Russische Wirtschaft: Die Rezessionsprognose der Zentralbank hellt sich auf

Die russische Zentralbank senkte ihren Leitzins am Freitag von 9,5 auf 8,0 Prozent. Analysten hatten zumeist nur eine Senkung auf 9,0 Prozent erwartet. Und auch die neuen Konjunkturprognosen der Zentralbank dürften viele Beobachter überrascht haben.

Im Vergleich mit ihren vor drei Monaten vorgelegten Prognosen erwartet die Zentralbank jetzt für 2022 eine merklich „mildere“ Rezession. Sie geht andererseits aber davon aus, dass der Produktionsrückgang im nächsten Jahr etwas „schärfer“ ausfällt als bisher erwartet.

Zentralbank: 2022 sinkt das BIP um 4 bis 6 Prozent

Die Zentralbank erwartet in ihrer neuen Prognose im laufenden Jahr nur noch einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 4 bis 6 Prozent. Bisher hatte sie für 2022 eine Rezession von 6 bis 8 Prozent prognostiziert.

Für das nächste Jahr erwartet die Zentralbank jetzt einen Rückgang der Produktion der russischen Wirtschaft um 1 bis 4 Prozent im Jahresvergleich. Bisher hatte sie 2023 eine Veränderung des Bruttoinlandsprodukts in der Spanne von 0 Prozent bis – 3 Prozent erwartet.

Auch mit ihrer neuen Prognose geht die Zentralbank für den Zeitraum 2022/2023 aber von einer deutlich schwächeren Rezession als viele westliche Analysten aus. Das Forschungsinstitut des Londoner Wirtschaftsmagazins „The Economist“ prognostizierte für Russland zum Beispiel in der letzten Woche für 2022 und 2023 eine insgesamt rund doppelt so starke Rezession wie die Zentralbank. „The Economist Intelligence Unit“ erwartet für 2022 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 10 Prozent und für 2023 um 2,6 Prozent.

Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Die russische Regierung hat ihre Prognosen zuletzt Mitte Mai aktualisiert. Nach Abstimmung zwischen den Ministerien dürfte sie bald neue Prognosen veröffentlichen. Die stellvertretende Wirtschaftsministerin Polina Kryuchkova meinte laut Finmarket.ru zu den Prognosen der Zentralbank, sie lägen nahe an den derzeitigen Schätzungen des Wirtschaftsministeriums. Ende April hatte das Ministerium in einem ersten Entwurf für die Haushaltsplanung den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 im Basis-Szenario noch auf 7,8 Prozent veranschlagt.

Nabiullina: Ende 2023 wächst die russische Wirtschaft im Vorjahresvergleich

Zentralbankpräsidentin Nabiullina strich in ihrem Statement zur Leitzinssenkung heraus, dass die Produktion der russischen Wirtschaft im Jahresdurchschnitt 2023 zwar voraussichtlich noch um 1 bis 4 Prozent sinken werde (siehe vierte Zeile der folgenden Tabelle).

Im Verlauf des Jahres 2023 werde aber wieder die „Wachstumszone“ erreicht werden. Für das vierte Quartal 2023 geht die Zentralbank von einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 1,0 bis 2,5 Prozent gegenüber dem vierten Quartal 2022 aus (fünfte Zeile).

Im Jahresdurchschnitt 2024 rechnet die Zentralbank mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 bis 2,5 Prozent.

Mittelfristige Prognosen der russischen Zentralbank (Ausschnitt)

Russian Central Bank: Mid-term forecast; 22.07.2022

Die Investitionen sinken 2022 noch viel schneller als der Verbrauch

Der reale Verbrauch der privaten Haushalte wird nach Einschätzung der Zentralbank 2022 um 4,5 bis 6,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr sinken. Der gesamte Endverbrauch nimmt voraussichtlich etwas weniger ab (-3 bis –5 Prozent). Die Entwicklung des staatlichen Verbrauchs dürfte die Abnahme des gesamten Endverbrauchs dämpfen.

