Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen im Fokus

Wie sich der deutsch-russische Warenhandel seit 2004 entwickelt hat und vier interessante Thesen zu dieser Wirtschaftsbeziehung

In diesem Artikel soll dargestellt werden, wie sich der deutsch-russische Warenhandel von 2004 bis heute entwickelt hat. Zunächst ging es dabei mit zweistelligen Wachstumszahlen bergauf, seit 2012 aber bergab. Weiter sollen hier einige bemerkenswerte Thesen von Marcus Felsner, dem früheren Vorsitzenden des Osteuropavereins, zu den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen dargestellt werden. 

Der Russlandtag in Rostock am 25. Mai hat die öffentliche Aufmerksamkeit wieder stärker auf die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland gelenkt. Im Mittelpunkt des Interesses in Rostock stand die Frage, wie lange die beiderseitigen Sanktionen noch beibehalten werden (Ostexperte.de berichtete ausführlich). Die kürzlich veröffentlichten Daten für die Entwicklung des Warenhandels zwischen Deutschland und Russland in den ersten drei Monaten signalisieren für 2016 einen weiteren Rückgang der Ein- und Ausfuhren. Eine Aufhebung der Sanktionen könnte dem bilateralen Handel neue Wachstumsimpulse geben.

Hier folgen zunächst einige Hinweise zu „Aufstieg und Niedergang“ des deutsch-russischen Handels seit 2004 im Spiegel der Statistik.

Abwärtstrend im bilateralen Warenhandel hält an

Im 1. Vierteljahr 2016 ging der Handelsumsatz Deutschlands mit Russland im Vergleich zum Vorjahr um 10,6 Prozent zurück. Er erreichte nur noch knapp 11 Milliarden Euro. Die deutschen Importe aus Russland sanken dabei deutlich stärker (-15,2 Prozent) als die Exporte nach Russland (-3,9 Prozent). Die Einfuhren nach Deutschland (6,1 Milliarden Euro) überstiegen aber weiterhin die Ausfuhren nach Russland (4,7 Milliarden Euro).

Hier noch einmal als Tabelle mit den Veränderungen in Prozent:

 2012201320142015Q1 2016
Deutsche Exporte38.135,8 (-6,0%)29,3 (-18,1%)21,8 (-25,5%)4,7 (-3,9%)
Deutsche Importe42.841,2 (-3,6%)38,4 (-6,9%)29,8 (-22,3%)6,1 (-15,2%)
Saldo-4.7-5,4 (+16,5%)-9,1 (+67,2%)-8,0 (-12,1%)-1,4 (-39,6%)

Der Abwärtstrend im bilateralen Handel hält also bisher an. Er schwächt sich aber immerhin deutlich ab. Im letzten Jahr hatte sich der Rückgang der Ausfuhren auf rund 26 Prozent beschleunigt. Die Einfuhren aus Russland sanken um rund 22 Prozent.

Gegenüber dem Rekordjahr 2012 haben sich die Ausfuhren nach Russland innerhalb von nur drei Jahren um rund 43 Prozent verringert. Ihr Anteil an der deutschen Warenausfuhr war deswegen 2015 mit 1,8 Prozent nur noch gut halb so hoch wie 2012 mit 3,5 Prozent. Bei den Einfuhren war der Rückgang nicht ganz so stark. Sie stellten 2015 noch 3,1 Prozent der gesamten deutschen Wareneinfuhr. Das war aber auch deutlich weniger als 2012 mit 4,7 Prozent.

Russland nur noch auf Rang 13 der deutschen Handelspartner

Ein- und Ausfuhren zusammen betrachtet lag Russland 2015 beim Handelsumsatz nur noch auf Rang 13 der deutschen Handelspartner. Im Handel mit Polen setzt Deutschland inzwischen fast das Doppelte um. Gleich hinter Russland folgt auf Rang 14 schon das viel kleinere Ungarn. Das Statistische Bundesamt hat zur Rangfolge der Handelspartner am 25. Mai aktualisierte Zahlen vorgelegt.

2004 bis 2012: Mit Ausnahme von 2009 zweistellige Wachstumszahlen

Für den deutschen Russlandhandel sind die wachstumsstarken Jahre 2004 bis 2012 allmählich nur noch eine ferne Erinnerung. 2012 konnte das Statistische Bundesamt noch bilanzieren: „Mit Ausnahme des Krisenjahres 2009, als ein Rückgang um 36,2 Prozent verzeichnet wurde, wiesen die Exporte in die Russische Föderation seit 2004 zweistellige Wachstumsraten auf.“ Der Wert der Warenexporte nach Russland hat sich von 2004 bis 2012 von rund 15 Milliarden auf rund 38 Milliarden Euro reichlich verdoppelt.

Und heute? 2015 lieferte die deutsche Wirtschaft nur noch für rund 22 Milliarden Euro Waren nach Russland.

Soweit die Zahlen zum bilateralen Handel. Nun soll hier auf die interessanten Thesen eingegangen werden, die Marcus Felsner, ehemaliger Vorsitzender des Osteuropavereins kürzlich äußerte. Sie drehen sich im Kern um die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen.


