Russische Wirtschaft: EU, UN und EBRD folgen Wachstumsprognosen nicht

Russlands Regierung erwartet in diesem Jahr ein Wachstum der Wirtschaft von 1,2 Prozent. Wirtschaftsminister Reschetnikow meinte in der letzten Woche sogar wiederholt, diese Prognose könne etwas übertroffen werden. Ausländische Beobachter gehen hingegen meist davon aus, die russische Wirtschaft werde 2023 lediglich langsamer schrumpfen als 2022.

So auch die neue Prognosen der Londoner „European Bank for Reconstruction and Development“ (EBRD), der EU-Kommission und der Vereinten Nationen. Die EBRD rechnet nach der letztjährigen Rezession von 2,1 Prozent in diesem Jahr mit einem weiteren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,5 Prozent. Die EU-Kommission erwartet eine Abnahme um 0,9 Prozent, die Vereinten Nationen um 0,6 Prozent.

Im ersten Quartal war das BIP nur noch 1,9 Prozent niedriger als vor einem Jahr

Laut der am 17. Mai veröffentlichten „ersten Schätzung“ des Statistikamtes Rosstat war Russlands reales Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2023 nur noch 1,9 Prozent niedriger als im ersten Quartal 2022. Der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion war im ersten Quartal 2023 damit schwächer als die Regierung erwartet hatte (- 2,2 Prozent). Analysten hatten in einer Interfax-Umfrage sogar einen Rückgang um 2,4 Prozent prognostiziert.

Die rechte Spalte der folgenden Tabelle des Forschungsinstituts der Wneschekonombank zeigt, dass sich der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal in den letzten drei Quartalen ständig verringert hat. Im vierten Quartal 2022 war das BIP im Vorjahresvergleich noch um 2,7 Prozent gesunken, im dritten Quartal um 3,5 Prozent und im zweiten Quartal um 4,5 Prozent.

Veränderungen des realen Bruttoinlandsprodukts
gegenüber dem Vorquartal und gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent    

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 19.05.23

* Schätzung des VEB-Instituts

Die linke Spalte der Tabelle zeigt die BIP-Veränderungen gegenüber dem Vorquartal. Nach Schätzung des VEB-Instituts ist das saisonbereinigte BIP nach Beginn des Ukraine-Krieges im zweiten Quartal 2022 gegenüber dem Vorquartal um 5,8 Prozent eingebrochen.

Die Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion hielt im ersten Quartal an

Im dritten Quartal 2022 begann die Erholung des BIP (+ 1,2 Prozent gegenüber dem zweiten Quartal). Im vierten Quartal 2022 beschleunigte sie sich (+ 2,3 Prozent). Im ersten Quartal 2023 hielt sie mit abgeschwächtem Tempo an (+ 0,4 Prozent).

Die folgende Abbildung zeigt, dass damit der in den ersten beiden Quartalen des Jahres 2022 verzeichnete Rückgang des Indexes des realen Bruttoinlandsprodukts inzwischen zu knapp zwei Dritteln aufgeholt ist.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts
4. Quartal 2018=100, saisonbereinigt

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 19.05.23

In welchen Branchen die Produktion stieg und wo sie sank

Nach Angaben von Rosstat war die Produktion im Einzelhandel im ersten Quartal 2023 um 7,3 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Im Großhandel (zu dem auch der Erdgashandel gehört) sank die Produktion noch stärker um 10,3 Prozent.

Produktionsrückgänge gab es auch in den Bereichen „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (- 3,3 Prozent), Wasserversorgung und Entsorgung (- 10,2 Prozent) sowie Warentransport (- 2,1 Prozent).

Produktionszuwächse verzeichneten gleichzeitig die Bereiche Personentransport (+ 15,7 Prozent), Bauwirtschaft (+ 8,8 Prozent) und Landwirtschaft (+ 2,9 Prozent). Die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ stieg im ersten Quartal im Vorjahresvergleich um 1,1 Prozent.

