2023 wuchs Russlands Wirtschaft weit stärker als fast alle Beobachter erwartet haben. Bei einer Ende Dezember durchgeführten Interfax-Umfrage veranschlagten die Analysten den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im letzten Jahr auf 3,4 Prozent, fast so hoch wie er von der Regierung eingeschätzt wird (+ 3,5 Prozent). Schon 2024 rechnen viele Beobachter aber mit einer Halbierung des Wachstums.
Dabei sank der Anstieg der Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich von 13,8 Prozent im Jahr 2022 auf 5,9 Prozent im Jahr 2023. Trotz stark erhöhter Rüstungsausgaben erreichte das Defizit im föderalen Haushalt nur 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Leistungsbilanzüberschuss sank zwar gegenüber dem Rekordergebnis im Vorjahr deutlich, belief sich 2023 aber noch auf rund 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Umstellung der russischen Wirtschaft auf eine „Kriegswirtschaft“ scheint offenbar zunächst gelungen. Schon 2024 rechnen viele Beobachter aber mit einer Halbierung des Wachstums.
UN und Weltbank erwarten 2024 nur noch 1,3 Prozent Wachstum
Als erste der großen internationalen Organisationen haben im neuen Jahr die „Vereinten Nationen“ am 04. Januar ihre neuen Prognosen für die Entwicklung der Weltwirtschaft im Jahr 2024 veröffentlicht. In Russland erwarten die „United Nations“ in ihrem Bericht „World Economic Situation and Prospects 2024“ in diesem Jahr eine Halbierung des Wirtschaftswachstums. Nach einem Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 um 2,7 Prozent werde es im Jahr 2024 nur noch um 1,3 Prozent wachsen.
Diese Erwartungen stimmen fast genau mit den neuen Prognosen der Weltbank überein. Sie erhöhte am 09. Januar in den halbjährlich erscheinenden „Global Economic Prospects“ ihre Schätzung für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 auf 2,6 Prozent. Im Juni hatte die Weltbank noch mit einem weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,2 Prozent gerechnet. 2024 erwartet auch die Weltbank eine Halbierung des Wachstums der russischen Wirtschaft auf nur noch 1,3 Prozent.
Michael Rochlitz, „Associate Professor in the Economies of Russia, Eastern Europe and Eurasia“ am St. Antony’s College der Universität Oxford, nahm am Jahreswechsel in einem ausführlichen ntv.de-Interview zur Entwicklung der russischen Wirtschaft Stellung . Er streicht heraus, dass Branchen, die Russland zukunftsfähig machen könnten, unter dem Aufbau der „Kriegswirtschaft“ zu leiden haben.
Die Schätzungen für das BIP-Wachstum 2023 liegen noch weit auseinander
Ihre Schätzungen für das Wachstum der russischen Wirtschaft im zurückliegenden Jahr 2023 hoben die UN und die Weltbank jetzt zwar kräftig weiter an. Sie liegen mit + 2,6 Prozent (Weltbank) und + 2,7 Prozent (UN) aber weiterhin deutlich unter den Schätzungen der russischen Regierung.
Ende September hatte die Regierung in ihrer Haushaltsplanung den BIP-Anstieg im Jahr 2023 zwar auch noch auf lediglich + 2,8 Prozent veranschlagt. Anfang Dezember erklärte Wirtschaftsminister Reschetnikow jedoch, 2023 werde ein Wachstum von 3,5 Prozent erreicht. Präsident Putin meinte bei einem Unternehmertreffen am 11. Januar, das Wachstum im Jahr 2023 werde in einem andauernden Prozess immer wieder neu eingeschätzt. Letztlich könnte es vielleicht „über 4 Prozent“ erreichen (eng.kremlin.ru; Monocle.ru; Vedomosti). Der Präsident verwies auf die Revision der Schätzung des Statistikamtes Rosstat für die Produktionsentwicklung im Jahr 2022. Laut der dritten Rosstat-Schätzung ist Russlands Bruttoinlandsprodukt 2022 nicht um 2,1 Prozent gesunken, sondern nur um 1,2 Prozent (Vedomosti.ru; Rosstat.ru).
Vor allem viele westliche Banken und Institute veranschlagen das Wachstum im Jahr 2023 deutlich niedriger als die russische Regierung. Das zeigen die im Dezember vom in Barcelona ansässigen Research-Institute FocusEconomics erfassten Prognosen zum Wachstum der russischen Wirtschaft. Sie stiegen auf durchschnittlich 2,4 Prozent.
