Neue Eiszeit und eine Welt in Trümmern – Teil IV
Unser Autor besuchte im Dezember 1998 Freunde in Lipezk. Erinnerungen an den russischen Winter, Wohnblöcke und Busfahrten – und an ein Land im Umbruch, das seinen zeitlosen Gesetzmäßigkeiten trotz der Wende nicht zu entkommen scheint.
von Leo Ensel
Im Herbst 1996 war ich zum ersten Mal nach dem Ende der Sowjetunion wieder in Moskau. Ich führte im Auftrag des Goethe-Instituts ein Seminar mit russischen Germanistinnen über deren Deutschlandbilder durch. Vieles hatte sich verändert. Am Rande der Leningrader Chaussee, die vom Flughafen Scheremetjewo Richtung Stadtzentrum führt, befand sich nun direkt hinter den Panzersperren, die das Ende des deutschen Vormarsches auf Moskau markieren, ein IKEA-Markt. An einer roten Ampel humpelten zwischen den Autoschlangen auf Krücken Bettler, um ein paar Rubel zu ergattern. Ich sah auf der Twerskaja, der „Fifth Avenue“ Moskaus, Babuschkas ihre letzten Habseligkeiten verkaufen – und blutjunge Mädchen ihren Körper. Und an der Moskwa wuchs in Kremlnähe eine orthodoxe Kathedrale in den Himmel, die ich dort bei meinen Besuchen nie zuvor gesehen hatte: Der Wiederaufbau der 1931 von Stalin gesprengten Christus-Erlöser-Kathedrale.
Aber erst zwei Jahre später, im Dezember 1998, lernte ich das private Russland kennen. Eine Studentin aus Lipezk, einem Kurort und Zentrum der Schwerindustrie (!) in der Schwarzerderegion, 450 Kilometer südöstlich von Moskau, hatte mich eingeladen, sie und ihre Familie zu besuchen. Nach zwei sehr bewegten Wochen notierte ich meine Impressionen des Alltags in einer 500.000 Einwohner großen Provinzstadt in Jelzins Russland, vier Monate nach Ausbruch der dramatischen Finanzkrise vom Sommer 1998.
Auf der Straße
Da dachte ich, ich fahre mitten ins Krisenchaos – und nun sehe ich hier auf der Straße eine Frau nach der andern im todschicken Pelzmantel! Von den vielen Pelz- und Fellmützen ganz zu schweigen. Eine solche Unzahl schöner Pelzwaren auf offener Straße wäre selbst in Düsseldorf oder Schwabing undenkbar. Süß auch, wie schon viele kleine Kinder von oben bis unten ganz dick in Pelz oder Teddyfell eingemummelt sind! Irgendwie scheinen diese Bilder auf den ersten Blick nicht so richtig zu dem Krisenszenario zu passen, das mir in Deutschland jeden Abend in den Medien präsentiert wurde. Aber, das muss ich mir als Deutscher immer wieder klar machen, ein Pelzmantel hat hier in Russland eine andere Funktion als in unseren Breiten. Während er bei uns in erster Linie ein Statussymbol darstellt, mit dem sich reiche Frauen schmücken, ist es hier bei Temperaturen bis zu -30° und kälter unmöglich, ohne einen guten Mantel, der wärmt und vor dem eisigen Wind schützt, über den Winter zu kommen.