Den Rückgang der Brutto-Anlageinvestitionen veranschlagt die Zentralbank für 2022 auf –3,5 bis –7,5 Prozent. Die gesamten Brutto-Investitionen werden voraussichtlich noch deutlich stärker einbrechen (-18 bis –22 Prozent). Ursache dafür dürfte der Rückgang  der Lagervorräte sein.

Nabiullina: 2022 sinkt die Ausfuhr weniger als bisher erwartet

Dass die gesamtwirtschaftliche Rezession im laufenden Jahr schwächer sein dürfte als bisher erwartet wurde, führt Präsidentin Nabiullina in ihrem Statement vor allem auf einen „moderateren“ Rückgang der Warenausfuhren zurück. Wichtigster Grund dafür sei, dass ein Teil der russischen Ölexporte in neue Absatzmärkte umgeleitet werden kann. Laut obiger Tabelle erwartet die Zentralbank aber 2022 dennoch einen realen Rückgang der Ausfuhren um 13 bis 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die Wareneinfuhren entwickeln sich, so die Zentralbankpräsidentin, wie erwartet. Nach einem beträchtlichen Rückgang begännen sich die Einfuhren zu erholen. Man könne vor allem einen Anstieg der Einfuhren von Waren für den privaten Verbrauch beobachten. Neue Lieferketten seien eingerichtet. Im Unterschied dazu gebe es aber keine klaren Signale für eine Erholung der Einfuhren von Zulieferungen für die Industrie und von Investitionsgütern. Die Zentralbank geht davon aus, dass die Einfuhren 2022 real um 27,5 bis 31,5 Prozent sinken, also rund doppelt so stark wie die Ausfuhren.

Der Leistungsbilanz-Überschuss verdoppelt sich 2022: Reicher Devisen-Zufluss

Die Prognosen der Zentralbank umfassen auch die wertmäßige Entwicklung der Aus- und Einfuhren in der Leistungsbilanz. Dabei geht sie davon aus, dass der Urals-Ölpreis von 69 US-Dollar im Jahr 2021 auf 80 US-Dollar im Jahr 2022 steigt.

Im Gesamtjahr 2022 erwartet die Zentralbank einen Rückgang des Wertes der russischen Einfuhren von Waren und Dienstleistungen von 380 auf 316 Milliarden US-Dollar (- 16,8 Prozent gegenüber 2021). Der Wert der Ausfuhren dürfte gleichzeitig von 550 auf 593 Milliarden US-Dollar steigen (+ 7,8 Prozent).

Der diesjährige Überschuss in der Handels- und Dienstleistungsbilanz wird damit von der Zentralbank auf 277 Milliarden US-Dollar geschätzt (+ 62,9 Prozent gegenüber 2021).

Der Überschuss in der Leistungsbilanz dürfte um rund 99 Prozent auf 243 Milliarden US-Dollar wachsen.

Indikatoren der Zahlungsbilanz im Basis-Szenario der russischen Zentralbank
(Mrd. US-Dollar, Ausschnitt)

Russian Central Bank: Mid-term forecast; 22.07.2022

Bis 2024 erwartet die Zentralbank einen Rückgang des Leistungsbilanzüberschusses auf rund 50 Milliarden US-Dollar. Sie geht bei einem Rückgang des Urals-Ölpreises um jeweils 10 US-Dollar in den Jahren 2023 und 2024 von sinkenden Exporterlösen aus. Der Wert der Importe dürfte nach Einschätzung der Zentralbank seinen Rückgang vom Jahr 2022 um 64 Milliarden US-Dollar in den beiden folgenden Jahren etwa zur Hälfte aufholen.

Arbeitslosenquote sank unter 4 Prozent – mehr Teilzeit und niedrigere Reallöhne

In ihrer Pressemitteilung zum Leitzinsentscheid verweist die Zentralbank darauf, dass zwar die Zahl der offenen Stellen in den Unternehmen gesunken sei. Die Arbeitslosenquote liege jedoch weiterhin nahe bei ihrem historischen Tiefstand. Die niedrige Arbeitslosenquote trotz sinkender Produktion erklärt die Zentralbank mit einem Übergang zu mehr Teilzeit-Beschäftigung und einer „Anpassung“ der Reallöhne.