Die Prognosen vieler russischer Banken und Institute zum Wachstum im Jahr 2023 folgten der Einschätzung der Regierung hingegen bereits weitgehend So ist die bei der jüngsten Interfax-Umfrage Ende Dezember ermittelte durchschnittliche Wachstumserwartung für 2023 mit + 3,4 Prozent fast so hoch wie die Schätzung von Wirtschaftsminister Reschetnikow (+ 3,5 Prozent).
Die Prognosen der von Interfax befragten Analysten für das Wirtschaftswachstum im Jahr 2024 liegen mit + 1,3 Prozent hingegen weiterhin deutlich unter der Ende September veröffentlichten Wachstumsprognose der Regierung von + 2,3 Prozent, die bisher noch nicht aktualisiert wurde.
BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
UN: Russlands Wirtschaft wuchs 2023 unerwartet stark um „fast 3 Prozent“
Der UN-Bericht World Economic Situation and Prospects 2024 nimmt im Kapitel für den Raum der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, GUS“ viel ausführlicher zur aktuellen Lage der russischen Wirtschaft und ihren Perspektiven Stellung als die Weltbank. Die „United Nations“ stellen folgende Entwicklungen heraus:
Das Wachstum der Wirtschaft der Russischen Föderation lag 2023 nach Schätzung der UN mit „fast 3 Prozent“ über den Erwartungen. Russlands Wachstum von 2,7 Prozent trug dazu bei, dass auch das Wirtschaftswachstum im Raum der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (einschl. Georgien) im Jahr 2023 mit schätzungsweise 3,3 Prozent die bisherigen Prognosen übertraf.
Die Steigerung der öffentlichen Ausgaben und die zunehmende Substitution von Einfuhren durch inländische Produkte erklären den Aufschwung der Produktion der russischen Wirtschaft zum größten Teil. Russland erhöhte seine Ausgaben für das Militär 2023 sprunghaft. Der starke Anstieg der Rüstungsproduktion kurbelte die Industrieproduktion an. Außerdem erreichte die Produktion der Landwirtschaft nahezu ihr früheres Rekordniveau.
Die Mobilisierung von Wehrpflichtigen und die Auswanderung aus Russland führten 2023 zu einem „massiven Mangel“ an Arbeitskräften, der auf etwa 1,5 Millionen Personen geschätzt wird. Die Arbeitslosenquote in Russland sank im Oktober auf ein Rekordtief von 2,9 Prozent. Die Gesamtzahl der Beschäftigten war höher als vor der Pandemie.
Der Private Verbrauch und die Investitionen stiegen 2023
Vor dem Hintergrund des angespannten Arbeitsmarktes stiegen die Nominallöhne schnell. Außerdem wurden die staatlichen Sozialtransfers erhöht. Das trieb den privaten Verbrauch im ersten Halbjahr in die Höhe. Im weiteren Jahresverlauf führte die Beschleunigung des Preisanstiegs jedoch zu einem Rückgang der Realeinkommen.
Die Investitionen stiegen im Jahr 2023 um rund 6 Prozent, auch dank des Wachstums der Bauproduktion. Subventionen für die Aufnahme von Hypotheken trugen dazu bei, dass im Zeitraum Januar bis Oktober rund 22 Prozent mehr Hypotheken als im Vorjahr aufgenommen wurden.
Russland spürt die Sanktionen und sinkende Exporterlöse immer mehr
Allerdings spürt die Wirtschaft der Russischen Föderation, so der UN-Bericht, inzwischen zunehmend die Auswirkungen der Sanktionen und sinkender Exporterlöse. Russland sei es zwar weitgehend gelungen, die von den „G7-Staaten“ für russische Ölexporte verhängte Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel zu umgehen, indem es Tanker ohne den Schutz westlicher Versicherungsunternehmen einsetzt. Andererseits müsse Russland beim Verkauf von Rohöl an Großkunden wie China und Indien aber hohe Preisnachlässe gewähren. Russlands Erdgasförderung und seine Ausfuhren von Erdgas seien wegen der starken Abnahme der Erdgaslieferungen durch Pipelines in die Europäische Union deutlich zurückgegangen.
