Wie stark wächst die Wirtschaft weiter?
Der Anstieg der Verbraucherpreise beschleunigte sich im November im Vorjahresvergleich auf 8,4 Prozent. Die Inflationsbekämpfung steht weiter im Fokus der russischen Geldpolitik, die Zentralbank wird am Freitag über eine weitere Erhöhung des Leitzinses entscheiden.
Am 22. Oktober wurde der Leitzins von 6,75 auf 7,5 Prozent erhöht. Zentralbankpräsidentin Nabiullina ließ erkennen, dass eine weitere Anhebung zwischen 50 und 100 Basispunkten möglich ist. Mancher befürchtet, dass so das Wirtschaftswachstum gebremst wird.
Angesichts des auf Stabilität ausgerichteten Kurses der russischen Geld- und Finanzpolitik erwartet auch das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank nach der diesjährigen kräftigen Erholung der russischen Wirtschaft deutlich weniger Wachstum. In seinem „Basisszenario“ rechnet das Institut mit einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums von 4,2 Prozent im Jahr 2021 auf nur noch 2,2 bis 2,3 Prozent in den Jahren 2022 bis 2024. Andererseits hält das VEB-Institut aber auch ein Wachstum von mehr als 3 Prozent für erreichbar. Dafür erforderliche Maßnahmen nennt es in Szenarien einer Studie zu den Wachstumsperspektiven bis 2024.
Zentralbank-Umfrage: Analysten erwarten höhere Leitzinsen
Bei einer Befragung von Banken und Forschungsinstituten durch die Zentralbank in der ersten Dezember-Woche ergab sich für den Anstieg der Verbraucherpreise im Vergleich Dezember 2021/Dezember 2020 ein Mittelwert von 8,2 Prozent. Bei der letzten Befragung im Oktober hatte der Mittelwert der am Jahresende erwarteten Inflationsrate nur 7,0 Prozent betragen.
Auch die Inflationserwartungen für Ende 2022 sind in der Umfrage deutlich gestiegen. Im Dezember 2022 rechnen die Banken und Institute jetzt im Mittel mit einem Verbraucherpreisanstieg von 4,8 Prozent im Vorjahresvergleich (bisher: + 4,2 Prozent). Erst für Ende 2023 wird erwartet, dass die Zentralbank ihr angestrebtes Inflationsziel von 4,0 Prozent erreicht.
Die Befragten gehen dabei davon aus, dass der Leitzins von der Zentralbank im Durchschnitt des nächsten Jahres auf hohem Niveau gehalten wird. Sie erwarten, dass er 2022 imit 7,8 Prozent um 2 Prozentpunkte höher sein wird als im Jahr 2021 (Jahresdurchschnitt: 5,8 Prozent).
DekaBank: Weitere Leitzinserhöhung auf 8,5 Prozent zu erwarten
Daria Orlova, Russland-Expertin der Frankfurter DekaBank, meint in den am Freitag veröffentlichten „Emerging Markets Trends“, die Inflationsrate habe im November mit 8,4 Prozent oberhalb der Erwartungen der Zentralbank gelegen. Orlova geht davon aus, dass die Zentralbank „hawkish“ bleibt und sich am Freitag für eine deutliche Leitzinsanhebung um 100 Basispunkte auf 8,5 Prozent entscheidet. Damit rechnet auch Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin des Finanzportals Finam.ru.
Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt Russland der ING Bank, glaubt in seiner Analyse des Anstiegs der Verbraucherpreise im November auch, dass die Zentralbank bei der Leitzinserhöhung zu 100 Basispunkten tendieren dürfte.
Die folgende Abbildung der ING Bank zeigt die bisherige Erhöhung des Leitzinses auf 7,5 Prozent im Oktober (rote Linie) vor dem Hintergrund des beschleunigten Anstiegs der Verbraucherpreise. Er erreichte 8,4 Prozent im November (graue Fläche). Die Inflationserwartungen der Verbraucher (blaue Linie) stagnierten zuletzt auf hohem Niveau annähernd. Die Verbraucher nehmen an, dass die Preise in 12 Monaten um 13,5 Prozent höher sein werden.