Das VEB-Institut berechnete, welche positiven und negativen Beiträge die Wirtschaftsbereiche zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in den letzten drei Quartalen leisteten. In der folgenden Abbildung zeigt die rechte Säule, welche Wirtschaftsbereiche im ersten Quartal 2023 zum Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal beitrugen und welche Bereiche Wachstumsbeiträge leisteten.

Rückgang des realen BIP gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent,
drittes Quartal 2022 bis erstes Quartal 2023 (schwarze Linie);
Beiträge der Wirtschaftsbereiche zur BIP-Veränderung in Prozentpunkten

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 19.05.23

Der BIP-Rückgang um 1,9 Prozent im ersten Quartal wurde vor allem von den Rückgängen der Produktion im Groß- und Einzelhandel (dunkelblauer Säulenabschnitt) und im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (unterer, hellgrüner Säulenabschnitt) verursacht. Wachstumsbeiträge leisteten der Finanzsektor (hellblauer Abschnitt), der Transportbereich (dunkelbrauner Abschnitt) und das Verarbeitende Gewerbe (dunkelgrüner Abschnitt).

Die russische Zentralbank und die Sberbank erwarten 2023 Wirtschaftswachstum

Die russische Zentralbank erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt im laufenden zweiten Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahresquartal erstmals wieder steigen wird. Sie veranschlagte das Wachstum im „Monetary Policy Report“ am 11. Mai auf 4,2 Prozent. Ende April hatte sie ihre Prognose für die Veränderung des Bruttoinlandsprodukts im Jahresvergleich 2023/2022 auf + 0,5 bis + 2,0 Prozent angehoben.

Auch die Sberbank, die bisher für 2023 mit einer Stagnation rechnete, erwartet jetzt ein Wachstum von 1,0 Prozent. Die Bank wies bei einer Investorenkonferenz darauf hin, der von ihr ermittelte „Sberindex“ signalisiere, dass der private Verbrauch im April real um rund 6 Prozent gestiegen sei. „Wachstumsmotoren“ seien Nahrungsmittel und der Dienstleistungsbereich, einschließlich Gastronomie. Die Bauwirtschaft, das Verarbeitende Gewerbe, der Transportbereich und eine Reihe anderer Branchen entwickelten sich günstig.

EU-Kommission, EBRD und UN erwarten nur eine Abschwächung der Rezession

Ausländische Beobachter gehen hingegen mehrheitlich lediglich von einer Abschwächung des Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Vorjahr aus. Das zeigt zum Beispiel das am 09. Mai veröffentlichte Ergebnis der letzten Analysten-Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics. Danach wird sich das im letzten Jahr verzeichnete Rezessionstempo der russischen Wirtschaft (- 2,1 Prozent) im Jahr 2023 knapp halbieren und noch 1,2 Prozent erreichen.

Einzelne Experten halten sogar noch eine Verschärfung der Rezession für möglich. Die Research-Abteilung „Economist Intelligence Unit“ des Londoner Wirtschaftsmagazins „The Economist“ senkte ihre Rezessionsprognose für Russland seit Mitte April lediglich von 2,4 Prozent auf 2,2 Prozent.

Auch neue Prognosen internationaler Wirtschaftsorganisationen gehen von einem Anhalten der Rezession aus, obwohl der Internationale Währungsfonds bereits seit Anfang April in Russland 2023 ein Wachstum von 0,7 Prozent erwartet. Die „European Bank for Reconstruction and Development“ rechnet in diesem Jahr mit einer weiteren Abnahme des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent. Die EU-Kommission erwartet einen Rückgang um 0,9 Prozent, die Vereinten Nationen um 0,6 Prozent.

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Die EU-Kommission senkt ihre Rezessionsprognose 2023 auf 0,9 Prozent

Im November 2022 hatte die EU-Kommission für 2023 in Russland noch einen BIP-Rückgang um 3,2 Prozent erwartet. Jetzt senkte die Kommission ihre Prognose für den diesjährigen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion auf 0,9 Prozent. Das reale Bruttoinlandsprodukt würde damit nur noch knapp halb so stark schrumpfen wie 2022 (- 2,1 Prozent). Ein Ende der Rezession wird von der Kommission erst für 2024 mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 1,3 Prozent prognostiziert.