Bloomberg: Staatliche Energie-Einnahmen 2023 um fast ein Viertel gesunken
Laut einem Bloomberg-Bericht vom 11. Januar waren die Einnahmen des russischen Staates aus dem Öl- und Gassektor im Jahr 2023 rund 24 Prozent niedriger als im Vorjahr. Nach Angaben des russischen Finanzministeriums seien die staatlichen Einnahmen aus dem Energiebereich im vergangenen Jahr auf 8,82 Billionen Rubel zurückgegangen (99,3 Milliarden US-Dollar oder rund 90 Milliarden Euro). Als Ursachen verweist Bloomberg auf niedrigere Ölpreise und eine starke Abnahme der Erdgasausfuhren.
Zu berücksichtigen ist aber, dass die staatlichen Einnahmen aus dem Energiebereich 2022 stark gestiegen waren. Trotz ihres Einbruchs im Jahr 2023 um fast ein Viertel waren sie deshalb im letzten Jahr kaum niedriger als im Jahr 2021.
Wie die folgende Bloomberg-Abbildung zeigt, sind 2023 im Vergleich zum Jahr 2022 vor allem die staatlichen Einnahmen aus dem Gasexport gesunken (grauer Säulenteil). Sie gingen um 65 Prozent zurück, weil Russland kaum noch Gas nach Europa lieferte. Außerdem berichtet Bloomberg, dass die Erdgaspreise in Europa im letzten Jahr nach Angaben der Internationalen Energie-Agentur „weniger als halb so hoch“ wie im Vorjahr gewesen seien.
Staatliche Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich, Billionen Rubel
Bloomberg News: Russia’s 2023 Oil and Gas Revenue Curbed by Sanctions, Cheaper Crude, 11.01.24; Bloomberg-Berechnungen auf Basis von Angaben des Finanzministeriums
Viel schwächer als die staatlichen Einnahmen aus dem Gasbereich sanken 2023 die Einnahmen aus dem Ölbereich. Zu dem Rückgang trug bei, dass der Preis von russischem Urals-Öl im Vorjahresvergleich um rund 17 Prozent auf 62,99 US-Dollar pro Barrel sank.
Bloomberg: Haushaltsdefizit 2023 bei knapp 2 Prozent des BIP
Bloomberg berichtet, dass das Defizit im föderalen Haushalt im Jahr 2023 laut Angaben des Finanzministeriums auf 3,2 Billionen Rubel stieg (36,1 Milliarden US-Dollar). Dieses Defizit entspreche 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
UN: Russlands Leistungsbilanzüberschuss ist 2023 „dramatisch“ gesunken
Die folgende Abbildung aus dem UN-Bericht zeigt auf der linken Seite, dass die Erlöse Russlands aus dem Export fossiler Energieträger im Jahr 2023 deutlich niedriger waren als 2022. Diese Abnahme der Exporterlöse führte, so der UN-Bericht, bei einer teilweisen Erholung der russischen Einfuhren zu einem „dramatischen Rückgang“ des Überschusses in der Leistungsbilanz, der 2022 neue Rekordhöhen erreicht hatte (rechte Seite der folgenden Abbildung).
Erlöse aus dem Export fossiler Energien (Mio. US-Dollar/Tag) und Leistungsbilanzüberschuss (Mrd. US-Dollar/Vierteljahr)
United Nations: „World Economic Situation and Prospects 2024“, 04.01.24
UN: Der schwache Rubel trieb die Inflation; die Geldpolitik wurde gestraft
Erhebliche Schwierigkeiten bei der Integration der auf Dollar lautenden Exporterlöse in das Finanzsystem der Russischen Föderation trugen, so die UN, zu einer starken Abwertung der Landeswährung Rubel in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 bei (Chart).
Zusammen mit einem starken Anstieg der Arbeitskosten führte die schwächere Währung im Jahresverlauf zu einem erneut zunehmenden Inflationsdruck (Chart, im Dezember 2023 sank die jährliche Inflationsrate laut Rosstat jedoch auf 7,4 Prozent; im Jahresdurchschnitt 2023 war der Anstieg der Verbraucherpreise mit 5,9 Prozent viel niedriger als 2022 mit 13,8 Prozent).