Headline CPI keeps climbing, while households’ expectations are stable, but elevated
Dmitry Dolgin; ING Bank: Russian inflation in November: mounting pressure in durables is the key concern; 09.12.2021
In der ersten Dezember-Woche verringerte sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Vorjahresvegleich geringfügig auf 8,3 Prozent.
Im Jahresdurchschnitt 2021 wird sich nach Einschätzung der DekaBank der Anstieg der Verbraucherpreise auf 6,6 Prozent beschleunigen (fast eine Verdoppelung gegenüber dem Rezessionsjahr 2020, in dem die Preise nur um 3,4 Prozent stiegen). Auch 2022 sei im Jahresdurchschnitt mit 6,1 Prozent eine kaum niedrigere Inflation zu erwarten. Erst 2023 rechnet die DekaBank nur noch mit einem Preisanstieg von 4,1 Prozent.
Unveränderte Wachstumsprognose für 2021 – trotz „Corona-Welle“
Dabei geht Daria Orlova davon aus, dass die russische Wirtschaft ihre „Nachkrisenerholung“ inzwischen abgeschlossen hat. Von den jüngsten „Corona-Restritionen“ erwartet sie lediglich eine „vorübergehende Konjunkturdelle“. Sie bleibt bei ihrer Prognose, 2021 werde das Bruttoinlandsprodukt um 4,2 Prozent wachsen.
Die aktuelle Produktionsentwicklung im Herbst 2021 beschreibt Daria Orlova so:
„Die Indikatoren der Monate Oktober und November zeigen zwar, dass die Corona-Welle Spuren in der Konsumaktivität und im Dienstleistungssektor hinterlassen hat. Die Indikatoren aus dem Produktionssektor waren allerdings robust, unterstützt von der Ölfördermengenausweitung durch OPEC+.“
Ab 2022 sinkt das Wachstum deutlich
Schon im nächsten Jahr erwartet Orlova in Russland allerdings eine Rückkehr zu einem niedrigen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate dürfte nach ihrer Einschätzung 2022 auf 2,5 Prozent sinken und sich 2023 weiter auf nur noch 1,9 Prozent verlangsamen, also auf Wachstumsraten wie sie aufgrund struktureller Probleme vor der Pandemie zu verzeichnen gewesen seien.
Daria Orlova; DekaBank: Russland: Im Zentrum der geopolitischen Spannungen; in: Emerging Markets Trends; 10.12..2021
Die Wachstumsprognosen der DekaBank decken sich weitgehend mit dem Ergebnis der jüngsten Umfrage der Zentralbank. Dort wird im Mittel ein Rückgang der gesamtwirtschaftslichen Wachstumsrate von 4,3 Prozent (2021) auf 2,4 Prozent (2022) und 2,0 Prozent (2023) erwartet.
Damit haben sich die Wachstumsprognosen für 2021 und 2022 gegenüber der letzten Zentralbank-Umfrage vor zwei Monaten nicht geändert, obwohl es zwischenzeitlich einen starken Anstieg der Corona-Infektionen gegeben hat und zur Bekämpfung der Pandemie Beschränkungen der Produktion („arbeitsfreie Tage“) angeordnet wurden.
Vnesheconombank-Institut: Die Realeinkommen der privaten Haushalte sind noch rund 5 Prozent niedriger als 2013
Das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank kommt in einer in der letzten Woche veröffentlichten Prognose für den Fall, dass es keine Änderung der Haushalts- und Geldpolitik gibt („Basisszenario“), zu ähnlichen Einschätzungen wie die Zentralbank-Umfrage. Nach einem Wachstum von 4,2 Prozent im Jahr 2021 werde sich im Basisszenario das Wachstum 2022 auf 2,3 Prozent und 2023 auf 2,2 Prozent abschwächen.
Bei dieser Entwicklung wird das real verfügbare Einkommen der privaten Haushalte nach Einschätzung des VEB-Instituts erst 2024 wieder das im Jahr 2013 erreichte Niveau überschreiten. Die folgende Abbildung des VEB-Institust zeigt, dass die Einkommen schon vor der Corona-Krise im Vergleich zu dem im Jahr 2013 erreichten Niveau um rund 8 Prozent gesunken sind. Im „Lockdown-Jahr“ 2020 waren sie rund 9 Prozent niedriger als 2013. Die Erholung hat erst begonnen. 2021 waren die Einkommen voraussichtlich noch rund 5 Prozent niedriger als 2013.