Die Mailänder Bank Unicredit veröffentlichte in der deutschen Fassung ihres Ende Juni erschienenen vierteljährlichen Berichts zur Konjunktur in Mittel- und Osteuropa (CEE Quarterly) zur Entwicklung des russischen Arbeitsmarktes folgende Abbildung. Sie zeigt;

Die Arbeitslosenquote (rote Linie, linke Skala) sank im April auf 4 Prozent, obwohl sich die

Zahl der offenen Stellen (schwarze Linie, rechte Skala) in den letzten Monaten im Vergleich zum jeweiligen Vorjahresmonat verringerte.

Unicredit/Bank Austria: CEE Quarterly 3/2022, 22.07.2022

Im Mai sank die Arbeitslosenquote weiter von 4 Prozent auf 3,9 Prozent (TradingEconomics-Chart). Die Reallöhne waren im April 7,2 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Im März waren sie im Vorjahresvergleich noch 3,6 Prozent höher  (TradingEconomics-Chart).

Inflationsprognose für Ende 2022 auf 12 bis 15 Prozent gesenkt

Olga Belenkaya (Finanzportal Finam.ru) nennt zur Erklärung der unerwartet starken Leizinssenkung um 1,5 Prozentpunkte auf 8 Prozent drei Gründe:

  • Die Zentralbank erwartet jetzt einen schnelleren Rückgang der jährlichen Inflationsrate. Im Dezember 2022 rechnet sie nur noch mit einem Anstieg des Preisniveaus um 12 bis 15 Prozent gegenüber Dezember 2021 (bisher: 14 bis 17 Prozent).
  • Seit mehr als zwei Monaten wird fast ohne Unterbrechung sogar ein für die Jahreszeit unüblicher Rückgang des Indexes der Verbraucherpreise gegenüber der Vorwoche verzeichnet.
  • Die Inflationserwartungen der Bevölkerung sind auf den tiefsten Stand seit dem Frühjahr 2021 gesunken.

Den zeitweiligen Rückgang des Indexes der Verbraucherpreise gegenüber der Vorwoche sieht die Zentralbank, so Belenkaya, zum Teil als “Korrektur” des sehr starken Inflationsschubs vom März 2022. Weitere Ursachen seien die Aufwertung des Rubel und eine generell schwache Nachfrage der Verbraucher.

Im Juni fiel die jährliche Inflationsrate auf 15,9 Prozent (nach 17,1 Prozent im Mai und 17,8 Prozent im April). Mitte Juli betrug sie nach ersten Schätzungen laut Rosstat noch 15,5 Prozent.

Anstieg der Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich in Prozent

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review, 22.07.2022

Der Leitzins könnte im weiteren Jahresverlauf auf 7 Prozent gesenkt werden

Nach Angaben der Zentralbank betrug der Leitzins vom Jahresbeginn 2022 bis zum 24. Juli im Durchschnitt 12,9 Prozent. Die Zentralbank erwartet jetzt, dass er im Durchschnitt des gesamten Jahres 2022 10,5 bis 10,8 Prozent betragen wird. Daraus ergibt sich laut der Zentralbank für den restlichen Zeitraum des Jahres 2022 ein Leitzins von durchschnittlich 7,4 bis 8,0 Prozent.

Olga Belenkaya schließt daraus, dass die Zentralbank bis Ende 2022 den Leitzins weiter auf 7 Prozent senken könnte. Es sei aber auch möglich, dass der Leitzins bei 8 Prozent gehalten wird.

Leitzins der russischen Zentralbank in Prozent

TradingEconomics: Russia Interest Rate

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Blick auf die Sperlingsberge in Moskau. Quelle: Mike Laptev / Shutterstock.com