Rubel-Roulette: Über die Entwicklung der russischen Währung

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Der Rubel steht erneut auf historisch niedrigem Niveau. Die Talfahrt entblößt einmal mehr ein strukturelles Problem der russischen Wirtschaft. Was also tun?

100 Rubel für einen Euro

Es war am 16. Dezember 2014, als kurzzeitig für einen Euro mehr als 100 Rubel fällig wurden. Das bedeutete den absoluten Tiefststand der Währung. Börsianer, Banker und Unternehmer versetzte diese Entwicklung in Schockstarre oder Panik. Schon bei einem Wechselkurs über 50 Rubel für einen Euro waren die Export-Geschäfte massiv bedroht und wirtschaftlich kaum noch darstellbar. Später wurde klar, dass ein singuläres Ereignis den Kurs auf Talfahrt geschickt hatte, anschließend erholte er sich. Allerdings niemals wieder auf Werte um die 50 US-Dollar oder 40 Euro wie in den Zeiten vor den Sanktionen, dem Ölpreisverfall und der wirtschaftlichen Rezession. Seit dieser Zeit hat die russische Währung eine beachtliche Rallye hingelegt, von einer Stabilisierung nach der Freigabe des Rubels über die dem Ölpreis nachfolgenden Kurskorrekturen bis zu enormen Ausschlägen aufgrund externer Schocks. Letztes Jahr hat sich die Zentralbank von der Orientierung des Kurses am Ölpreis verabschiedet, um finanzpolitisch mehr Spielraum zu haben und die Volatilität einzudämmen. Geholfen hat es wenig.

Inflation und Leitzins sinken

Schon 2015 hatte die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina die Praxis der Rubel-Ankäufe zur Stützung der Währung aufgegeben, die letztlich nur dazu führten, dass über 200 Milliarden US-Dollar verbrannt wurden. Intervenieren wollte man nur noch beim Verdacht auf spekulative Kursbewegungen. Diese von politischen Begehrlichkeiten unabhängige, weitsichtige und die Märkte beruhigende Maßnahme hat für Stabilität und Vertrauen in die russische Finanzpolitik gesorgt und auch die Inflation drastisch gesenkt. Der Leitzins ist dank dieser beharrlichen Konsequenz aus dem zweistelligen Bereich auf augenblicklich vier Prozent gesunken.

Doch das alles konnte nicht verhindern, dass der Rubel erneut auf historisch niedrigem Niveau verharrt und dieses Mal dauerhaft. Bei 87 Rubel für einen Euro stand der Kurs am Montag dieser Woche, aber kein Aufschrei der Wirtschaft, kein Crash an der Börse, keine Panikverkäufe sind die Folge. Wahrscheinlich fallen die Reaktionen so moderat aus, weil man sich an Hiobsbotschaften mittlerweile gewöhnt hat. Sie sind die Regel, nicht die Ausnahme.

Einnahmen in Dollar, Ausgaben in Rubel

Was ist seit damals passiert? Ein kurzer Rückblick.

Eigentlich muss man, um das Phänomen zu verstehen, noch weiter zurück ins Jahr 2013 gehen. Die FED änderte damals ihre Politik der Anleiheankäufe, und nahezu alle Emerging Markets waren davon betroffen. „Billiges“ Geld war schwerer zu bekommen. Die Abwertung des Rubels begann zu dieser Zeit. Also viel früher als die Ölpreistalfahrt. Denn Mitte des Jahres 2014 kostete ein Barrel der sibirischen Sorte Urals noch 110 US-Dollar. Mitte Januar 2016 nur noch knapp 25 US-Dollar, Ende April dieses Jahres 13 US-Dollar – noch etwas mehr als ein Zehntel des Preises von vor sechs Jahren. In dieser Zeit hat sich allerdings weder die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft noch die des Exports und des Budgets von den Erlösen aus dem Verkauf von Öl und Gas geändert. Noch Ende letzten Jahres schätzte die Sberbank in ihrer Prognose den durchschnittlichen Ölpreis für die nächsten zwei Jahre auf etwas über 60 US-Dollar. Dieser Wert wurde im gesamten Jahr 2020 nicht annähernd erreicht, und er wird wohl auch nicht erreicht werden. Die Folge ist ein massives Einnahmendefizit, das man über die Rubelabwertung auffangen will. Die Rechnung ist einfach: Einnahmen in Dollar, Ausgaben in Rubel. Was aber passiert mit einer Wirtschaft, deren Währung künstlich permanent unterbewertet ist?