Die Zentralbank erhöhte 2023 schrittweise die Leitzinsen (Chart). Ab Oktober 2023 wurden vorübergehend wieder Kapitalkontrollen für Exporteure eingeführt. Devisenkäufe wurden bis zum Jahresende 2023 ausgesetzt.
UN-Prognose: Russlands Wachstum sinkt 2024 auf „etwas mehr als ein Prozent“
Da sich die Inflationserwartungen in Russland verfestigen, dürfte eine Lockerung der Geldpolitik nach Einschätzung der UN im Jahr 2024 nur sehr langsam erfolgen.
Die staatliche Ausgabenpolitik wird das Wachstum der Wirtschaft der Russischen Föderation weiterhin unterstützen. Es wird erwartet, dass die Haushaltsausgaben im Jahr 2024 um über 25 Prozent steigen, wobei der Schwerpunkt auf den Verteidigungsausgaben liegen wird.
Die Quote der Staatsverschuldung ist zwar nach Schätzung der UN von 16,4 Prozent des BIP im Jahr 2021 auf 21 Prozent des BIP im Jahr 2023 gestiegen. Sie bleibt damit aber, so die UN, „relativ niedrig und beherrschbar“.
2024 ist allerdings mit einer Abschwächung des privaten Konsums zu rechnen. Die Realeinkommen stagnieren voraussichtlich. Das Volumen der Konsumentenkredite dürfte aufgrund höherer Zinsen zurückgehen. Russlands Wirtschaftswachstum wird nach Einschätzung der UN 2024 auf „etwas mehr als 1 Prozent“ abnehmen. Anhaltende Sanktionen, die den Transfer fortschrittlicher Technologien nach Russland verhindern, untergraben Russlands Wachstumsaussichten. Die Sanktionen führen zu einer geringeren Produktivität. Die Wachstumsmöglichkeiten verschlechtern sich außerdem durch den Rückgang der Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte.
DekaBank: Russlands Wachstum sinkt 2024 von 3,0 auf 1,1 Prozent
Die Research-Abteilung der Frankfurter DekaBank, des Wertpapierhauses der Sparkassen, erwartet für Russland in der am 12. Januar veröffentlichten Ausgabe der „Emerging Markets Trends“ (PDF) eine ähnliche Wachstumsentwicklung wie die „Vereinten Nationen“. Ihre Prognose für das 2023 erreichte Wachstum hob die DekaBank von 2,6 Prozent auf 3,0 Prozent an. Im Jahr 2024 erwartet sie weiterhin eine deutliche Abschwächung des Wachstums auf 1,1 Prozent.
Die DekaBank meint zur aktuellen „Überhitzung“ der russischen Wirtschaft und zur Wirksamkeit der Leitzinsanhebungen der Zentralbank:
„Die russische Wirtschaft hat im vergangenen Jahr in den Kriegsmodus geschaltet, ohne allerdings die Sozialausgaben aus den Augen zu verlieren, um die Unterstützung der Bevölkerung weiterhin zu sichern. Das spiegelt sich bspw. im Staatshauthalt 2024 wieder, wo knapp 30% aller Ausgaben in den Sektor „nationale Verteidigung“ fließen und rund 20% in den Bereich der Sozialpolitik. Kurzfristig schiebt diese Strategie die Wirtschaft deutlich an: Im vergangenen Jahr mussten die Prognosen mehrfach nach oben revidiert werden, und es zeichnet sich auch um die Jahreswende keine nennenswerte Abkühlung der Gesamtwirtschaft an. Die Zentralbank versucht, gegen die Überhitzung mit Leitzinsanhebungen vorzugehen und hat den Leitzins zuletzt im Dezember auf 16% angehoben. Doch die Finanzierung erfolgt in vielen Bereichen staatlich gelenkt und vergünstigt. Die geldpolitische Straffung ist somit vor allem in privat dominierten Sektoren zu spüren, womit die Rolle des Staates in der Wirtschaft noch weiter zunimmt.“
Zur Wirksamkeit der westlichen Sanktionen merkt die DekaBank an:
„Die russische Wirtschaft hat die erste Schockwelle der massiven Sanktionen besser als erwartet überstanden. Für die sanktionierten westlichen Importe konnten teilweise neue Logistikrouten aufgebaut werden. Nach der Einführung des EU-Ölembargos und der G7-Preisobergrenze für das russische Öl sind neue Exportwege unter dem Sanktionsregime mittlerweile etabliert, sodass der initial hohe Abschlag für das russische Öl im Jahresverlauf gesunken ist und sich die Einnahmesituation für den Staatshaushalt vorerst stabilisiert hat.“
Professor Rochlitz: Russlands Wirtschaft geht es „erstaunlich gut“
Zur aktuellen Lage und zu den Perspektiven der russischen Wirtschaft äußerte sich am Jahreswechsel auch Professor Michael Rochlitz in einem ausführlichen ntv.de-Interview.