Real verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, 2013=100
Vnesheconombank Institute: Prospects for 2022 and medium-term measures to accelerate the growth of the Russian economy; 08.12.2021
VEB-Institut: Russland wächst deutlich schwächer als die Weltwirtschaft
Im Basisszenario des VEB-Instituts wird erwartet, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2022 nur noch um 2,3 Prozent und in den beiden folgenden Jahren nur um 2,2 Prozent steigt. Damit bleibt das Wachstum der russischen Wirtschaft (dunkelgrüne Linie) klar unter dem für die Weltwirtschaft erwarteten Wachstum (hellgrüne Linie).
Reales Bruttoinlandsprodukt
Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Vnesheconombank Institute: Prospects for 2022 and medium-term measures to accelerate the growth of the Russian economy; 08.12.2021
Als Ursachen für die Abschwächung des Wirtschaftswachstums in Russland im „Basisszenario“ nennt das VEB-Institut:
- Ein geringer Anstieg der Einkommen lässt die Nachfrage der privaten Verbraucher nur wenig wachsen.
- Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie behindern die Produktion.
- Die Sparneigung steigt; Verbraucher und Unternehmen werden vorsichtiger.
Das „Basisszenario“ geht zudem von sinkenden Ölpreisen aus. Außerdem wird unter anderem angenommen, dass die Zentralbank weiterhin eine „relativ straffe“ Geldpolitik verfolgt.
Mehr Wachstum wäre aber möglich, wenn …
Um in den nächsten Jahren ein stärkeres Wachstum als 2,3 oder 2,2 Prozent zu erreichen, muss nach Ansicht des VEB-Instituts zum einen die Geldpolitik „gelockert“ werden. Außerdem seien vor allem höhere staatliche Ausgaben erforderlich.
Das VEB-Institut hat dazu zwei Szenarien entwickelt:
- Das Szenario „Prioritäre Maßnahmen“ sieht zusätzliche Ausgaben für vorrangige sozialpolitische Maßnahmen und eine „Anpassung“ der Ausfuhreinschränkungen vor.
- Das Szenario „Zusätzliche Maßnahmen“ beinhaltet außerdem weitere Ausgaben für sozialpolitische Zwecke, zusätzliche Ausgaben mit Finanzierung aus dem „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ und höhere staatliche Ausgaben für Wissenschaft, technologische Entwicklung, Bildung und Infrastruktur.
In dem folgenden Ausschnitt aus einer Tabelle des VEB-Instituts sind in den Spalten für die Jahre 2022 und 2023 jeweils die Prognosen für das Basisszenario und die Szenarien „Prioritäre Maßnahmen“ (1*) und „Zusätzliche Maßnahmen“ (2*) verzeichnet.
Im Szenario „Prioritäre Maßnahmen“ (1*) dürfte das Bruttoinlandsprodukt (demnach im Jahr 2022 um 2,8 wachsen, im Szenario „Zusätzliche Maßnahmen“ (2*) sogar um 3,3 Prozent (siehe zweite Zeile).
2023 wird die russische Wirtschaft im Szenario „Prioritäre Maßnahmen“ mit 3,5 Prozent ebenso stark wachsen wie die Weltwirtschaft, im Szenario „Zusätzliche Ausgaben“ mit 3,9 Prozent sogar stärker als die Weltwirtschaft.
Konjunkturentwicklung 2020 und 2021 und Szenarien für 2022 und 2023
Vnesheconombank Institute: Prospects for 2022 and medium-term measures to accelerate the growth of the Russian economy; 08.12.2021
Erwartungen des VEB-Instituts für die Entwicklung von BIP, Investitionen, Verbrauch und Einkommen im Jahr 2021
Laut Schätzung des VEB-Instituts steigt das reale Bruttoinlandsproduktu bei einem Urals-Ölpreis von 69 US-Dollar je Barrel 2021 um 4,2 Prozent (zweite Spalte).
Die Investitionen werden gleichzeitig um 5,9 Prozent wachsen und damit ihren Rückgang um 1,4 Prozent im Jahr 2020 deutlich übersteigen.