Man muss keinen französischen Käse essen

Im Inland bleiben die Folgen überschaubar, außer dass sich importierte Waren deutlich verteuern. Nun wird aber auch in Russland niemand gezwungen, Schweizer Käse, deutsches Bier oder italienischen Parmaschinken zu kaufen. Notfalls tun es auch – wie seit eh und je – die Produkte aus dem heimischen Garten und Wein aus Krasnodar. Anders verhält es sich mit den eigenen Exporten. Für Einkäufer kann ein Markt durchaus an Attraktivität gewinnen, wenn die Preise deutlich sinken. Allerdings braucht man dafür Produkte, die andere kaufen wollen. Öl und Gas wurden und werden zum Teil noch in langfristigen, oft über Jahrzehnte laufenden Verträgen gehandelt, die sowohl den Produzenten als auch den Käufern preisliche Sicherheit bieten. Pipelines und Infrastruktur sind exorbitant teuer, sie müssen sich amortisieren. Für das Hauptexportgut der Russischen Föderation bleiben die Währungs-Wirkungen deshalb marginal. Außerdem gibt es heute mehr Anbieter, Flüssiggas und Spotmärkte, kürzere Vertragslaufzeiten und ein viel größeres Angebot, die den Wettbewerb verschärfen.

Der Preis für ausländisches Material steigt

Und die Quellen, aus denen sich der russische Reichtum speist, beginnen nach und nach zu versiegen. Die leicht und relativ kostengünstig zu erschließenden Förderstätten in Westsibirien haben zum größten Teil den Zenit ihrer Ergiebigkeit überschritten. Um sie bis zum technisch möglichen nutzen zu können, bedarf es spezieller Verfahren. Ein Großteil des Equipments, der Dienstleistungen und Dienstleister kommen aus dem Ausland. Die Kosten dafür steigen, auch bedingt durch den schwachen Rubel. Und neue Lagerstätten müssen exploriert werden, die meist in schwer zugänglichen Gebieten, im Osten und Nordosten Sibiriens, im Schelf des Nordmeers oder in der Tiefsee liegen. Derartige Großprojekte werden in aller Regel in internationaler Kooperation umgesetzt, um das Risiko der enormen Kosten aufteilen zu können. Allerdings gelten für einen großen Teil dieser Projekte europäische und US-amerikanische Sanktionen, die effektives Arbeiten stark erschweren.

Ein drittes oder viertes Auto

Die Einnahmen, die man durch den Verkauf von Öl und Gas erzielen kann, sinken kontinuierlich, auch weil die Nachfrage und der Preis aktuell gering sind. Sicher ließe sich der Rubel noch weiter abwerten und der Leitzins senken. Aber schon die letzten derartigen Eingriffe haben keine spürbare Wirkung auf die Wirtschaft gehabt und bedingt durch die Corona-Krise sind auch nachhaltige Wirkungen durch günstigere Tourismusangebote und ausländische Investitionen nicht zu erwarten.

Was also tun mit dem Rubel? Vor allem muss Russland sein strukturelles Exportproblem lösen. Solange es nur ganz wenige Produkte gibt, die international nachgefragt und wettbewerbsfähig sind, wird das Interesse an Russland weiter sinken. Außerdem ist eine permanent abwertende Währung für Anleger nicht attraktiv. Geld wird nicht gespart, sondern in Gold, Devisen oder Immobilien angelegt. Gern wird in Russland auch ein zweites, drittes oder viertes Auto angeschafft. Dadurch steht insgesamt weniger Geld zur Verfügung. Und trotz nicht enden wollender Versuche des russischen Staates, ehemals russisches Geld zu repatriieren, fließt immer noch viel Geld außer Landes. Man kann es also drehen und wenden wie man will, am Ende gilt, was André Kostolany wusste: „Die Börse, das heißt der Finanzmarkt, ist eigentlich Theater, in dem immer dasselbe Stück gespielt wird, aber immer unter verschiedenen Titeln.“

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.

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Titelbild: Travis182 / Shutterstock.com
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