Rückblick der Kommission auf die Rezession 2022 und Ausblick

Die folgende Abbildung der EU-Kommission zeigt die Entwicklung der Verwendung des russischen Bruttoinlandsprodukts seit 2015 und welche Beiträge die Kommission in den Jahren 2023 und 2024 von den Verwendungsbereichen des Bruttoinlandsprodukts zur Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts erwartet.

  Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent;
Beiträge der Nettoexporte, der Investitionen, des Privaten Verbrauchs, des Staatsverbrauchs und der Lagerveränderungen zur Veränderungsrate in Prozentpunkten

EU-Kommission: European Economic Forecast, Spring 2023, 15.05.23

Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 2,1 Prozent im Jahr 2022 (markiert durch die schwarze Linie) wurde laut der EU-Kommission zum einen durch eine deutliche Verringerung der Lagervorräte verursacht (grauer Säulenabschnitt). Durch die Sanktionen wurden die Möglichkeiten Russlands eingeschränkt, mit Einfuhren die Lager wieder aufzufüllen. Gleichzeitig brachen die russischen  Ausfuhren ein, obwohl Russland seine Ölausfuhren teilweise auf neue Käufer umleiten konnte. Die Entwicklung der Ein- und Ausfuhren trug netto zur Rezession bei (roter Säulenabschnitt).

Bei sinkenden Realeinkommen und wegen der Auswanderung vieler Bürger nahm auch der Private Verbrauch ab (gelber Säulenabschnitt).

Die stärksten Wachstumsimpulse kamen 2022 vom staatlichen Verbrauch (blauer Säulenabschnitt) und den Investitionen (dunkelgrauer Säulenabschnitt). Sie wurden durch die Produktion von Rüstungsgütern angekurbelt. Außerdem stieg die Nachfrage des Logistiksektors. Die Unternehmen waren bestrebt, neue Handelswege und Lieferketten zu etablieren.

Prognosen für 2023: Privater Verbrauch, Investitionen und Netto-Export sinken

Gebremst wird die gesamtwirtschaftliche Produktion im laufenden Jahr laut der Kommission vor allem von der Entwicklung der Nettoexporte, der Investitionen und des Privaten Verbrauchs.

Die Kommission erwartet zwar, dass die Nominallöhne wegen des Mangels an Arbeitskräften aufgrund der Teilmobilisierung und der Auswanderung schneller steigen als die Inflation, die Reallöhne also wachsen. Sie nimmt aber an, dass der Private Verbrauch wegen der kriegsbedingten hohen Unsicherheit weiterhin gedrückt bleibt.

Die Investitionen werden nach Einschätzung der Kommission das im Jahr 2022 erreichte Wachstum nicht halten können, sondern sinken. Vor dem Krieg begonnene Investitionsprojekte näherten sich der Fertigstellung. Angesichts von sinkenden Gewinnen, der Abwanderung von westlichen Unternehmen aus Russland und einer anhaltend hohen Unsicherheit sei die Bereitschaft zu neuen Investitionen begrenzt.

Die expansive Fiskalpolitik verhindert einen Rückgang der Inlandsnachfrage

Die vom Privaten Verbrauch und den Investitionen ausgehenden konjunkturellen Bremswirkungen werden laut der EU-Prognose aber durch die stimulierenden Wirkungen der Fiskalpolitik auf den Staatsverbrauch vollständig kompensiert werden können. Die Kommission geht von verstärkten fiskalischen Anreizen für eine Ausweitung der Produktion aus. Sie rechnet mit einer Erhöhung des Haushaltsdefizits von 2,2 Prozent des BIP im Jahr 2022 auf 3,1 Prozent des BIP im Jahr 2023. Von der Inlandsnachfrage sei deswegen insgesamt eine „neutrale“ Wirkung auf das Wirtschaftswachstum zu erwarten.

