ihre Prognose für den diesjährigen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem letzten Quartalsbericht jetzt zwar auf 2,5 Prozent halbiert. Damit beurteilen sie die Aussichten für die Produktionsentwicklung der russischen Wirtschaft aber immer noch skeptischer als die Mehrheit der Analysten.

Die Prognose der UniCredit-Analysten, dass sich der Rückgang des BIP 2023 etwas beschleunigt, wird von namhaften anderen Instituten geteilt, zum Beispiel von der „Economist Intelligence Unit“ (- 2,4 %) und von der Pariser OECD (- 2,5 %).

Der voraussichtliche BIP-Rückgang um 2,5 Prozent ergibt sich laut UniCredit unter anderem aus folgenden Entwicklungen (siehe folgende Tabelle):

Die Anlageinvestitionen, die im Jahr 2022 noch um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr erhöht wurden, sinken im laufenden Jahr um 3,0 Prozent. Bisher hatte UniCredit mit einem gut doppelt so starken Rückgang um 7 Prozent gerechnet. Jetzt rechnet UniCredit mit einem viel schwächeren Rückgang der Anlageinvestitionen, weil die öffentlichen Ausgaben seit Oktober 2022 real um über 30 Prozent erhöht worden seien.

Der Rückgang des privaten Verbrauchs setzt sich 2023 fort, die Abnahme ist aber mit 0,9 Prozent nur noch halb so stark wie 2022.

Der öffentliche Verbrauch, der 2022 stark erhöht wurde (+ 2,8 Prozent), wird 2023 kaum weiter wachsen (+ 0,4 Prozent).

Makroökonomische Daten und Prognosen

UniCredit: CEE Quarterly March 2023, 29.03.23

Auf quantifizierte Prognosen zur Entwicklung der Exporte und Importe verzichtet UniCredit zwar. Die folgende Abbildung lässt jedoch erkennen, dass laut UniCredit die Entwicklung des „Netto-Exports“ im Jahr 2023 für die Beschleunigung des Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts auf 2,5 Prozent verantwortlich sein wird. Die Zunahme des Beitrags des „Netto-Exports“ (unterer grauer Säulenabschnitt) lässt den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf 2,5 Prozent steigen (rote Linie).

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts in Prozent (rote Linie)

Beiträge von Verbrauch, Investitionen und Netto-Export in Prozentpunkten

UniCredit: CEE Quarterly March 2023, 29.03.23

2024 erwartet UniCredit den Beginn der Erholung der russischen Wirtschaft mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 1,7 Prozent. Er soll sich laut der Prognose vor allem aus dem Anstieg des privaten Verbrauchs ergeben (+ 3,3 Prozent). Der öffentliche Verbrauch wird im nächsten Jahr hingegen gesenkt (- 1,1 Prozent). Die Anlageinvestitionen dürften nicht weiter sinken, sondern um 1,2 Prozent erhöht werden.

Starker Rückgang der Inflationsrate auf 5,3 Prozent im Jahresdurchschnitt 2023

Im Jahresdurchschnitt 2022 verdoppelte sich der Anstieg der Verbraucherpreise auf 13,8 Prozent. Im Dezember 2022 betrug die jährliche Inflationsrate noch 11,9 Prozent (rote Linie in der folgenden Abbildung).

UniCredit geht davon aus, dass sich der Verbraucherpreisanstieg gegenüber dem Vorjahresmonat im Frühjahr 2023 für kurze Zeit auf unter 4 Prozent, das von der Zentralbank angestrebte Inflationsziel, abschwächt (graue, horizontale Linie), weil der Verbraucherpreisindex im Frühjahr 2022 sehr stark gestiegen ist.

Bis zum Dezember 2023 wird der Preisanstieg laut der Prognose voraussichtlich aber wieder auf 6,0 Prozent anziehen. UniCredit rechnet im zweiten Halbjahr mit einer Beschleunigung des Anstiegs der saisonbereinigten monatlichen Inflationsrate. Die Analysten verweisen auf eine voraussichtliche Verknappung des Angebots an Arbeitskräften und eine Rubel-Abwertung. Preistreibende Effekte könnten auch von einem beschleunigten Anstieg der öffentlichen Ausgaben ausgehen.

Im Jahresdurchschnitt 2023 erwartet UniCredit aber einen starken Rückgang der Inflationsrate von 13,8 Prozent auf 5,3 Prozent. Das „Inflationsziel“ der Zentralbank von 4 Prozent könne im Dezember 2024 erreicht werden.

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent und Leitzins der Zentralbank in Prozent

UniCredit: CEE Quarterly March 2023, 29.03.23

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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