Die Busse. Sie sind immer noch so gerammelt voll wie eh und je. Allein das Einsteigen erfordert nicht selten Erfahrungen der härtesten Ellenbogengesellschaft. Manchmal, zu Stoßzeiten, stehen wir so dicht aneinander gequetscht, dass ich kaum noch Stand- und Spielbein mal wechseln kann. Im Rücken spürt man jedes Schlagloch, so schlecht sind die Wagen gefedert. Na, wenigstens kann ich nicht umkippen! Durch die kaum zu durchdringende Menschenmasse kämpft sich heroisch eine füllige Kassiererin, Typ ‚Hausfrau um die fünfzig‘, und sammelt die Kopjejkas ein. Will man aussteigen, so empfiehlt es sich, schon eine Haltestelle vorher einen strategisch günstigen Platz zu ergattern. Sonst kann man im entscheidenden Augenblick Pech haben. Meine russischen Freunde lächeln nachsichtig, wenn sie mein gequältes Westgesicht sehen. Um mich aufzuheitern, erzählen sie mir, dass der sowjetische Geheimdienst früher eine genial einfache Methode entwickelt hatte, Westler zu identifizieren: Den KGB-Leuten reichte es, im Bus die Augen offen zu halten. Wer mit der russischen Busfahrerei sichtlich nicht klar kam, war garantiert aus dem feindlichen kapitalistischen Ausland – da hätte ich wohl keine Chance gehabt!
Die Bürgersteige. Je nach Temperatur alles Matsch oder alles vereist. Natürlich ist nur an einigen Stellen und auch da nur notdürftig mit roter Asche gestreut. Das bedeutet ein einziges Gerutsche auf Straßen und Bürgersteigen. Einen ganzen russischen Winter lang. Wie können die alten Menschen damit überhaupt zurechtkommen?
Im Plattenbau
Zu mindestens 90 Prozent besteht Lipezk aus sozialistischen Plattenbauten. Das bedeutet: lange breite Ausfallstraßen mit eintönigen Betonburgen zu beiden Seiten. Wenn ich nach zehn Minuten Busfahrt aus dem Fenster schaue, habe ich manchmal das Gefühl, mich überhaupt nicht von der Stelle bewegt zu haben. 90 Prozent Plattenbauten bedeutet aber auch: große Menschenmengen an den Bushaltestellen vor den Siedlungen – nicht zuletzt zu den Stoßzeiten morgens und abends. Immer wieder merke ich, dass ich es gar nicht gewohnt bin, so viele Menschen an einem Fleck zu sehen. 90 Prozent Plattenbauten bedeutet nicht zuletzt: Hier wohnt fast jeder – vom Arbeitslosen bis zur Professorin. Außer den ‚Neuen Russen‘. Die lassen sich ihre Paläste am Stadtrand zwar auch in Beton gießen, aber in exotischeren Formen. Bei Tageslicht betrachtet erweisen sich allerdings die meisten Betonburgen der Lipezker ‚Neuen Russen‘ auch nur als Wohnblöcke der gehobeneren Kategorie.
Schauen wir uns stattdessen eine normale sowjetische Wohnmaschine etwas genauer an. In einem Durchschnittsblock von neun Etagen leben ungefähr 50 Familien, auf jeder Etage vielleicht sechs. Eine durchschnittliche Wohnung mit drei Räumen, Küche und Bad ist in der Regel 50-60 Quadratmeter groß. Hier leben Eltern und Kinder und manchmal auch noch die Babuschka. Immer noch besser als eine „Kommunalka“, wo mehrere Familien sich Bad und Küche teilen müssen – eine sowjetische Wohnform, die zum Glück im Aussterben begriffen ist. Geheizt werden alle Blocks über zentrale Heizkraftwerke, die in der Schwarzerderegion ab Mitte Oktober mit ihrer Arbeit beginnen. Gibt ein Teil des altersschwachen Heizsystems innerhalb des Hauses oder einer Wohnung seinen Geist auf – was gar nicht so selten vorkommt –, dann kann es einem passieren, dass man man unter Umständen wochenlang bei 8° und weniger in der ungeheizten Wohnung sitzt, bis endlich der Reparaturdienst anrückt. Kein Heizkörper läßt sich mit der Hand regulieren oder gar abschalten. Ist es zu warm im Zimmer, so muss man selbst bei arktischen Außentemperaturen das Fenster öffnen.