Zuvor hatte Prof. Rochlitz mehrfach im Podcast „Zaren, Daten, Fakten“ der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer zur russischen Wirtschaft Stellung genommen, zuletzt am 03. Dezember in einem einstündigen „Kammer-Gespräch“ zusammen mit Volker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Netfonds-Gruppe.
Die Entwicklung in den beiden letzten Jahren skizziert Rochlitz im ntv.de-Interview zusammengefasst so:
Knapp zwei Jahre nach Beginn des Ukraine-Krieges geht es der russischen Wirtschaft „erstaunlich gut“. Sie ist viel krisenfester als zunächst angenommen wurde. Ende Februar 2022 sind Experten noch davon ausgegangen, dass die russische Wirtschaft bis Ende 2022 um bis zu 15 Prozent einbrechen wird. Das war nicht der Fall.
Geholfen hat der russischen Wirtschaft zum einen, dass die Zentralbank sehr kompetent reagierte. Sie hat Anfang März 2022 nicht nur den Leitzins radikal auf 20 Prozent angehoben, sondern auch kurzzeitig Exportkontrollen für Kapital verhängt. Dadurch konnte der erste Schock der Sanktionen abgefedert werden.
Außerdem ist es Russland gelungen, die Kontrollen beim Ölexport abzufedern, indem man eine Flotte „Schattenschiffe“ aufgebaut hat, die Öl trotz der Sanktionen exportiert hat.
Rochlitz: Die „Kriegswirtschaft“ hat zu einem Wachstum von 3,5 Prozent geführt
Seit Ende 2022 sehen wir, so Prof. Rochlitz, dass Russlands Regierung die ganze Volkswirtschaft auf eine „Kriegswirtschaft“ umstellt. Anfang 2023 hat man gedacht: Das kann die russische Wirtschaft nicht durchhalten. Inzwischen ist klar, im vergangenen Jahr hat der Investitionsanstieg im Rüstungssektor die russische Wirtschaft um 3,5 Prozent wachsen lassen.
Die einfachen Bürger in Russland merken von den Sanktionen zurzeit noch nicht so viel. Dadurch, dass so viel Geld in die Wirtschaft gepumpt wird, geht es ihnen sogar erst mal besser.
Die „Kriegswirtschaft“ treibt aber die Inflation hoch; Arbeitskräfte fehlen
Während sich die Regierung mit der Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft brüstet, führen die massiven Investitionen aber auch zu hoher Inflation. Die Kaufkraft der Russen lässt dementsprechend nach.
Die Mobilisierung von Reservisten und die Flucht vieler Russen ins Ausland ist schon jetzt ein riesiges Problem für den Arbeitsmarkt. Gerade der IT-Sektor leidet unter dem Fachkräftemangel. Viele, die Russland den Rücken gekehrt haben, sind hoch qualifizierte Arbeitskräfte, und werden nicht wieder zurückkommen. Unternehmen sehen sich deswegen jetzt gezwungen, höhere Löhne anzubieten.
„Zukunftsbranchen“ leiden unter dem Aufbau der „Kriegswirtschaft“
Welche Gefahren der Aufbau einer „Kriegswirtschaft“ hat, zeigt ein Blick in die Vergangenheit ganz gut. Die Sowjetunion hat im Wettbewerb mit den USA eine Kriegswirtschaft aufgebaut, die viel zu groß für die wirtschaftliche Fähigkeit des Landes war. Daran ist die UdSSR zum Schluss auch gescheitert. Und genau dieses Problem beobachten wir derzeit wieder.
