Gestrandet – Russische Deserteure in der EU

Russische Deserteure, die sich der Teilmobilmachung entzogen und es irgendwie in die EU geschafft haben, sind damit noch lange nicht in Sicherheit. Sie müssen einen Weg finden, hier auch legal bleiben zu können. – Unser Autor hat zwei von ihnen in Paris getroffen.

von Leo Ensel

„Unser ganzes Geld mussten wir in bar mitnehmen. Unsere Kreditkarten funktionieren hier in der EU ja nicht. Aufgrund der westlichen Sanktionen.“

Wir sind in einem Bistro an der zugigen Place d‘Italie im Süden von Paris. Es ist ein regnerischer Oktoberspätnachmittag. Mir gegenüber sitzen zwei junge Männer, nennen wir sie Narek und Maxim. Narek, Ende 20, ist geborener Armenier russischer Staatsangehörigkeit. Als er zwei Jahre alt war, zog seine Familie nach Russland. Aufgewachsen ist er in St. Petersburg. In den letzten Jahren lebte er in Moskau und verdiente sein Geld im Kulturmanagement. Maxim, Russe aus Moskau mit jüdischen Wurzeln im weißrussischen Pinsk, ist Mitte 30 und Facharzt für Kardiologie. Er hat mehrere Krankenhauspraktika in Deutschland absolviert und spricht auch etwas Deutsch.

Narek und Maxim sind russische – wie wollen wir sie nennen? Kriegsdienstverweigerer? Teilmobilmachungsflüchtlinge? Deserteure? – Jedenfalls wollten sie nicht eingezogen und in die Ukraine verlegt werden, um dort gegen das Brudervolk kämpfen zu müssen. Die Beiden hatten vergleichsweise Glück. Wenige Tage nach Putins Anordnung zur Teilmobilisierung vom 21. September verließen sie mit einem italienischen Schengenvisum ihr Land über die russisch-finnische Grenze. Damals lief das verblüffend einfach: Der russische Grenzoffizier, der sie nicht groß nach ihrem Reiseziel befragt hatte, winkte ihnen sogar noch freundlich hinterher. Es war die Zeit, in der One Way-Flüge von Russland nach Istanbul oder Dubai bereits um die 5.000 Dollar kosteten. (Direktflüge in die EU sind für russische Staatsbürger aufgrund der EU-Sanktionen ausgeschlossen.) In Finnland angekommen, schlugen die Beiden sich per Bus nach Stockholm durch und flogen von dort nach Paris. Nun wohnen sie seit drei Wochen am Pariser Stadtrand bei einer entfernten Verwandten Nareks.

Das „Dolce Vita“ im Westen

Heute, einen Monat später, wäre eine solche Flucht so gut wie ausgeschlossen. Nicht nur die russischen Grenzen Richtung EU sind für Männer im wehrpflichtigen Alter jetzt dicht, die angrenzenden EU-Länder lassen russische Deserteure auch nicht mehr rein! Den Anfang machten, unmittelbar nach Putins Ankündigung, Polen, die baltischen Staaten und Tschechien. Finnland und Norwegen, das zum Schengenraum gehört, zogen wenige Tage später nach. Außerhalb der EU blieben danach als Favoriten zeitweise noch Länder aus dem postsowjetischen Raum wie Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Kasachstan, aber auch die Mongolei und Serbien.

Die offiziellen Begründungen, russischen Deserteuren die Einreise in die EU zu verweigern, sind atemberaubend. Die Russen seien kollektiv für den Krieg in der Ukraine verantwortlich. Russen, die einen Militärdienst umgehen wollten, nach Estland zu lassen, würde gegen EU-Sanktionen gegen Russland verstoßen. So sehr kühn der estnische Innenminister Lauri Läänemets. Ein Zynismus, der nur noch durch den des damaligen ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, übertroffen wurde: „Junge Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, müssen Putin und sein rassistisches Regime endlich stürzen, anstatt abzuhauen und im Westen Dolce Vita zu genießen“, twitterte Melnyk forsch einen Tag nach Putins Teilmobilmachung.

„Wie stellt der sich das denn eigentlich vor? Soll ich den Kreml stürmen und Putin erschießen?“, erregt sich Narek. Er und Maxim lehnen den russischen Angriffkrieg auf die Ukraine strikt ab. Aber sie sind auch skeptisch, was die Politik des Westens angeht. Sie geben ihm eine Mitschuld bei der Entstehung der Spannungen und zweifeln, ob es überhaupt das Ziel des Westens ist, die Kampfhandlungen schnellstmöglich zu beenden.

Ein dreifaches Problem

Man macht es sich hier normalerweise zu wenig bewusst. Russische Deserteure, deren Ziel die Europäische Union ist, stehen vor einem dreifachen Problem: Sie müssen es nicht nur irgendwie schaffen, aus Russland raus- und in die EU reinzukommen. Sie müssen es nicht zuletzt schaffen, dort auch längerfristig bleiben können! (Ein Touristenvisum für die EU ist auf drei Monate befristet.)

Genau vor diesem Problem stehen nun Narek und Maxim. Wobei für Maxim die Chancen deutlich besser stehen. Ärzte werden in Deutschland schließlich händeringend gesucht. Maxim macht gerade alte Kontakte wieder flott. „Aber erstmal Deutsch lernen und den C1-Abschluss schaffen!“ In ein paar Tagen fährt er ins Ruhrgebiet.

Und Narek? Er weiß noch nicht. Nur eines will er auf gar keinen Fall: nach Russland zurückkehren! „Wenn es hier nicht klappt, dann fliege ich nach Armenien.“ Dort hat er noch Verwandte.

Sein Bruder, Familienvater in Russland, hatte weniger Glück. Wenige Tage nach Nareks Flucht wurde er eingezogen. Wo er sich im Moment aufhält? „Keine Ahnung!“

PS:

Nachdem sich hierzulande anfangs führende Politiker von der CDU bis zur Linkspartei dafür aussprachen, russischen Kriegsdienstverweigerern in Deutschland Schutz zu gewähren – Bundesjustizminister Buschmann: „Wer Putins Weg hasst und die liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen“ –, ist die Diskussion darüber längst wieder abgeebbt. Fast ist man versucht zu schreiben, Deutschland habe sich seine substanzlose Freundlichkeit auch leisten können. Schließlich hatten die an Russland angrenzenden EU-Staaten den willkommensfreudigen deutschen Politikern den Großteil der Dreckarbeit längst abgenommen!

Dieser Artikel wurde zuerst auf Globalbridge veröffentlicht.

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