Sprachkolumne: Fremde, Freunde und Verräter

So lernt ihr das kyrillische Alphabet in fünf Kategorien

In unserer Sprachkolumne widmen wir uns fortan der Plackerei des Russischlernens. Heute wirft unser Autor einen unverblümten Blick auf das zunächst wirr anmutende kyrillische Alphabet.

“Aber du kannst doch die Schrift gar nicht!” Diesen Satz bekam ich öfter zu hören, als ich Freunden oder Verwandten meine Russland-Pläne eröffnete. Der gemeine Westdeutsche kennt kyrillische Schriftzeichen eigentlich nur aus Sowjet-Propagandaplakaten im Geschichtsbuch oder Hollywoodfilmen, in denen die Protagonisten zwischendurch im finsteren Russland landen.

Auf den ersten Blick ist das kyrillische Alphabet ein Sammelsurium aus bekannten, missratenen bekannten und fremden Zeichen. Wen wundert es da noch, dass schon die Historie des Alphabets viele Fragen offen lässt: Kyrillisch ist nach einem Mann benannt, der eigentlich ein anderes Alphabet erfunden hat… Man darf sich also auf einigen Ärger einstellen. Vor allem die Zeichen, die man schon aus der gewohnten lateinischen Schrift kennt, machen einem anfangs das Leben schwer: In den meisten Fällen stehen sie nämlich für einen völlig anderen Laut. Aber macht euch keine Sorgen: Kyrillisch ist kein Chinesisch, und wer will, hat es schnell gelernt. Meine Einteilung der Zeichen soll euch einen ersten Überblick verschaffen!

Wahre Freunde

Beginnen wir mit den treuen Seelen, die im Kyrillischen die gleiche Bedeutung haben wie in der lateinischen Schrift. Derer sind nicht allzuviele:

A, K, T, M = А, К, Т, М

Hier, lernt also euer erstes russisches Wort: Мама.

Halbe Freunde

Erster Kontakt mit Kyrillisch: Sowjetplakat im Geschichtsbuch

Dann haben wir Kandidaten, die im wesentlichen das Gleiche bedeuten, aber oft auch wieder nicht. Е und е werden nämlich meistens ausgesprochen wie “Je”.

Besonders nervig sind О und о. Man kann sich nie ganz sicher sein, ob sie nicht doch wie ein “A” ausgesprochen werden sollen. Das hängt mit der Betonung zusammen, die aber leider keiner Regelmäßigkeit folgt und auch aus dem Geschriebenen nicht ersichtlich ist. Übrigens ist die Betonung auch für die Bedeutung eines Wortes sehr wichtig. Viel Spaß, wenn ihr das erste Mal auf russisch ausdrücken wollt, dass ihr gerne “schreibt”.

Das С wird zwar gesprochen wie ein “S”, aber da wir derlei schon aus dem Englischen kennen (center, cesar salad), zähle ich es zu den Halbfreunden.

Missratene Bekannte

Ja, bei diesen Herren fragt man sich, welche Weihräuche sich die Herren Mönche da gegönnt haben. Irgendwas lief jedenfalls schief.

  • Яя : Das umgedrehte R ist kein R, sondern ein “Ja”. “Я” übersetzt heißt “ich”, jetzt kennt ihr schon zwei Wörter.
  • Ии : Könnte ein H sein oder ein spiegelverkehrtes N, bedeutet aber: I
  • Зз : Diese astreine Drei steht für ein stimmhaftes, summendes S. Nicht zu verwechseln mit:
  • Ээ : Diese Mischung aus Drei und umgekehrten €uro-Zeichen symbolisiert einen breiten Ä-Laut.

Falsche Freunde

So, diese Zeichen habens aus dem Lateinischen rübergeschafft, allerdings ging deren Bedeutung beim Übersetzen flöten. (Oder hat das andere Gründe? Linguisten vor!)
Vor allem am Anfang hat man mit diesen Verrätern eigentlich mehr Probleme als mit den völlig fremden Zeichen. Es kann auch gut sein, dass ihr über eines davon auch nach Monaten immer noch stolpert.

Уу = lateinisches U

Нн = lateinisches N

Рр = lateinisches R. Gut, manchmal kann man sich erklären woher es kommt, vgl. den Buchstaben Rho aus dem griechischen Alphabet. Aber warum so willkürlich??

Хх = kehliges H (so wie die Spanier “jajaja” lachen, lachen die Russen “xахаха”).  Der deutsche “H”-Laut hat übrigens kein Pendant, es gibt nur ein kehliges Х oder der Buchstabe wird einfach durch ein Г (=G) ersetzt. Bisher konnte mir noch niemand sagen, wieso das so ist. Jedenfalls ist in Moskau “Alkogol” in der Öffentlichkeit verboten und “German Gesse” ein vielgelesener Schriftsteller. Wirklich!

Вв = leider kein deutsches B (genauso wenig wie ‘Ьь’), sondern eher ein W. Die Spanier werden sich freuen.

Fremde Zeichen

Diese fallen wie gesagt einfacher, weil man sie nicht mit bekannten Zeichen verwechselt. Allerdings sind die verbundenen Klänge teilweise sehr ähnlich. Westeuropäer brechen sich gerne die Zunge an den verschiedenen “Tsch”- und “Sch”-Lauten:

Ч, Ш, Щ, Ж  entsprechen etwa “Tsch”, “Sch”, “Schsch” und dem stimmhaften “zh” wie bei “Garage”.

Dann haben wir das Ы : eine Mischung aus “I” und “Ü” ähnlich dem Laut, der euren Lippen bei einem Stoß in die Magengrube entweicht. Ansonsten:

Фф  = F

Дд  =  D

Бб = B

Юю = “Ju”

Цц = Z

Гг = G

Йй = J

Ёё = “Jo”

Лл = L

Пп = P

Und zu guter Letzt: Ь und Ъ. Diese beiden nerven nicht nur deswegen, weil man sie anfangs ständig als lateinisches “b” hernehmen möchte. Sie haben keinen eigenen Klang, verändern aber den der Nachbarbuchstaben und das in einer für den Anfänger kaum wahrnehmbaren Weise. Der Tipp für Neulinge: Einfach ignorieren.

Sich fühlen wie ein Sechsjähriger

Wer das alles gemeistert hat, darf dann weiter an der Schreibschrift verzweifeln. Da wird es nämlich noch eine Stufe unlogischer, aber dazu an einer anderen Stelle mehr. Jedenfalls: Wer sich wieder wie ein Sechsjähriger fühlen will, der jedes Wort in seinem Umfeld langsam und laut vorliest und sich dann freut, wenn er es entziffert hat: Lernt Kyrillisch! Es lohnt sich, und nicht nur, weil man endlich die in Ostberlin beliebten Hinweisschilder versteht:

Hinweisschild Ostberlin

Titelbild
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