Betritt man das Treppenhaus eines durchschnittlichen Plattenbaus, so erlebt man als Westler zunächst mal einen Schock – auch wenn man sich schon vorher auf Einiges gefasst gemacht hatte. Die Tür, mit der das Gebäude verrammelt ist, erinnert eher an eine Baustelle. Namensschilder sucht man in ganz Russland vergebens. Drinnen kein Licht, auch nachts nicht, weil die Glühbirnen immer geklaut werden. Da sich tagsüber nicht selten alle möglichen Leute im Treppenhaus aufhalten, die dort nicht unbedingt etwas verloren haben, trifft man hier nicht nur auf Zigarettenkippen, sondern oft auch auf Urinpfützen und andere Reste menschlicher Anwesenheit. In heißen Sommernächten kann es einem aber auch passieren, dass man versehentlich über ein Pärchen in Aktion stolpert. Manche Eingangstüren zu den einzelnen Wohnungen sind mit schweren Feuertüren regelrecht verbarrikadiert. Die Müllentsorgung funktioniert über einen zentralen Schacht, in den von jeder Etage aus die Abfälle einfach hinuntergeworfen werden.
Ist das Treppenhaus noch ziemlich verdreckt, so ändert sich das schlagartig, wenn man die Wohnung betritt. In den eigenen vier Wänden achten die Russen penibel auf Sauberkeit. Die Einrichtung ist meist einfach, aber in jedem Wohnzimmer hängt an der Wand ein großer Teppich. Im Fernsehen laufen seit der Wende auch brasilianische Seifenopern und die Lenor-Reklame für die russische Hausfrau.
A propos Hausfrau: Antje Vollmer, die Bundestagsvizepräsidentin der Grünen, die zwei Tage vor mir inoffiziell in Lipezk zu Besuch war, um den Alltag in der russischen Provinz, oder in ihren Worten: ‚Russland aus der Badewannenperspektive‘ kennenzulernen, hat den russischen Frauen bessere Waschmaschinen gewünscht. In der Tat sind die wenigsten vollautomatisch. Die russische Hausfrau muss noch viel mit der Hand waschen. Aber das ist eher noch der geringste Teil ihrer Belastung.
Politik
Wie stark die Russen sich für Politik interessieren? Ich weiß es nicht. Unter wechselnden Machthabern und in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen hat dieses Volk fast ausnahmslos die Erfahrung gemacht, dass es von denen da oben nur schamlos belogen, betrogen und ausgepresst wurde. Und daran hat sich seit der Wende nicht das Geringste geändert. Jelzins Demokratur hat sich als ein Raubtier- und Mafia-Kapitalismus der übelsten Sorte erwiesen, demgegenüber vielen Russen heutzutage die Chruschtschow- und Breschnew-Ära geradezu als Paradies erscheinen, wo alle Menschen noch gleich waren, niemand hungern musste und die Gehälter pünktlich ausgezahlt wurden.
Den unberechenbaren senilen Alkoholiker, der sich immer seltener im Kreml blicken läßt, nimmt auch hier niemand mehr für voll. Aber wie über Gorbatschow gesprochen wird, das tut mir weh! Natürlich wusste ich auch schon vorher, dass er bei den meisten Russen unbeliebt ist. Aber damit hier in Russland direkt konfrontiert zu werden, ist doch noch etwas anderes. Man gibt Gorbatschow die Schuld am Zusammenbruch der Sowjetunion. Meine Erwiderung, das Ende der Sowjetunion sei doch staatsstreichartig Anfang Dezember 1991 auf einer weißrussischen Datscha von Boris Jelzin und den damaligen Präsidenten Weißrusslands und der Ukraine beschlossen worden, wird nicht akzeptiert. Gorbatschow war eben zu schwach, die Sowjetunion zu erhalten, deshalb ist er schuld! Dass dieser Mann in Westeuropa und vor allem in Deutschland höchstes Ansehen genießt, macht ihn hier nur noch verdächtiger. Gorbatschow hat die Liegenschaften der Roten Armee in der DDR für‘n Appel und‘n Ei an Kohl verschachert und den Rückzug der Roten Armee so überhastet vollzogen, dass viele rückkehrende Soldaten und Offiziere den russischen Winter in Zelten überstehen mussten. Gorbatschow hat viel für das Ausland getan und kaum etwas für das eigene Land – so sehen das hier viele.
