EU teilt Russlands Wachstumserwartungen

Russlands Regierung hat ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft im April auf + 2,8 Prozent angehoben. Das 2023 erreichte Wachstumstempo von + 3,6 Prozent würde sich damit 2024 nur wenig verlangsamen. Diese Einschätzung teilen neben dem Internationalen Währungsfonds inzwischen viele weitere internationale Wirtschaftsorganisationen, darunter auch die EU-Kommission.

Dass sich Russlands Wachstum in den Jahren 2025 und 2026 wie von der Regierung erwartet bei 2,3 Prozent stabilisieren wird, halten aber nur wenige Beobachter für wahrscheinlich. Auch in Russland meint die große Mehrheit der Analysten, dass der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts auf unter 2 Prozent abflauen wird – allerdings erst 2025 und nicht schon 2024 wie lange erwartet wurde. 

Die Prognosen für Russlands diesjähriges Wachstum sind kräftig gestiegen

Für 2024 erwartet die EU-Kommission in ihrer Mitte Mai veröffentlichten „Frühjahrsprognose“ jetzt sogar noch etwas mehr Wachstum in Russland (+ 2,9 Prozent) als die Regierung. Stark angehoben hat Mitte Mai auch die Wirtschaftsabteilung der Vereinten Nationen ihre Prognose für den diesjährigen Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts in Russland. Sie verdoppelte ihre Prognose seit Januar von + 1,3 Prozent auf + 2,7 Prozent.  

Die Londoner Entwicklungsbank EBRD und der deutsche  „Sachverständigenrat Wirtschaft“ rechnen inzwischen mit einem Wachstum der russischen Wirtschaft von 2,5 Prozent in diesem Jahr. Die EBRD und der Sachverständigenrat bleiben damit am unteren Rand der Prognose-Spanne, die die russische Zentralbank Ende April für 2024 genannt hat (+ 2,5 bis + 3,5 Prozent). 

Bei der in der ersten Mai-Hälfte durchgeführten vierteljährlichen Analysten-Umfrage des Konjunkturforschungsinstituts der Moskauer „Higher School of Economics“ stieg die durchschnittliche Prognose für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2024 auf 2,7 Prozent. Vor drei Monaten war bei der Umfrage für das laufende Jahr nur mit einem gut halb so hohen Wachstum von 1,5 Prozent gerechnet worden.  

Higher School of Economics:
Consensus forecast for 2024-2030 (survey May 3–16, 2024) 

Higher School of Economics: Consensus forecast of the Development Center Institute, 21.05.24

Erst 2025 erwarten viele Analysten deutlich weniger Wachstum in Russland

Im nächsten Jahr erwarten aber auch die vom „Development Institute“ der HSE befragten Analysten ein deutliches Abflauen des Wachstums auf nur noch 1,6 Prozent. Die russische Zentralbank geht in ihrer jüngsten Prognose für 2025 von einem Rückgang des Wirtschaftswachstums auf nur noch 1,0 bis 2,0 Prozent aus. In dieser Spanne liegen auch fast alle übrigen Wachstumsprognosen für das nächste Jahr. So prognostiziert auch die EU-Kommission, dass die russische Wirtschaft 2025 nur noch um 1,7 Prozent wächst, also nur noch knapp halb so stark wie 2023 (+ 3,6 Prozent).

Die Erwartung der russischen Regierung, dass sich der Produktionsanstieg der russischen Wirtschaft 2025 lediglich auf + 2,3 Prozent abschwächt und sich 2026 auf diesem Niveau hält, wird nur von wenigen Beobachtern wie dem „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche“ geteilt. Die russische Zentralbank hält es für möglich, dass 2025  ein Wachstum von höchstens 2 Prozent und 2026 von höchstens 2,5 Prozent erreicht wird.

