„Wirtschaftsweise“ und ACRA heben Russland-Prognosen stark an

Prognosen zur Entwicklung der russischen Wirtschaft sind umstritten wie selten zuvor. Die Unsicherheit ist hoch, die Datenbasis dünner als früher. Fast alle Analysten erwarten erst 2024 ein Wachstum. Wie entwickelt sich das Wirtschaftswachstum in den nächsten Monaten?

Ende Januar revidierte der Internationale Währungsfonds seine Prognose für die diesjährige Produktionsentwicklung der russischen Wirtschaft um 2,6 Prozentpunkte, von – 2,3 Prozent auf + 0,3 Prozent. Damit setzte er sich vom „Konsens“ der Analysten weit nach oben ab. In einer Reuters-Umfrage wurde damals für 2023 im Durchschnitt noch ein weiterer Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 2,0 Prozent erwartet. Inzwischen haben sich aber etliche renommierte Institute der Einschätzung des IWF stark genähert.

IWF wies Kritik an seiner Wachstumsprognose zurück

Im Februar hatte sich an der Einschätzung vieler Analysten noch wenig geändert. Der „Konsens“ in der Reuters-Umfrage betrug Anfang März noch – 1,9 Prozent. Scharfe Kritik an der Wachstums-Prognose des IWF wurde laut. Die Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat bezeichneten einige Beobachter als völlig unglaubwürdig (Deutsche Welle-Interview mit Prof. Jeffrey Sonnenfeld, Yale School of Management; Fortune-Artikel).

Angesprochen auf die Kritik verwies die General-Direktorin des IWF, Kristalina Georgieva,  in einem CNN-Interview am 8. März darauf, dass der IWF seine mittelfristigen Produktionserwartungen für Russland deutlich gesenkt habe. Der Ukraine-Krieg werde „verheerende“ Folgen für die russische Wirtschaft haben. In einer Stellungnahme gegenüber „RadioFreeEurope/RadioLiberty“ erklärte der IWF, er erwarte im Jahr 2027 in Russland jetzt ein rund 7 Prozent niedrigeres reales Bruttoinlandsprodukt als in seiner vor dem Krieg erstellten Prognose.

IWF-Kritik fehl am Platz

Mike Eckel, Autor des RFE/RL-Artikels „Standard Deviations: How An IMF Forecast For Russia Kicked Up A Storm“, bat auch Iikka Korhonen, Leiter des „Institute for Emerging Economies“ der Bank of Finland (BOFIT) um eine Stellungnahme zum Streit über die Russland-Prognosen.

Die Kritik am IWF sei fehl am Platz („off base“) meint Korhonen. Vernünftige Menschen könnten zu unterschiedlichen Prognosen kommen, insbesondere wenn sie von unterschiedlichen Annahmen ausgingen. Er verwies darauf, dass auch einige Investmentbanken mit einem Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 rechnen. Die Prognose von J.P. Morgan (+ 1 Prozent) sei noch optimistischer als die Prognose des IWF.

Korhonen merkte allerdings an, dass es „Unstimmigkeiten“ in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für 2022 gebe. Die Angaben zur Entwicklung der Investitionen finde er angesichts des starken Rückgangs der Einfuhren von Maschinen und Ausrüstungen „seltsam“ („strange“).

„Wirtschaftsweise“ und russische Rating-Agentur nähern sich der IWF-Prognose

Im März hoben weitere Beobachter ihre Produktionsprognosen für die russische Wirtschaft kräftig an. Dazu gehören der „Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, deutsche Konjunkturforschungsinstitute und die russische Rating-Agentur ACRA. Sie erwarten jetzt für 2023 einen deutlich schwächeren Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts als noch vor wenigen Monaten. Anders als der IWF prognostizieren sie im Durchschnitt des Jahres 2023 aber noch kein Wachstum der russischen Wirtschaft. Mit einer schwachen Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion rechnen die meisten Analysten erst 2024.