Wie soll es weitergehen in diesem Land? Wer kommt nach Jelzin? Hier in der russischen Provinz sind die Kommunisten noch immer stark. Aber auch wenn es eher unwahrscheinlich sein sollte, dass ein Mann wie Sjuganow Präsident wird, die Sehnsucht nach einem starken Mann, der durchgreift und aufräumt, ist allenthalben zu spüren. Für wen werden die Russen sich entscheiden? Für den Afghanistankämpfer General Lebed, der sich selbst ehrlicherweise als Halbdemokraten bezeichnet, für die Todesstrafe plädiert, aber auch die Kriege in Moldawien und Tschetschenien beendet hat? Für den Moskauer Bürgermeister Luschkow, der Moskau sauberer und zur zweitteuersten Stadt der Welt gemacht hat, pompöse neue Nationaldenkmäler dort errichten ließ und der in letzter Zeit auch zunehmend einen auf Weltpolitik macht?[1]
„Wir brauchen einen Diktator wie Pinochet!“ sagt eine sechzigjährige Rentnerin, deren Mann seit über einem halben Jahr sein Gehalt nicht ausgezahlt bekommen hat.
„Wir verstehen das auch nicht!“
Keinen Satz höre ich hier öfter, wenn mal wieder irgendetwas nicht klappt.
Warum sind die Bahnsteige in Russland so konstruiert, dass man beim Aussteigen aus dem Eisenbahnwaggon einen halben bis dreiviertel Meter großen Schritt machen muss, um auf den total vereisten Bahnsteig zu gelangen? Wie will eine alte Babuschka das denn schaffen? Wieviele Menschen werden im Winter wohl ausrutschen und womöglich zwischen Zug und Bahnsteig fallen? Kann ein Land, das den ersten Kosmonauten ins Weltall schickte, denn keine kundenfreundlicheren Züge konstruieren?
„Wir verstehen das auch nicht!“
Natürlich muss es in der ganzen Welt nicht so geleckt aussehen wie in Westdeutschland oder gar in der Schweiz! Aber müssen die Treppenhäuser denn so verwahrlost sein? Kann es hier nicht vielleicht so aussehen, wie – sagen wir – in Spanien? Warum gibt es noch nicht mal Licht? Warum sind alle Treppenstufen unterschiedlich hoch, so dass man ständig stolpern muss? Warum knallen die Haustüren jedesmal so unbarmherzig laut zu, dass das ganze Haus zu wackeln scheint? Ist es denn so schwer, wenigstens einen Gummitürstopper anzubringen? Warum scheint sich keiner daran zu stören? Warum repariert niemand im Treppenhaus die aufgebrochenen Briefkästen?
„Wir verstehen das auch nicht!“
Warum leckt die Teekanne immer, egal wie geschickt ich mich beim Eingießen auch anzustellen versuche? Warum ist das beim Wasserkessel genauso? Hat sich denn kein Ingenieur bei der Planung eines Alltagsgegenstandes jemals den Kopf darüber zerbrochen, wie das Ding am besten funktioniert?
„Wir verstehen das auch nicht!“
Warum muss ausgerechnet Russland aus der Türkei und China Pelzmäntel importieren? Wenn ein Land wie Russland nicht über Pelze verfügt, welches Land dann? Also, warum gibt es hier keine florierende Pelzindustrie?
„Wir verstehen das auch nicht!“
Warum spotten selbst in einer Universität die Toiletten jeglicher Beschreibung?
