Wieso Russland momentan noch weit von einer Deflation entfernt ist
Noch Ende 2015 lag die Inflationsrate in Russland im zweistelligen Bereich. Nun ist von einer Deflation die Rede. Was es damit auf sich hat und ob die russische Zentralbank nun den Leitzins senken wird, lesen Sie in diesem Artikel. Außerdem: Wie realistisch das Inflationsziel der Zentralbank ist und welchen Einfluss der Rubelkurs auf die Inflationsrate hat.
Die Inhalte des Artikels in Kürze:
- Russlands Verbraucherpreisindex stagnierte im August
- Anstieg gegenüber Vorjahresmonat aber immer noch 6,9 Prozent
- Wirtschaftsminister erwartet Mitte September weitere Zinssenkung
- Zentralbank will Inflationsrate bis Ende 2017 auf 4 Prozent drücken
- Wirtschaftsministerium und Analysten rechnen mit mehr Inflation
- Putin betont Unabhängigkeit der Zentralbank
Mitte August rieb sich mancher Leser wohl etwas verwundert die Augen: „Erste Deflation in Russland seit fünf Jahren“ hieß es in Schlagzeilen. Dabei hatte sich der Anstieg der Verbraucherpreise in Russland – getrieben von der starken Rubelabwertung – im Jahresdurchschnitt 2015 doch noch auf 15,5 Prozent verdoppelt. Am Jahresende 2015 waren die Preise 12,9 Prozent höher als Ende 2014. Und acht Monate später gibt es auch in Russland eine Deflation?
Preise nur kurzfristig leicht gesunken
Tatsächlich ist Russland von einer anhaltend deflationären Entwicklung (mit der Japan und einige westliche Industriestaaten kämpfen) weit entfernt. Lediglich in der ersten August-Woche waren die Preise um 0,1 Prozent niedriger als in der vorangegangenen Woche.
Die russische Statistikbehörde Rosstat hat jetzt die Ergebnisse für den gesamten Monat August veröffentlicht. Danach stagnierte der Index im August auf dem Stand vom Juli. Im Vergleich zum August 2015 haben sich die Verbraucherpreise insgesamt um 6,9 Prozent erhöht. Etwas unterdurchschnittlich stiegen dabei die Preise von Nahrungsmitteln (+6,5 Prozent).
Weitere Leitzinssenkung im September?
Am 16. September wird die Zentralbank beraten, ob die Inflationsentwicklung eine weitere Senkung des Leitzinses zulässt. Ende Juli hatte sie den Leitzins bei 10,5 Prozent belassen, nachdem sie am 10. Juni erstmals seit elf Monaten eine Senkung beschlossen hatte.
Für eine erneute Zinssenkung spricht neben dem Rückgang der Inflationsrate dass sich nach Mitteilung der Zentralbank auch die Inflationserwartungen vermindert haben.
Wirtschaftsminister Ulyukayev meinte auf Nachfrage von Journalisten, er erwarte eine weitere Senkung des Leitzinses um einen halben Prozentpunkt. Laut Prime sagte er: “We expect (a key rate decrease). It will be funny if they do not do this now. They had to do this long ago … .”
Inflationsziel der Zentralbank wohl nicht erreichbar
Die Zentralbank strebt an, die Inflationsrate bis Ende 2017 auf 4 Prozent zu senken. Bis Ende 2016 erwartet sie einen Rückgang auf 5 bis 6 Prozent.
Das Wirtschaftsministerium geht in seinem Entwurf für eine Aktualisierung seines Basisszenarios, über den Vedomosti Ende August berichtete, auch davon aus, dass die Inflationsrate Ende 2016 auf 5,8 Prozent sinkt. Den von der Zentralbank angestrebten Rückgang bis Ende 2017 auf 4 Prozent nimmt das Wirtschaftsministerium aber nicht an. Im Basisszenario hält es nur einen Rückgang auf 4,9 Prozent für erreichbar.
Analysten rechneten bei einer Reuters-Umfrage im August damit, dass die Preise Ende 2017 wohl sogar noch etwas mehr um 5,1 Prozent steigen. Ende 2016 erwarten sie sogar noch 7,1 Prozent Inflation, also deutlich mehr als die Zentralbank und Wirtschaftsministerium.
Wie der Wirtschaftsminister erwarten auch die befragten Analysten mehrheitlich eine Zinssenkung um 0,5 Prozentpunkte auf 10 Prozent bei der nächsten Sitzung der Zentralbank. Vor Jahresende werde es noch eine weitere Senkung auf 9,5 Prozent geben.
Eine ständig aktualisierte tabellarische Übersicht von Prognosen zur russischen Inflationsentwicklung bietet Factosphere.
Wechselkursentwicklung für Inflationsrate wichtig
Wie sich die Inflation entwickeln wird, dürfte weiterhin in hohem Maße von der Entwicklung des Rubel-Kurses abhängen. Die starke Abwertung des Rubel, die Einfuhren nach Russland verteuerte, war schließlich einer der wichtigsten Treiber der Inflation im letzten Jahr.