„Wirtschaftsweise“ revidieren ihre Prognose für 2023 um fast 5 Prozentpunkte

Der deutsche „Sachverständigenrat“ hat seine Rezessionsprognosen für die russische Wirtschaft in der letzten Woche besonders stark abgeschwächt. Anfang November erwarteten die „Wirtschaftsweisen“ in ihrem Jahresgutachten noch, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands im Jahr 2022 und auch im Jahr 2023 um jeweils 5,2 Prozent sinken wird. Dabei wiesen sie auf die große Unsicherheit der Prognose hin (S. 33). Gut vier Monate später gehen sie in der Aktualisierung ihrer Konjunkturprognose für 2023 und 2024 jetzt davon aus, dass Russlands BIP im letzten Jahr nur halb so stark wie von ihnen erwartet gesunken ist (- 2,6 Prozent).

Für das Jahr 2023 rechnet der Sachverständigenrat sogar nur noch mit einem weiteren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 0,5 Prozent. Damit schließt er sich den Prognosen des Münchner ifo Instituts (- 0,5 Prozent) und des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (- 0,4 Prozent) an. Hinter der Erwartung des Internationalen Währungsfonds, dass die russische Wirtschaft schon im Jahresvergleich 2023/2022 wieder etwas wächst (+ 0,3 Prozent) bleiben diese deutschen Prognosen nur noch wenig zurück.

Russische Rating-Agentur ACRA folgt dem Konsens der Zentralbank-Umfrage

Auch ACRA, die russische „Analytical Credit Rating Agency“, hat ihre Prognose für die diesjährige Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion jetzt deutlich angehoben. Ende November erwartete sie noch, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt nach einem Rückgang um 4,0 Prozent im Jahr 2022 im Jahr 2023 um 2,8 Prozent sinken werde. Jetzt geht ACRA davon aus, dass sich die Rezession von 2,1 Prozent im letzten Jahr auf 1 bis 1,5 Prozent im laufenden Jahr abschwächt. Diese Prognosespanne der Rating-Agentur deckt den Mittelwert der Prognosen bei der jüngsten Analysten-Umfrage der Zentralbank ab (- 1,1 Prozent).

Ein Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts erwartet ACRA wie die von der Zentralbank befragten Analysten in Russland erst im nächsten Jahr. 2024 dürfte die gesamtwirtschaftliche Produktion laut ACRA um 0,8 bis 1,8 Prozent steigen (Mittelwert der Zentralbank-Umfrage: + 1,5 Prozent). Der IWF schätzt auch die Wachstumsaussichten für 2024 noch etwas günstiger ein (+ 2,1 Prozent).

BIP-Prognosen 2022 bis 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

ACRA-Prognose für die BIP-Entwicklung im Jahresverlauf 2023

Die Rating-Agentur illustriert ihre Prognose, dass das reale Bruttoinlandsprodukt 2023 rund 1,5 Prozent niedriger sein dürfte als 2022, mit folgender Abbildung der vierteljährlichen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Das Statistikamt Rosstat hat bisher Daten für die Entwicklung der Produktion bis einschließlich des dritten Quartals 2022 veröffentlicht (grüne Linie). ACRA berechnete aus den Rosstat-Angaben einen Index mit dem Wert 1 für das reale Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt des Jahres 2021 (linke horizontale schwarze Linie). Laut der ersten Rosstat-Schätzung sank das reale Bruttoinlandsprodukt im Jahresvergleich 2022 gegenüber 2021 um 2,1 Prozent.

Vierteljährliche Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts 2021 bis 2023
(2021=1, saisonbereinigt)

ACRA Rating: Struggle of Plus and Minus: GDP, Structure, Growth, 22.03.23

Die von der Rating-Agentur in ihrem Basisszenario erwartete vierteljährliche Entwicklung des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts nach dem dritten Quartal 2022 zeigt die blaue Linie. ACRA rechnet damit, dass sich die gesamtwirtschaftliche Produktion im vierten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023 noch etwas weiter von ihrem tiefen Einbruch im zweiten Quartal 2022 erholt hat.