„Wir verstehen das auch nicht!“
Gastfreundschaft
Überall werde ich eingeladen, überall wird sofort aufgetischt. Wodka, Pelmini, Auflauf – irgendwo wird immer etwas hergezaubert. Auch wenn die Gastgeber selbst kaum noch etwas haben. Und dann gibt es die Trinksprüche und die langen Gespräche am russischen Küchentisch. Und noch den letzten und dann den allerletzten Wodka zum Kippen im Stehen: „На посошок! – Zum letzten Mal!“ Manchmal bekomme ich auch noch ein Abschiedsgeschenk mit. „Unsere russische Seele ist weit. Wir geben unser letztes Hemd her und unseren Rock“, beschreibt eine Lipezker Deutschlehrerin die russische Mentalität. Den Satz glaube ich sofort.
Oder wie eine Germanistikdozentin der Pädagogischen Hochschule ihre deutschen Freunde zitiert: „Die Russen übertreiben immer alles. Wir wussten ja, dass es in Russland dreckig ist, aber dass es so dreckig ist, wussten wir nicht. Und wir wussten, dass die Russen gastfreundlich sind, aber dass sie so gastfreundlich sind, das wussten wir auch nicht.“
Aberglaube
Wenn ich gut gelaunt bin, dann pfeife ich gerne vor mich hin. Irgendeine Melodie, die mir gerade durch den Kopf geht. Meistens ohne es zu merken. Jedenfalls ohne mir groß etwas dabei zu denken. Hier in Russland bekomme ich damit Probleme. „Bitte, Leo, pfeif nicht hier im Haus!“ – Warum ich nicht pfeifen soll? – Wenn man im Hause pfeift, dann wird die Familie bald kein Geld mehr haben. – Ach so!
Abends. Wir haben zu fünft Pizza gebacken und setzen uns an den Küchentisch. Alle sitzen gemütlich, wir wollen gerade anfangen, da gibt man mir zu verstehen, dass ich mich umsetzen soll. – Warum? – Ich habe mich an die Tischecke gesetzt. Und wer an einer Ecke sitzt, wird keine Frau bzw. keinen Mann abbekommen. – Also rücken alle zusammen.
Wenn man zuhause etwas vergessen hat und noch mal zurückgehen muss, muss man daheim als Erstes kurz in den Spiegel gucken, sonst verläuft der Tag nicht glücklich. Bevor man eine Reise antritt, müssen sich alle Familienmitglieder einen kurzen Moment gemeinsam hinsetzen und schweigen, damit unterwegs auch alles gut geht. Und wenn jemand aus der Familie dann auf Reisen ist, darf sein Zimmer nicht aufgeräumt werden, bis er sein Ziel erreicht hat. Auch das bringt sonst Unglück. Will man zum Geburtstag einen Blumenstrauß schenken, dann muss es eine ungerade Zahl von Blumen sein. Ein Strauß mit gerader Zahl ist für Beerdigungen bestimmt. Seinem Liebsten darf man auf keinen Fall ein Bild von sich schenken, sonst wird man sich mit ihm verkrachen oder sieht ihn vielleicht nie wieder.
Und so weiter, und so weiter. Das sind nur die wenigen Regeln, die ich mitbekommen habe. Es gibt noch tausend mehr.
Ihr lieben Russen, was seid Ihr abergläubig! Habt Ihr zuhause alle zuviel gepfiffen oder warum haben die meisten Familien kaum noch Geld zum Einkaufen?
Religion
Man geht wieder in die Kirche. Nein, nicht nur die frisch konvertierten Altkommunisten wie Jelzin und Luschkow. Auch junge Leute. „In die Kirche zu gehen, war eine Zeit lang eine richtige Mode“, erzählt mir eine Germanistikdozentin. Nach der Wende haben viele sich taufen lassen. Es sind deshalb nicht mehr nur die gebückten alten Frauen, die man in den Gottesdiensten sieht. Heutzutage würden sich nur noch die wenigsten als Atheisten bezeichnen. Aber an was glauben die neuen Gläubigen denn eigentlich? Was wissen sie von der christlichen Religion, von der orthodoxen Kirche? Können religiöse Traditionen, die 70 Jahre lang abgerissen waren, so schnell wieder aufgenommen werden? Selbst wenn es in vielen Familien noch eine Babuschka gab, die gläubig war und auf dem Lande einige kirchliche Bräuche überdauerten? Ich habe da meine Zweifel.