Die russische Zentralbank hatte die Abwertung möglich gemacht, als sie Ende 2014 entschied, den Wechselkurs nicht mehr durch Interventionskäufe zu verteidigen. Dafür wurde Zentralbankpräsidentin Nabiullina erst kürzlich wieder im „Wall Street Journal“ mit viel Lob bedacht („The Woman Who Revived Russia’s Markets”).
Die „Freigabe“ des Wechselkurses und die folgende drastische Zinserhöhung seien für die russische Wirtschaft und die Verbraucher zwar sehr schmerzhaft gewesen. Diese Maßnahmen trügen aber maßgeblich dazu bei, das Vertrauen internationaler Investoren in die russische Wirtschaft zurückzugewinnen, meint das WSJ.
Als Hinweise auf mehr Vertrauen von Investoren erwähnt die Zeitung, dass der MICEX Aktien-Index ein neues Rekordhoch erreichte und der Rubelkurs in diesem Jahr stieg.
Das Wall Street Journal weist aber gleichzeitig auf viele warnende Stimmen hin. Zum einen profitierten die Kapitalmärkte in Emerging Markets wie Russland davon, dass die Zinsen in den USA bisher noch nicht angehoben worden seien. Skeptiker gingen außerdem davon aus, dass die Aufwärtsentwicklung an den Kapitalmärkten in Russland nicht den tatsächlichen Verbesserungen der wirtschaftlichen und politischen Lage entspräche. Es fehle nach wie vor an strukturellen Reformen, zum Beispiel bei der Liberalisierung der Arbeitsmärkte und der Privatisierung von staatlichen Unternehmen. Wenn sich die Aussichten auf Zinserhöhungen in den USA verstärkten oder die Ölpreise sänken, könnte Kapital abfließen und der russische Kapitalmarkt rasch wieder unter Druck geraten.
Auch Leonid Bershidsky warnt in seinem Bloomberg-Kommentar, den Anstieg des Rubelkurses als Zeichen für eine Erholung der russischen Wirtschaft zu deuten. Die wirtschaftliche Lage biete keinen Grund zur Rechtfertigung des Aufschwungs an den russischen Kapitalmärkten. Er meint sogar, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die russische Regierung und die Zentralbank gezwungen seien, Maßnahmen zur Schwächung des Rubel zu ergreifen, um den Anstieg des russischen Haushaltsdefizits zu begrenzen.
Putin betont Unabhängigkeit der Zentralbank
Präsident Putin unterstrich in seinem Bloomberg-Interview Anfang September hingegen die Unabhängigkeit der russischen Zentralbank. Angesprochen auf seine kürzlichen Äußerungen zur Entwicklung des Rubelkurses, die verschiedentlich als Kritik an der Zentralbank verstanden wurden, sagte er:
[accordion open_icon=”camera-retro” closed_icon=”camera-retro”] [toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”] Quelle: Titelbild und Bild der russischen Zentralbank: Simon Schütt [/su_spoiler]“I did not express any disagreement, did not complain. I simply noted that one of the groups, especially exporters, would prefer to have a weaker rouble.” …
„I did not criticize the Central Bank’s position. I have always thought and I still think that the Central Bank should act independently. Indeed, it does, you can take my word. I do not interfere in the decisions of the Central Bank and I do not give instructions to the Bank management or to its head.” …
“If I said that the ruble had become too strong, I did not say that the Central Bank’s position was wrong, I said that it added pressure to export-oriented sectors of economy. We all understand that this is true. When the ruble is weaker, it is easier to sell, to produce here for a cheap ruble and sell for an expensive dollar, get revenue in dollars and then exchange it for rubles and get a bigger income.”
Andrey Ostroukh: Slowing inflation raises chance of Russia rate cut; Market Watch, 05.09.2016
Reuters Graphic: Russia inflation breakdown – August 2016; 05.09.2016
TradingEconomics: Russia Inflation Eases to 6.9% in August; 05.09.2016
Rosstat: Verbraucherpreisindex im August 2016; 05.09.2016
Prime: Russian econ min says inflation at zero Aug, cbank can cut key rate; 05.09.2016
Factosphere.com: Inflation in Russia; 05.09.2016
Olga Tanas: Ruble Lulls Inflation to New Lows to Pave Way for Rate Cuts; Bloomberg, 05.09.2016
Kremlin.ru: Interview to Bloomberg, 05.09.2016;
Bloomberg: Putin Discusses Trump, OPEC, Rosneft, Brexit, Japan; Transcript; 05.09.2016
Andrey Ostroukh: Russia May Cut Key Rate as Inflationary Expectations Ease; WSJ, 01.09.2016
Reuters.ru: Опрос Reuters: экономисты ждут снижения ставки ЦБР на 50 б.п. раз в квартал, начиная с сентября; 01.09.2016
Vedomosti: Бюджету 2017–2019 годов нужна нефть не дешевле $50–55 за баррель; 30.08.2016
Carolyn Cui, Andrey Ostroukh: The Woman Who Revived Russia’s Markets; WSJ, 23.08.2016
Alexej Lossan: Sinkende Preise: Russlands erste Deflation seit fünf Jahren; RBTH, 16.08.2016
Leonid Bershidsky: The Strong Ruble Doesn’t Mean a Russian Recovery; Bloomberg, 12.08.2016
Klaus Dormann: Was hinter der Inflationsentwicklung in Russland steckt; 29.04.2016
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