Ost-Ausschuss-Kolumne: Smart Factory statt Ruhrkohle
Man sieht dem Mann an, dass er begeistert ist. In einem Fahrstuhlschacht gleitet eine futuristisch anmutende Kabine geräuschlos in die Höhe. Eine zweite fährt im gleichen Schacht nach unten. Was in einem Katastrophenfilm mit sich steigernder dramatischer Musik unterlegt wäre, ist hier genau so gewollt. MULTI heißt das System von ThyssenKrupp, und es kann nicht nur mehrere Kabinen in einem Schacht steuern.
Die Einzelkabinen können auch vertikal fahren, wie in einem Paternoster in einen anderen Schacht hinübergleiten und wenn es notwendig sein sollte, auch diagonal bewegt werden. Die eigentliche Sensation ist allerdings, dass diese Kabinen nicht mehr mit Seilen bewegt werden, sondern mit der Magnetschwebetechnik, die einst den Transrapid von A nach B bringen sollte.
Ein bisschen wie Raumschiff Enterprise
Diese Autonomie macht es auch in hohen Gebäuden möglich, die Wartezeit bei maximaler Sicherheit für die Passagiere auf ein Minimum zu verkürzen. Außerdem kann man im besten Fall auf die Hälfte der Fahrstuhlschächte verzichten und gewinnt damit deutlich mehr Platz.
Das System ist keine durchgeknallte Phantasie experimentierfreudiger Technikfreaks. Es hat Serienreife und wird in den kommenden Jahren im Observation Tower in Dubai und im East Side Tower in Berlin zur Anwendung kommen. Der Mann, der sich von dieser Technik begeistert zeigt, ist stellvertretender russischer Industrieminister.
Deutschland immer noch das Maß der Dinge
Es ist Technik wie diese, für die es sich lohnt, volle zwei Tage im Ruhrgebiet Unternehmen zu besuchen. Deutschland gilt weltweit immer noch als das Maß der Dinge, wenn es um intelligente Lösungen, Hochtechnologie und Ingenieurskunst geht. Aber auch ich Sachen Energieeffizienz, Smart Manufacturing, Industrie 4.0 und Digitalisierung ist die deutsche Wirtschaft führend.
Russland will jährlich bis zu 500 Milliarden Rubel in die Modernisierung der Gebäudeinfrastruktur investieren. Dafür braucht es intelligente Technik wie diese, die auch in bereits bestehende Systeme integriert werden kann.
Pumpen, die denken
Das Gerät ist übermannsgroß und sieht aus wie ein modernes Übertragungssystem in laubfroschgrün mit riesigem Monitor. In Wirklichkeit ist es eine Pumpe der neuesten Generation, die in der Lage ist, mit der Gebäudetechnik in der Umgebung zu kommunizieren: Smart Technology des 21. Jahrhunderts und ein Vorgeschmack darauf, was mit volldigitalisierter Produktion in Zukunft möglich sein wird.
So verrückt sich das anhört, aber diese Pumpen werden denken können. Naja, wenigstens können sie einfache Denkoperationen ausführen. In jedem Fall haben sie nicht mehr viel mit dem zu tun, was wir uns unter normalen Pumpen vorstellen, und sie sind energieeffizient. Bei ihrem Einsatz können bis zu 50 Prozent Energie eingespart werden. Bei steigenden Energiepreisen und schmaleren Budgets ist auch diese Technik von hohem Wert für die russische Wirtschaft.
Hightech für Russland
Der Pumpenhersteller Wilo setzt so Industrie 4.0 konsequent in die Tat um. Wobei das Konzept weit über die bloße Transformation analoger in digitale Herstellungsprozesse hinausgeht. Direkt neben dem jetzigen Firmensitz in Dortmund entsteht ein Gelände, auf dem bis Mitte 2019 eine so genannte Smart Factory gebaut wird. Parallel zur Inbetriebnahme wird der Kunde über ein digitales Interface die Möglichkeit haben, seine individuellen Anforderungen direkt mit den Ingenieuren zu diskutieren und mit ihnen zu interagieren.
Nach dem erfolgreichen Start in Deutschland ist der erste Rollout außerhalb Deutschlands im russischen Noginsk geplant. „Wir sind in Russland auch in diesem Jahr zehn Prozent gewachsen und die Russen sind unglaublich internet- und technikaffin. Es ist nur logisch, dass wir das Modernste vom Modernen zuerst dorthin transferieren“, so Oliver Hermes, Vorsitzender des Vorstands und Chief Executive Officer Wilo Group. Ganz nebenbei wäre das auch die erste derartige Produktion in Russland – Pioniergeist macht sich breit.
Start-ups statt Kohlekumpel
Ein paar Kilometer weiter, mitten im Herzen des Ruhrgebietes, erhebt sich ein Industriedenkmal, das von besseren Zeiten kündet: die Zeche Zollverein. In den Fördertürmen, die einstmals vom Lärm der Loren widerhallten, ist Stille eingekehrt. Kein Steiger schlägt mehr Kohle, keine Kumpel fahren mehr ein. 2018 werden die letzten Steinkohlegruben in Deutschland geschlossen. Damit endet eine jahrhundertalte Tradition. Eine Industrie stirbt aus. Aber eine andere entsteht.
Dort, wo früher Männer mit kohlegeschwärzten Gesichtern die Szenerie prägten, sitzen jetzt junge Männer mit Laptops und entwickeln Internetanwendungen für unterschiedlichste Branchen. Die Unternehmerfamilie Haniel investiert hier Venture-Capital, um Start-ups zu unterstützen. Auch in Russland gibt es Unterstützung für Gründer und Start-ups, allerdings zumeist staatliche. Dazu sagt der Minister einen erstaunlichen Satz: „In Russland sind Entwicklungen fast immer top-down, aber kaum je bottom-up getrieben. Das wollen wir ändern.“ Im Ruhrgebiet kann man lernen, wie das umgekehrt funktioniert.
Die Zukunft hat längst begonnen
Im einstigen Kernland der Montanindustrie und der Ruhrbarone hat die Zukunft längst begonnen. Hier bekommt man eine Vorstellung davon, was Industrie 4.0 und Digitalisierung wirklich bedeuten. Und die deutsche Wirtschaft, so scheint es, ist für die nächste Revolution, denn genau das ist es, was augenblicklich passiert, sehr gut aufgestellt. Der Vizeminister fliegt begeistert zurück nach Moskau, und ich mache mich voller Zuversicht auf den Rückweg nach Berlin.
Am Bahnhof erwartet mich ein „Ersatzzug“, der natürlich zu spät kommt. Das archaische Modell mit plüschigen Sitzen ist in Abteile unterteilt, hat in der Toilette noch eine Zigarettenablage und natürlich kein WLAN. Aber damit könnte ich hier sowieso nichts anfangen, denn mein Handy schreibt mir: „Mobilnetz nicht verfügbar. Sie befinden sich außerhalb des Abdeckungsbereiches.“ Wie es scheint, bleibt doch noch etwas zu tun in Deutschland.
Die Kontaktstelle Mittelstand ist eine Initiative zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Sie nahm im Mai 2013 ihre Arbeit auf. Ziel der Kontaktstelle ist die Unterstützung deutscher mittelständischer Unternehmen, die einen Markteintritt oder den Ausbau ihrer Geschäftsaktivitäten in den durch den Ost-Ausschuss vertretenen Ländern, insbesondere jedoch in Russland planen.
Anfragen richten Sie bitte an: j.boehlmann@bdi.eu