Im zweiten Quartal 2023 erwartet ACRA aber einen erneuten Rückgang des BIP. Die folgende Erholung im dritten und vierten Quartal 2023 wird nach Einschätzung von ACRA diesen Rückgang nur etwa zur Hälfte aufholen. Die rechte schwarze horizontale Linie signalisiert: Im Jahresdurchschnitt 2023 wird das BIP rund 1,5 Prozent niedriger sein als 2022. Hauptgrund dafür ist, dass das BIP laut ACRA im ersten Quartal 2023 rund 5 Prozent niedriger sein dürfte als im ersten Quartal 2022. Im zweiten, dritten und vierten Quartal 2023 wird die Produktion ihr Vorjahresniveau hingegen nur sehr wenig unterschreiten.

Neben dem Basisszenario hat ACRA ein „optimistisches“ und ein „pessimistisches“ Szenario entwickelt. Im „optimistischen“ Szenario rechnet ACRA für den Jahresdurchschnitt 2023 mit einem Wachstum des BIP um 0,6 bis 1,4 Prozent, im „pessimistischen“ Szenario mit einem Rückgang des BIP um 3,2 bis 2,4 Prozent.

ACRA: 2023 wachsen Privater Verbrauch und Brutto-Investitionen

Obwohl das reale Bruttoinlandsprodukt laut der ACRA-Prognose 2023 weiter sinken wird (- 1,5 Prozent), erwartet die Rating-Agentur für dieses Jahr ein Wachstum des Privaten Verbrauchs (+ 1,8 Prozent). Dabei werde hauptsächlich der Verbrauch von Nahrungsmitteln und Dienstleistungen steigen. Basis dafür sei bei höheren Löhnen und Sozialeinkommen eine Zunahme der real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung um 1,1 bis 1,9 Prozent.

Auch bei den realen Bruttoinvestitionen erwartet ACRA einen Anstieg. Die Anlageinvestitionen würden zwar voraussichtlich leicht sinken. Einschließlich der Lagerinvestitionen ergebe sich aber ein Anstieg der Investitionen um 1,2 Prozent.

Gebremst werde die gesamtwirtschaftliche Produktion vom Rückgang des realen staatlichen Verbrauchs (- 0,4 Prozent) und von der außenwirtschaftlichen Entwicklung. Die realen Einfuhren dürften kräftig steigen (+ 12,0 Prozent), die realen Ausfuhren etwas sinken (- 1,5 Prozent).

Das föderale Haushaltsdefizit steigt nur 2023 noch weiter

ACRA rechnet damit, dass das Defizit im föderalen Haushalt 2023 auf 2,6 bis 3,0 Prozent des BIP ausgeweitet wird. Schon 2024 werde es aber auf 1,6 bis 2,2 Prozent des BIP verringert werden und 2025 auf 0,5 bis 1,3 Prozent des BIP.

Rückgang der Inflationsrate auf 5,2 im Jahresdurchschnitt

Im Jahresdurchschnitt 2023 erwartet ACRA einen Rückgang des Anstiegs der Verbraucherpreise auf 5,2 Prozent. Der Leitzins – aktuell 7,5 Prozent – werde auch im Jahresdurchschnitt 7,5 Prozent betragen.

Aktuelle Determinanten der Entwicklung der russischen Wirtschaft

ACRA hebt einige Trends hervor, die die konjunkturelle und regionale Entwicklung der russischen Wirtschaft bestimmen (s. dazu auch RBC.ru):

  1. Die Produktion im Öl- und Gasbereich sinkt 2023

ACRA erwartet 2023 einen Rückgang der Produktion im Öl- und Gasbereich um rund 3 bis 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Grund dafür seien die verschlechterten Ausfuhrmöglichkeiten nach Europa. Die Produktion in Ostsibirien und dem Fernen Osten könne sich günstiger entwickeln.