Mir kommt es oft vor, als gingen viele der neuen Gläubigen mit dem Glauben so um wie mit den zahlreichen abergläubigen Ritualen auch. Man bekreuzigt sich dreimal, bevor man eine Kirche betritt, aber worum es im christlichen Glauben geht, scheinen die wenigsten genauer zu wissen. Oder umgekehrt: Was es mit dem Christentum im einzelnen auf sich hat, weiß man nicht so genau, aber man betritt eine Kirche mit Ehrfurcht und wenn jemand aus der Familie krank ist, entzündet man eine Kerze vor der Ikone der Jungfrau Maria. Kann ja nichts schaden! Selbst in den klapprigen russischen Zweitaktern sieht man jetzt öfters eine Marien-Ikone am Armaturenbrett.
Als „Opium des Volkes“ war die russisch-orthodoxe Kirche in der Zeit des Kommunismus unterschiedlichen Formen der Verfolgung ausgesetzt. Rigide in der Stalinzeit, später etwas weniger streng. Auf Druck der Partei wurden viele Kirchen zu Museen, Scheunen, Kinos oder Getreidesilos umfunktioniert. Die Folgen kann man überall im Land besichtigen. Vor der Revolution war es bei reichen russischen Kaufleuten Brauch, Kirchen erbauen zu lassen. Eine kleine Handelsstadt wie das über 850 Jahre alte Jelez, circa 70 Kilometer von Lipezk entfernt, verfügte einmal über 50 Kirchen. Heute stehen hier noch fünf bis sechs, von denen einige nun mühsam wieder restauriert werden.
Am besten wiederhergerichtet ist das Nonnenkloster bei Sadonsk. Die Kosten übernimmt hier das Lipezker Eisenhüttenkombinat. – Mein Gott, wenn Lenin das wüsste!
Vor den Kirchen stehen die Babuschkas und betteln. In den Kirchen rutschen sie auf den Knien und wischen den Fußboden oder verkaufen Gebetbücher und Ikonen. Als ich in den Achtziger Jahren in Moskau war, fegten die alten Frauen noch den Roten Platz und das Leninmausoleum. Was hat sich geändert?
Je länger ich über alles nachdenke, desto mehr verändert sich auch mein Blick auf den Kommunismus. Im nachhinein erscheint er mir eher wie eine spezifische Form russisch-byzantinischer Herrschaft. Wie tief die Tendenz zur Unterwerfung seit Jahrhunderten im russischen Volk verwurzelt ist, wie rudimentär die westeuropäische Aufklärung in diesem Lande nur angekommen ist, wie wenig die Tiefenstruktur der russischen Gesellschaft sich auch unter wechselnden politischen Systemen verändert hat – dafür bekommt man ein Gespür, wenn man sich intensiver mit der orthodoxen Kirche befaßt.
Haben die Russen überhaupt jemals eine Revolution gemacht? Nie und nimmer! Die sogenannte große Oktoberrevolution war in Wirklichkeit ein Staatsstreich einer handvoll Berufsrevolutionäre, die dem Volk das Gesellschaftssystem aufzwangen, mit dem sie die ganze Menschheit beglücken wollten. Und das Volk ließ es über sich ergehen wie zuvor die Zarenknute und heute den Mafia-Kapitalismus.
Was sich geändert hat seit der Wende? Das Volk unterwirft sich wie eh und je und träumt insgeheim von einem guten Zaren.
(Fortsetzung folgt)
[1] Der Name Wladimir Putin war, wie man sieht, Ende 1998 noch niemandem in Russland ein Begriff!
Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.