BIP-Prognosen 2024 bis 2026

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Analyse der EU-Kommission zu Lage und Perspektiven der russischen Wirtschaft

Die EU-Kommission veröffentlichte in ihrer “Frühjahrsprognose” zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland folgende Abbildung. Sie zeigt die Beiträge der Verwendungsbereiche des Bruttoinlandsprodukts zur Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts (schwarze Linie)

Reales Bruttoinlandsprodukt (Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent)
und Beiträge der Verwendungsbeireiche in Prozentpunkten
(Nettoexporte, Investitionen; Privater Verbrauch, Staatsverbrauch, Lagerinvestitionen)

EU-Kommission: European Economic Forecast, Spring 2024, mit: Russian Federation, 15.05.24;

Rückblick der EU-Kommission auf die Erholung der Wirtschaft im Jahr 2023

2023 wuchs die russische Wirtschaft um 3,6 Prozent (schwarze Linie). Die unerwartet rasche Erholung vom Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 1,2 Prozent im Jahr 2022, dem ersten Jahr des Ukraine-Krieges, wurde 2023 hauptsächlich vom privaten Konsum (gelber Abschnitt) getragen.

Die Reallöhne wuchsen vor dem Hintergrund eines angespannten Arbeitsmarkts kräftig. Das Verbrauchervertrauen verbesserte sich. Der private Konsum wurde auch durch höhere staatliche Transferzahlungen an Soldaten und ihre Familien angetrieben.

Die privaten Investitionen stiegen als Reaktion auf die stetig wachsende Inlandsnachfrage nach russischen Produkten. Sie wurde durch den Abzug vieler ausländischer Unternehmen aus Russland ausgelöst. Zudem wurde in einen Ausbau der Infrastruktur in Richtung Osten investiert.

Für den Krieg in der Ukraine waren höhere öffentliche Investitionen und höhere öffentliche Konsumausgaben erforderlich. Die Staatsausgaben stiegen.

Gute Ausgangslage am Jahresanfang 2024

Die EU-Kommission meint, die russische Wirtschaft sei von einem “starken Fundament” in das Jahr 2024 gestartet. Die Industrieproduktion sei in den ersten Monaten des Jahres weiter gewachsen. Das Geschäftsklima habe sich verbessert. Das Verbrauchervertrauen sei auf den hösten Stand seit 2014 gestiegen, der reale Umsatz des Einzelhandels gewachsen.

Die Kommission erwartet, dass Russlands Arbeitsmarkt angespannt bleibt. Solange der Angriffskrieg in der Ukraine andauere, werde die erhöhte Nachfrage nach Arbeitskräften aus dem Militärbereich voraussichtlich anhalten. Die Netto-Zuwanderung werde weiter sinken.

Prognosen der EU-Kommission für 2024 und 2025

Der private Konsum wird aufgrund des starken Wachstums der Reallöhne 2024 weiter  steigen (+ 4,1 %), wenn auch langsamer als im Jahr 2023 (+ 6,5 %).
Weiter wachsen werden 2024 auch der Staatsverbrauch (+ 4,0 %) und die Brutto-Anlageinvestitionen (+ 3,8 %). Ursachen dafür sind der Ukraine-Krieg und die Umorientierung der Handelsrouten in Richtung Asien. 2025 dürfte das Wachstum der Investitionen etwas nachlassen, da sich die Auswirkungen der restriktiven Geldpolitik bemerkbar machen werden.

Im Außenhandel ist nur mit einem “begrenzten Anstieg” der Exporte zu rechnen. Beim Austausch von Exportpartnern stellen sich für Russland beim Erdgas besondere Herausfordeungen. Die Ausrichtung des Erdgasexports auf neue Abnahmeländer wird durch eine unzureichende Infrastruktur für die Ausfuhr per Pipeline und als verflüssigtes Erdgas (LNG) erschwert. Geringere Umstellungsprobleme gibt es bei der Ausfuhr von Rohöl, Mineralölprodukten und Metallen.