Wie der frühere Vorsitzende des Osteuropavereins der deutschen Wirtschaft die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sieht

Marcus Felsner, der Mitte Mai nach einer Amtsperiode nicht mehr zur Wiederwahl als Vorsitzender des Osteuropavereins der deutschen Wirtschaft kandidierte, aber weiterhin Mitglied des Vorstandes ist (sein Nachfolger: Theodor Wuppermann), hat fast gleichzeitig mit der Aufgabe des Vorsitzes in einem sehr bemerkenswerten Artikel zu den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen Stellung genommen.

Er wurde als Newsbrief vom Londoner „Royal United Services Institute (RUSI)“ veröffentlicht, das sich selbst als “the world’s oldest independent think tank on international defence and security” vorstellt. In der NZZ war zum 1881 gegründeten RUSI zu lesen: „Das RUSI ist ein ehrwürdiger und hochkarätiger Think-Tank im Regierungsviertel Whitehall, auf den in der Regel gehört wird, weil ihm die britische Elite der Militärs, Sicherheitsexperten und Diplomaten angehören.“

Man darf wohl annehmen, dass Felsner seinen Artikel mit dem Titel “The Myth of Special German Business Ties with Russia” auch mit Blick auf diese angelsächsische Zielgruppe geschrieben hat – auch weil er in seinem Artikel entschieden für eine multilaterale Handelsordnung plädiert. Einige deutsche Leser dürften von seinen deutlichen Worten zur Lage in Russland überrascht sein.

Die Thesen Felsners zusammengefasst

  • These 1: Die Einzigartigkeit der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen ist ein Mythos
  • These 2: Die politische Funktion des Handels mit Russland ist fraglich
  • These 3: Die wahren Gründe für die Lage in Russland: hausgemachte Krise
  • These 4: Deutsche Unternehmen bleiben an engeren Beziehungen mit Russland interessiert – aber nicht bedingungslos

These 1: Die Einzigartigkeit der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen ist ein Mythos

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland seien nicht einzigartig. Das sei ein Mythos, schon weil es nicht länger so etwas wie eine nationale deutsche Volkswirtschaft gebe. Seit 1989 habe sich die große Mehrheit der Unternehmen mit Sitz in Deutschland mehr oder weniger vollständig „europäisiert“.

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“Die Zeiten, als in erster Linie bilaterale Annäherungen und Abmachungen den Interessen der Staaten und Unternehmen aus der Europäischen Union gedient haben, sind lange vorbei. Für eine eigenständige deutsche Russlandpolitik ist heute ähnlich wenig Raum wie für eine hessische.

Die meisten Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland jedenfalls haben ihre Wertschöpfungsprozesse in den vergangenen 25 Jahren in einem Maß europäisiert, dass sie die EU – den größten Binnenmarkt der Erde – als ihren Heimatmarkt sehen.”
– Marcus Felsner (Osteuropaverein): Die Wirtschaft will Märkte statt politischer Aufträge; Tagesspiegel, 23.11.15

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Eine der falschen Annahmen, die den Mythos spezieller Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland begründete, sei, dass deutsche Unternehmen erheblich engere Geschäftsbeziehungen mit russischen Unternehmen hätten als mit Unternehmen in anderen Staaten mit mittlerem Einkommen. Tatsächlich seien ihre Geschäftsverbindungen mit viel kleineren Staaten in Osteuropa, wie Polen und der Tschechischen Republik, aber enger als mit Russland.

These 2: Die politische Funktion des Handels mit Russland ist fraglich

Die Annahme, der Handel mit Russland habe eine politische Funktion bei der Bewahrung des Weltfriedens, sei sogar zu Zeiten der „Ostpolitik“ in Frage zu stellen gewesen. Heute nähmen deutsche Unternehmensleiter sicherlich nicht an, dass sie in Ländern wie Russland irgendeine andere Aufgabe hätten als maximale Gewinne zu erzielen, um ihre Marktstellung, Arbeitsplätze und Innovationsfähigkeit auf dem heimischen EU-Markt zu sichern.

[accordion open_icon=”remove” closed_icon=”plus”] [toggle title=”Was Herr Felsner dazu im November schrieb” open=”no”]

“Die deutsche Wirtschaft hat außerhalb ihres europäischen Heimatmarkts keinen politischen Missionierungsauftrag. Sie muss in Staaten wie Russland, deren Menschen sich für eine andere politische Ordnung entschieden haben, nur eines: Im Rahmen unserer eigenen Gesetze und unserer Vorstellungen von guter Unternehmensführung so viel Gewinn wie irgend möglich erwirtschaften, damit ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre Rolle für Innovation und Beschäftigung auf dem europäischen Heimatmarkt gesichert werden.”
– ebd.

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These 3: Die wahren Gründe für die Lage in Russland: hausgemachte Krise

Um das Jahr 2012 sei klar geworden, dass Russlands politische Führung sich von der Modernisierung der Industrie und der Diversifizierung der Wirtschaft abwandte. Stattdessen favorisierte sie die Ausschöpfung von nicht nachhaltigen Gewinnen der Öl- und Gaswirtschaft. Sie habe damit das unglaubliche Wachstumspotenzial ihres Landes verschenkt, so Felsner.