Die Entwicklung des Außenhandels bremst 2023 die Produktion

Ausschlaggebend für den erwarteten diesjährigen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 0,9 Prozent ist aus Sicht der Kommission deswegen die Entwicklung des Netto-Exports. Einer Erholung der russischen Ausfuhren stehe entgegen, dass die EU ihre Gasbezüge diversifiziert und weniger Gas aus Russland bezieht. Außerdem habe die EU Lieferungen von Rohöl und Ölprodukten aus Russland per Tanker mit einem Einfuhrverbot belegt. Bei den Einfuhren nach Russland erwartet die EU-Kommission angesichts der anhaltenden Sanktionen und der Abschwächung des Rubels nur eine langsame Erholung. Insgesamt werde 2023 von der Entwicklung des russischen Außenhandels ein bremsender Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Produktion ausgehen.

Im nächsten Jahr wird das schwache Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (+ 1,3 Prozent) laut der EU vor allem vom Privaten Verbrauch (+ 1,5 Prozent) und den Investitionen (+ 2,0 Prozent) getragen werden.

Prognosen der EU-Kommission für Russland

EU-Kommission: European Economic Forecast, Spring 2023, 15.05.23

Anhaltend niedrige Arbeitslosenquote und stark gesunkene Inflation

Russlands Arbeitslosenquote, die im Jahresdurchschnitt 2022 auf 3,9 Prozent gesunken ist, bleibt nach Einschätzung der EU niedrig. Sie werde von 3,7 Prozent im Jahresdurchschnitt 2023 auf 4,0 Prozent im nächsten Jahr steigen.

Der Anstieg der Verbraucherpreise werde sich im Jahresdurchschnitt 2023 mehr als halbieren. Er werde von 13,7 Prozent im letzten Jahr auf 6,4 Prozent sinken. 2024 werde die Inflationsrate mit 4,6 Prozent nur noch wenig über der Zielmarke der Zentralbank von 4 Prozent liegen.

Trotz der „fragilen“ Wachstumsperspektiven der russischen Wirtschaft verfügt die Zentralbank nach Einschätzung der EU-Kommission aber dennoch nur über einen „begrenzten Raum“ für eine Lockerung ihrer Geldpolitik. Die hohen Steigerungen der öffentlichen Ausgaben brächten Inflationsrisiken. Die Knappheit an Arbeitskräften wirke in Richtung Lohnsteigerungen. Preistreibend wirke auch die voraussichtliche Abwertung des Rubel.

EU-Kommission: Russlands Haushaltsdefizit wird „unter Kontrolle“ bleiben

Die EU-Kommission nimmt auch zum starken Anstieg des Defizits im föderalen Haushalt im ersten Quartal 2023 Stellung. Sie meint, er sei vor allem durch zeitlich vorgezogene Ausgaben verursacht worden. Das Defizit werde aber „unter Kontrolle“ bleiben.

Der Rückgang der Einnahmen werde dank einiger Maßnahmen der Regierung gedämpft. Große Unternehmen mit hohen Gewinnen würden zusätzlich besteuert. Von staatlichen Unternehmen würden hohe Dividendenzahlungen in den Haushalt fließen. Die Ölsteuern würden von der Entwicklung der gesunkenen Preise von Urals-Öl gelöst.

Trotz dieser Maßnahmen wird das russische Haushaltsdefizit 2023 laut der EU-Prognose aber voraussichtlich mit rund 3 Prozent des BIP höher als geplant sein. Gründe dafür seien der anhaltende Druck, die militärischen Anforderungen und die Umstrukturierung der Wirtschaft zu finanzieren.

Bei einer moderaten Erholung der Wirtschaft wird das Defizit nach Einschätzung der EU im Jahr 2024 voraussichtlich wieder auf rund 2 ¼ Prozent des BIP sinken. Wahrscheinlich werde das Defizit 2023 und 2024 wie 2022 teilweise durch Mittel aus dem „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ finanziert werden. Der Anstieg der staatlichen Schuldenquote, des Anteils der öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt, werde so begrenzt werden können. Die Schuldenquote werde voraussichtlich von 14,7 Prozent des BIP im Jahr 2022 auf 17 Prozent im Jahr 2024 steigen.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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