Russlands Importe werden wegen des anhaltend wachsenden privaten Konsums gleichzeitig voraussichtlich relativ stark steigen. Im Ergebnis der Entwicklung von Aus- und Einfuhren dürfte der Beitrag der Netto-Exporte zum BIP-Wachstum in den Jahren 2024 (- 0,5 Prozentpunkte) und 2025 (- 0,3 Prozentpunkte) negativ bleiben.Insgesamt erwartet die EU-Kommission, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft auf 2,9 % im Jahr 2024 und 1,7 % im Jahr 2025 verlangsamt.

Prognosen der EU-Kommission für Russlands Bruttoinlandsprodukt (Auszug)

EU-Kommission: European Economic Forecast, Spring 2024, mit Bericht: Russian Federation, 15.05.24;

Als “Abwärtsrisiken” für die Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft nennt die EU-Kommission die Verhängung zusätzlicher Sanktionen und eine effektivere Durchsetzung der Sanktionen. Russlands Exporte könnten so eingeschränkt werden und die Produktion in importabhängigen Sektoren der russischen Wirtschaft behindert werden.

Darüber hinaus könnte eine neue “Mobilisierungswelle” den Arbeitskräftemangel weiter verschärfen. Das könne zu einer anhaltend hohen Inflation und damit zu einer restriktiven Geldpolitik führen.

Nach Einschätzung der Kommission überwiegen bei der Produktionsentwicklung die “Abwärtsrisiken” die “Aufwärtsrisiken”.

Trotz restriktiver Geldpolitik nimmt die Inflationsrate nur langsam ab

Die EU-Kommission verweist darauf, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise seit dem Sommer 2023 beschleunigt hat, angetrieben durch rasch steigende Reallöhne und einen schwächelnden Rubel. Als Reaktion habe die russische Zentralbank ihren Leitzins zwar bis Dezember um 850 Basispunkte auf 16 % erhöht. Dennoch habe die jährliche Inflationsrate in den ersten Monaten des Jahres 2024 7 % überschritten. Sie liege damit deutlich über dem offiziellen Inflationsziel von 4 %.

Angesichts des Lohndrucks auf dem angespannten Arbeitsmarkt und anhaltender kriegsbedingter Staatsausgaben erwartet die EU-Kommission, dass die Inflation voraussichtlich nur allmählich sinkt: auf 6,6 % im Jahresdurchschnitt 2024 und auf 4,5 % im Jahresdurchschnitt 2025.

Die gestiegene Defizitquote im Staatshaushalt sinkt 2024 und 2025 merklich

Das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit Russlands weitete sich nach Angaben der EU-Kommission von 1,4 % im Jahr 2022 auf 2,3 % des BIP im Jahr 2023 aus. Die staatlichen Einnahmen seien zwar wegen des boomenden Verbrauchs der privaten Haushalte und der höheren Rentabilität der Unternehmen insgesamt gestiegen. Der Rückgang der staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich habe so mehr als ausgeglichen werden können. Die Auagaben des Staates seien hauptsächlich wegen des Krieges aber noch schneller als die Einnahmen gewachsen.

2024 dürfte der gesamtstaatliche Haushaltssaldo laut der EU-Kommission defizitär bleiben, da der Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter andauern und damit die Staatsausgaben in die Höhe treiben dürfte. Die Ausgaben für Verteidigung und nationale Sicherheit machten rund 40 % des Bundeshaushalts aus.

2024 sei aber zu erwarten, dass das gesamtstaatliche Defizit auf 1,8 % des BIP zurückgeht. Diee Regierung habe Maßnahmen ergriffent, um die Auswirkungen steigender Rabatte auf die Preise von russischem Öl gegenüber dem Preis von Brent-Öl einzudämmen. 2025 werde sich das Haushaltsdefizit bei einem anhaltendem Wirtschaftswachstum weiter auf 1,5 % des BIP verringern.

Russlands Staatsverschuldung wird nach Einschätzung der EU-Kommission bei dieser Entwicklung relativ niedrig bleiben. Die Schuldenquote werde voraussichtlich von 19,5 % im Jahr 2023 auf 21,5 % im Jahr 2025 steigen.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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