[accordion open_icon=”remove” closed_icon=”plus”] [toggle title=”Was Herr Felsner dazu im November schrieb” open=”no”]

“Die Hoffnungen vieler Unternehmer, russischer wie deutscher, haben sich insoweit noch nicht erfüllt. Stattdessen erleben sie seit Jahren, nicht erst seit der aggressiven Reaktion auf den Transformationsprozess der Ukraine, die zunehmend einseitige Orientierung der russischen Wirtschaftspolitik an Öl- und Gasrenten, die Stärkung staatlicher Konzerne zulasten der wenigen mittelständischen Unternehmer, den Rückgriff auf nachweislich gescheiterte planwirtschaftliche Konzepte der Sowjetzeit und die Verbreitung sinnloser Feindbilder und ökonomisch unhaltbarer Autarkieparolen.”
– ebd.

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Keines der deutschen Unternehmen in Russland mache sich Illusionen über die wahren Gründe für die derzeit schwierige Wirtschaftslage in Russland. Es seien nicht die Folgen der Sanktionen. Die wahren Gründe seien stattdessen:

  • Die öffentlichen und privaten Infrastruktur-Investitionen sind zu gering, ebenso die Bildungsinvestitionen.
  • Seit 2012 hat eine Kreditkrise die Fähigkeit russischer Kunden beeinträchtigt, Technologie importieren zu können (auch die nicht-sanktionierten Exporte aus China nach Russland sind um rund ein Drittel gesunken).
  • Der fehlende Produktivitätsfortschritt der russischen Industrie ist mit unzureichenden Fortschritten bei der Entwicklung einer verlässlichen, gesetzestreuen öffentlichen Verwaltung gekoppelt.
  • Es gibt einen dramatischen „brain drain“. Wie viele tausend Russen haben viele expatriates, auch einige deutsche, Russland verlassen, weil es einfach zu schwierig ist, Karriere in einem internationalen Unternehmen zu machen, wenn man in einer Tochtergesellschaft mit schwacher Leistung ohne irgendeine positive Perspektive arbeiten muss.

These 4: Deutsche Unternehmen bleiben an engeren Beziehungen mit Russland interessiert – aber nicht bedingungslos

Das Interesse deutscher Unternehmen an Russland erkläre sich aus den faszinierenden Wachstumsaussichten, die eine eng benachbarte Nation mit 140 Millionen Einwohnern und unvergleichlichen natürlichen Ressourcen biete.

[accordion open_icon=”remove” closed_icon=”plus”] [toggle title=”Was Herr Felsner dazu im November schrieb” open=”no”]

“Dafür bietet gerade Russland besonders große Chancen. Europäische Unternehmer haben ein hohes Interesse daran, dass das geographisch nahe, mit hoher Bevölkerungszahl, industrieller Tradition und reichen Bodenschätzen gesegnete Russland wirtschaftlich erfolgreich und politisch stabil ist.”
– ebd.

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Engere Beziehungen seien jedoch davon abhängig, dass die politische Führung Russlands in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht handele, gewisse minimale Standards der Verlässlichkeit einhalte und hinsichtlich der Wirtschaftspolitik die richtigen Entscheidungen treffe. Es sei sehr enttäuschend für alle wahren Freunde Russlands, dass das Land sich derzeit offensichtlich immer weiter von diesen richtigen Entscheidungen entferne.

Weitere interessante Meinungen

Zum Vergleich mit der Sicht Felsners auf die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen besonders zu empfehlen: Ein Interview mit Klaus Mangold, dem langjährigen Vorsitzenden des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft: „Deutsch-russische Beziehungen zurzeit in Reparaturwerkstatt“ (mit 12 Minuten Audio).

Zu den Folgen der Sanktionen und der Wirtschaftskrise in Russland hat kürzlich auch Professor Heiko Pleines, Herausgeber der Länder-Analysen der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, in einem Interview ausführlich Stellung genommen (katapult-magazin.de: Wirtschaftskrise in Russland; 6 Fragen an Heiko Pleines; 22.04.2016).


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[accordion open_icon=”remove” closed_icon=”plus”] [toggle title=”Quellen” open=”no”]

Statistisches Bundesamt: Rangfolge der Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland 2015; 25.05.2016

Marcus Felsner: “The Myth of Special German Business Ties with Russia”; RUSI-Newsbrief, 16.05.2016

Marcus Felsner: Die Wirtschaft will Märkte statt politischer Aufträge; Tagesspiegel, 23.11.2015; erschienen in: Causa Tagesspiegel: Die deutsche Russlandpolitik

Ostexperte.de: Handel Deutschlands mit den Ost-Ländern im 1. Quartal 2016…; 25.05.2016

katapult-magazin.de: Wirtschaftskrise in Russland; 6 Fragen an Heiko Pleines; 22.04.2016

Klaus Mangold: Deutsch-russische Beziehungen in Reparaturwerkstatt+13 Min. Sputnik-Audio 24.02.

Ost-Ausschuss: Deutsche Unternehmen erwarten keine Abwendung Russlands von EU; 19.02.2016

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