  1. Die Nachfrage nach Transportdienstleistungen verschiebt sich nach Süden

Als Folge der Sanktionen hat der direkte Handel Russlands mit Europa im letzten Jahr mengenmäßig laut ACRA um rund 35 Prozent abgenommen. Gleichzeitig ist der Handel Europas mit Nachbarländern Russlands gestiegen. Die „Parallelimporte“ Russlands stiegen. Die regionale Struktur der Nachfrage nach Transportdienstleistungen veränderte sich deswegen. Im Bereich der südlichen Grenzregionen Russlands, wo die Infrastruktur derzeit wenig entwickelt ist, gibt es eine verstärkte Nachfrage.

  1. Arbeitskräfte sind knapp

Besonders groß ist der Mangel an Arbeitskräften in Ballungsräumen. Dort entwickeln sich die Löhne überdurchschnittlich. Arbeitskräfte wandern in die Ballungsräume ab. Hochqualifizierte Arbeitskräfte sind besonders knapp. Sie können durch Zuwanderung von Arbeitskräften nur schwer beschafft werden.

  1. Die Halbierung der PKW-Produktion ist nicht schnell aufzuholen

ACRA erwartet, dass es lange dauern wird, bis die PKW-Industrie das Produktionsniveau des Jahres 2021 wieder erreicht. 2022 sei die Produktion um rund die Hälfte gesunken. Nachdem bisher beliebte Hersteller wegen der Sanktionen die Produktion in Russland aufgegeben hätten, bemühten sich russische Unternehmen zwar um Ersatz.  Aber selbst wenn die Montage vergleichbarer chinesischer Marken in Russland beginne,sei eine schnelle Rückkehr zum Produktionsniveau des Jahres 2021 kaum möglich.

  1. Höhere Rüstungsausgaben stützen die Industrieproduktion in einigen Regionen

Regionen mit einem hohen Anteil der Rüstungsindustrie (Rostow, Kurgan, Swerdlowsk, Brjansk) profitieren von erhöhten staatlichen Ausgaben. Die Industrieproduktion ist dort oft deutlich gestiegen, während sie in Russland insgesamt gesunken ist.

  1. Staatliche Investitionen in „Mega-Projekte“ werden wichtiger

Staatliche Investitionen in „Mega-Projekte“ gewinnen laut ACRA an Bedeutung. 2022 sei der Anteil des Staates und staatlicher Unternehmen an den Anlageinvestitionen um 4 Prozentpunkte gestiegen. ACRA prognostiziert aber, dass einem Wachstum der Anlageinvestitionen um 4,6 Prozent im Jahr 2022 eine Stagnation oder ein Rückgang um bis zu 0,8 Prozent im Jahr 2023 folgen werden.

  1. Staatliche Kredite für Infrastruktur-Investitionen und zur Refinanzierung von Unternehmen werden häufiger gewährt

2022 haben einige Regionen davon profitiert, dass Schulden von Unternehmen durch staatliche Kredite refinanziert wurden oder staatliche Kredite zur Finanzierung von Infrastruktur-Investitionen gewährt wurden. ACRA erwartet, dass künftig Regionen im Osten und Südosten Russlands von der Gewährung von staatlichen Krediten für Infrastrukturprojekte stärker begünstigt werden, weil dort höhere Investitionen geplant sind.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Analysten-Konsens: Russlands Rezession hält 2023 an, 20.03.23

Russlands Wirtschaft erholt sich langsam: Konsum- und Geschäftsklima gestiegen, 06.03.23

Russlands Wirtschaft fährt in eine langanhaltende Krise, 27.02.23

Russland: Wirtschaft und Gazprom unter Sanktionsdruck, 20.02.23

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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