Der Einzelhandel wird 2021 eine Wachstumsrate von 7,1 Prozent erreichen, nachdem er 2020 um 3,2 Prozent gesunken ist.
Die Dienstleistungen für die Bevölkerung werden nach einem Rückgang um 14,3 Prozent im Jahr 2020 in diesem Jahr um 17,3 Prozent wachsen.
Der Anstieg der real verfügbaren Einkommen der Haushalte um 3,8 Prozent im Jahr 2021 gleicht wenigstens den Rückgang im Jahr 2020 um 2,8 Prozent mehr als aus.
VEB-Institut: Auch bei zusätzlichen „prioritären“ Ausgaben ist die „Stabilität“ des Haushaltes gewährleistet
„Tiefrote Zahlen“ sind im russischen Föderationshaushalt laut dem VEB-Institut nicht zu befürchten, wenn die vorgeschlagenen „vorrangigen Ausgaben“ beschlossen werden (siehe Tabelle auf Seite 13 der VEB-Studie).
Das Institut geht dabei davon aus, dass 2021im Föderationshaushalt ein Überschuss in Höhe von 1,6 Prozent des BIP verzeichnet wird. Werden zur Stärkung des Wachstums entsprechend dem Szenario „Prioritäre Ausgaben“ weitere Ausgaben vorgenommen, wird der Haushaltsüberschuss laut VEB-Institut zunächst 2022 auf 2,0 Prozent des BIP steigen. 2023 werde der Haushalt fast ausgeglichen schließen (+ 0,1 Prozent des BIP). Erst 2024 werde sich ein geringes Haushaltsdefizit ergeben (- 0,8 Prozent des BIP).
Wie viel Wachstum würde eine Lockerung der Geldpolitik bringen?
Das VEB-Institut geht davon aus, dass der Leitzins bei einer Fortsetzung der derzeitigen Geldpolitik am Jahresende 2022 noch 8,0 Prozent beträgt und in den beiden folgenden Jahren um jeweils einen Prozentpunkt auf 7 und 6 Prozent sinkt. Es hat berechnet, welche Wachstumsgewinne zu erwarten sind, wenn die Geldpolitik gelockert wird und der Leitzins in den drei Jahren um jeweils einen Prozentpunkt niedriger ist. Für diesen Fall rechnet das Institut mit einem stärkeren Wachstum der Kredite für Unternehmen und Verbraucher und der Hypotheken.
Der Wachstumszuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts durch die verstärkte Kreditgewährung bei niedrigeren Leitzinsen fällt laut den Berechnungen des VEB-Instituts 2022, 2023 und 2024 ziemlich unterschiedlich aus. 2022 dürfte er 0,17 Prozentpunkte betragen, 2023 und 2024 aber deutlich niedriger sein (0,08 Prozentpunkte und 0,06 Prozentpunkte). In der Summe der drei Jahre ergäbe sich durch um einen Prozentpunkt niedrigere Leitzinsen ein „Wachstumsgewinn“ von lediglich 0,31 Prozentpunkten.
Anstieg des BIP-Wachstums in Prozentpunkten durch eine Verringerung des Leitzinses um einen Prozentpunkt
Vnesheconombank Institute: Prospects for 2022 and medium-term measures to accelerate the growth of the Russian economy; 08.12.2021
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Streit über Geldpolitik: Nabiullina und Deripaska diskutieren auf VTB-Forum; 06.12.2021
- Russland: Wie stark bremst der Kampf gegen Corona das Wirtschaftswachstum?11.2021
- Wachstumsprognosen für 2021 über 4 Prozent; BIP-Rückgang in Q3?;11.2021
- EU-Kommission erhöhte ihre Wachstumsprognose 2021 für Russland; 15.11.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Ost-Ausschuss: Geschäftsklimaindex Russland 2022 – Der Optimismus ist zurück
- Altkanzler Schröder setzt bei Phoenix und Welt-TV Richtlinien zu Russland und Nord Stream
- Ulrich Heyden denkt über Russland, seine Wirtschaft und die Kriegsgefahr nach
- Anatoly Chubais warnt vor den Folgen der „grünen Energiepolitik“ in Europa für Russland