Russland opfert momentan außerdem die Diversifizierung seiner Wirtschaft. Mit der Rüstungsindustrie baut das Land einen Sektor auf, der keine Zukunft hat. Sobald der Krieg vorbei ist, muss die Rüstungsindustrie wieder schrumpfen. Das wird ein großes innenpolitisches Problem, weil sehr viele Lobbygruppen daran interessiert sind, diese Pfründe zu behalten. Mögliche Zukunftsbranchen wie der IT-Sektor, künstliche Intelligenz, aber auch die Bereiche Gesundheit und Wissenschaft leiden unter dem Aufbau der „Kriegswirtschaft“. Diese Branchen sind aber essenziell, um Russland zukunftsfähig zu machen.
Durch den Rückzug zahlreicher westlicher Unternehmen aus Russland gehen dem Land große Wettbewerbschancen im Hightech-Sektor verloren. Gerade die pharmazeutische Industrie und der Automobilsektor leiden unter dem Weggang westlicher Unternehmen. Inzwischen werden gar keine Autos mehr mit westlicher Technologie in Russland gebaut. Stattdessen wird billig in China eingekauft. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in anderen Sektoren zu beobachten. Der Krieg hat den Hightech-Sektor dazu verdammt, auf einem technologisch sehr niedrigen Level zu bleiben.
Marina Voitenko: Schwächeres Wachstum in China bringt Russland Risiken
Marina Voitenko, Wirtschaftskolumnistin der unabhängigen Internet-Seite Politcom.ru, spricht in ihrer jüngsten Kolumne die Risiken der wachsenden Abhängigkeit Russlands von China an. Sie hat die Prognosen der UN für die Entwicklung wichtiger Regionen der Weltwirtschaft analysiert. Voitenko merkt u.a. an, dass der UN-Bericht für China einen Rückgang des Wachstums von 5,3 Prozent im Jahr 2023 auf 4,7 Prozent im Jahr 2024 prognostiziert. Der IWF erwarte 2024 sogar einen Rückgang des Wachstums in China auf 4,2 Prozent.
Für Russland bedeutet die Abschwächung des Wachstums in China nach Einschätzung Voitenkos einen Anstieg der Risiken für die Entwicklung seiner Ausfuhren. Sie weist auf die hohe Bedeutung Chinas als Handelspartner Russlands bei einer Reihe von Produkten hin. Chinas Anteil an Russlands Ausfuhr von Öl und Ölprodukten liege bei rund 50 Prozent.
Der Außenhandel zwischen Russland und China habe nach vorläufigen Schätzungen einen Wert von rund 200 Milliarden US-Dollar erreicht. Experten hielten es für sehr wahrscheinlich, dass er weiter auf rund 300 Milliarden US-Dollar steigen werde. Damit könnte nach Meinung der Experten aber ein Plateau erreicht sein. Die Möglichkeiten Russlands, seine Ausfuhren nach China weiter zu steigern, seien dann nahezu erschöpft. Gleichzeitig beginne der Anstieg der Einfuhren aus China nach Russland den Interessen der russischen Industrie, zum Beispiel im Bereich der Automobilbereich, zu widersprechen (siehe u.a. zum Anstieg der Einfuhren aus China: Podcast „Zaren, Daten, Fakten“ von Thomas Baier: „Kompakt Automarkt 2024“ vom 10.01.2024).
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Halbiert sich Russlands „überhitztes“ Wachstum 2024? 03.01.24
- „Winterprognosen“: Deutsche Konjunkturprognosen zum russischen Wachstum,12.23
- Russland-Analysten erwarten 2024 nur 1,3 Prozent Wachstum bei mehr Inflation, 12.12.23
- Russland: Die OECD erwartet nur halb so viel Wachstum wie die Regierung, 05.12.23
Weitere Lesetipps und Quellen hier als PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Maximilian Hess im Podcast “Zaren, Daten, Fakten”: Amerikanischer Blick: Deutsche und Russische Wirtschaft
- Christian von Soest, GIGA-Institut: Warum wir Sanktionen als Druckmittel auch künftig brauchen
- The Spectator; Sasha Lensky: Why hasn’t Russia collapsed?
- Ben Aris, Intellinews: Europe still hooked on Russia gas as US threatens to sanction LNG
- FR, Nils Hinsberger: Wahl in Russland: Kandidaten, Termine, Infos und Abläufe
- Weltspiegel; Ina Ruck: Politische Gefangene: Jeder Andersdenkende wird weggesperrt; sowie Podcast mit Ina Ruck:
- Günter Verheugen im Weser-Kurier-Interview: ‘Das Gemetzel muss beendet werden’: