Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik
Wasserstoff scheint die ideale Lösung für die drängendste Frage der Menschheit zu sein – den Klimawandel. Deutschland und Russland sind dabei geradezu prädestiniert für eine Kooperation, nur über die Farbe herrscht noch Dissens. Die Chancen stehen gut, aber wie grün kann Wasserstoff kurzfristig sein? Der Versuch einer Analyse.
Heilsbringer Wasserstoff?
Mit schöner Regelmäßigkeit tauchen in der öffentlichen Kommunikation Begriffe auf, die die perfekte Lösung für alle wirtschaftlichen und anderen Probleme zu sein scheinen. Früher waren es schon einmal die Dampfmaschine, elektrischer Strom, das Atom, das Internet, Nanotechnologie oder 3D-Druck. Augenblicklich ist es ein chemisches Element: Wasserstoff. Symbol H, Ordnungszahl 1, Gruppe 1, Periode 1. Es ist das am häufigsten im Universum vorkommende Element überhaupt. Warum, so fragt man sich als Laie, wird Wasserstoff also gerade jetzt als der Heilsbringer der Energie- und der Wirtschaft insgesamt gehandelt? Wahrscheinlich, weil es für den menschlichen Geist leichter ist eine einfache Lösung zu erfassen als einen hoch komplexen Prozess, in dem auch noch jede Menge Unbekannte auftauchen. Und irgendwie ist es ja auch eine schöne Vorstellung: Wir stellen alles auf Wasserstoff um, und die Welt ist wieder in Ordnung. Initiativen sprießen wie Pilze aus dem Boden. In Deutschland gibt es die Nationale Wasserstoffstrategie, in der EU die Idee der „Important Projects of Common European Interest“ – IPCEI, die Einzelprojekte zu einer gemeinsamen multinationalen Strategie verknüpfen soll und außerhalb Europas Energiepartnerschaften und -dialoge mit Ländern, die ihre Energiesysteme und die Erzeugung transformieren wollen. Dazu zählt auch Russland.
Goethe hätte seine helle Freude
Aber damit nicht genug. Wer das System verstehen will, der muss sich auch noch mit einer neuen Farbenlehre auseinandersetzen. Grün, blau, grau, türkis, gelb oder rot, die Palette ist bunt. Goethe, der „über das Wesen der Farbe“ forschte, hätte seine helle Freude gehabt. In Deutschland will man vorrangig grünen Wasserstoff verwenden. Er wird klimaneutral aus erneuerbaren Energien durch die Elektrolyse von Wasser erzeugt und verursacht deshalb so gut wie keine CO2-Emissionen. Die Grundlage für grauen Wasserstoff sind fossile Brennstoffe, vor allem Erdgas. Blau ist eigentlich grau, denn das entstehende Kohlendioxid wird abgespalten und gelagert. CCS – Carbon Capture and Storage ist der neue Begriff dafür. Gelagert werden könnte der Stoff in Öl-, Gas- oder Salzlagern. Davon gibt es in Russland einige. Türkisfarbener Wasserstoff entsteht durch Methanpyrolyse unter Ausschluss von Sauerstoff und darf nur in gebundenem Zustand verwendet werden. Hier hört in Deutschland die Erklärung auf. Gelb bzw. rot als Farbe stehen für die Erzeugung aus Atomstrom und kommen mithin nicht infrage – bis jetzt.
Wer soll das bezahlen?
Denn unabhängig davon, was man politisch will, muss es wirtschaftlich möglich und idealerweise sinnvoll und bezahlbar sein. Technologisch gibt es zwar einige Probleme zu lösen, aber prinzipiell ist die Industrie in der Lage, Wasserstoff zu komprimieren, zu transportieren und zu verarbeiten, um daraus Strom zu erzeugen. Das eigentliche Problem ist deshalb nicht die Technologie. Eher schon der Preis, denn weitere Erhöhungen sind dem deutschen Verbraucher und den Unternehmen nicht zuzumuten. Deutschland hat in Europa heute schon die mit Abstand höchsten Strompreise. Das mindert einerseits die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und andererseits die Akzeptanz der Bevölkerung für die Energiewende. Auf einen Liter Benzin entfallen mittlerweile fast 60 Prozent auf Steuern und Abgaben. Von einer Kilowattstunde Strom erhält der Staat 55 Prozent in Form von Abgaben, Steuern und Umlagen. Wofür fragt man sich angesichts kaum neuer Windräder oder Solaranlagen? Geradezu legendär ist die Schaumweinsteuer, die 1902 zur Finanzierung der Tirpitzschen Flotte eingeführt wurde und natürlich bis heute erhoben wird, obwohl wir keinen Krieg mehr gegen England führen.
Der Strombedarf steigt rasant
Zurück zum Wasserstoff. Der Charme dieses Energieträgers besteht darin, dass man mit seinem Einsatz auch Klimamonster wie Stahl-, Zement- und Chemiewerke, Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe klimaneutraler betreiben könnte. Der Haken daran ist, dass man den Strom dafür grün erzeugen muss. Doch der Ausbau der Wind-, Solar- und Bioenergie stockt in Deutschland aus mannigfachen Gründen. Grüner Strom macht, wenn man sehr positiv rechnet, die Hälfte der Stromerzeugung aus. Aber der Bedarf an Strom wird – nicht nur in Deutschland – rasant ansteigen. Elektrofahrzeuge brauchen Strom, Wärmepumpen brauchen Strom. Heizungen müssten von Öl und Gas auf Elektrizität umgestellt werden, dazu braucht man Strom. Selbst Stromspeicher brauchen Strom und nicht zuletzt werden für die Produktion von Wasserstoff Unmengen Strom gebraucht. Mit genauen Zahlen tut sich selbst das zuständige BMWi schwer, aber der Stromverbrauch könnte bis 2030 um ein Drittel steigen, wofür es weder die Infrastruktur (Kraftwerke, Stromtrassen) noch die Speicherkapazitäten gibt. Dabei ist die Stromproduktion nur für etwa 20 Prozent der Energie und der Emissionen verantwortlich. Beim Verkehr und der Wärmeerzeugung ist die Klimabilanz um ein Vielfaches schlechter.
Der Markt regelt den Preis – nach oben
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, woher all der (grüne) Wasserstoff kommen soll, der allein in Deutschland gebraucht würde, wollte man das Land wirklich in den nächsten zwei, drei Jahrzehnten klimaneutral machen. Fest steht, dass mittelfristig auf jeden Fall Übergangstechnologien nötig sind. Grauer Wasserstoff wird fast zwangsläufig gebraucht, wenn die Atom- und Kohlekraftwerke abgeschaltet sind. Hinzu kommt, dass nicht nur Deutschland klimaneutral werden will. Entsprechende Strategien gibt es zum Beispiel auch in Brasilien, Chile, Kanada, den USA, China, Indien, Japan. Die Nachfrage wird das Angebot also bei weitem übersteigen. In diesem Fall wird der Markt den Preis regeln – nach oben. Grauer Wasserstoff wird aus Erdgas gewonnen. Deutschlands größter Lieferant ist Russland. Um nicht wie bei so vielen anderen Technologien den Anschluss zu verpassen, ist eine am Bedarf, dem Einsatz und den Möglichkeiten orientierte Partnerschaft, eine neue Energiepartnerschaft, wenn man so will, eigentlich alternativlos, zumindest aber im eigenen Interesse. Russland hat die Ressourcen, die technologischen Möglichkeiten, auch die Möglichkeit mit der Dekarbonisierung Stück für Stück grünen Wasserstoff zu erzeugen. Vor allem aber hat Russland ein herausragendes Interesse am Umbau seiner kohlenstoffbasierten Wirtschaft und dem Wechsel des Business-Modells.
Utopien helfen nicht
Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Projekt Desertec, mit dem in ganz naher Zukunft der gesamte Strombedarf Europas aus der Sahara gedeckt werden sollte. Mittels riesiger Photovoltaikanlagen sollte Strom erzeugt und durch das Mittelmeer nach Europa geliefert werden. Geblieben ist nicht mehr als die Idee und Interessenten aus China und Saudi-Arabien. Eine Kooperation mit Russland ist im Bereich Wasserstoff und grüne Energie hingegen sehr real. Nicht nur weil die Russische Föderation selbst erheblich vom Klimawandel betroffen ist, sondern auch und vor allem weil die Zusammenarbeit im Energiebereich eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte ist und weil es zum Vorteil aller Beteiligten wäre. Wen das immer noch nicht überzeugen sollte, der möge bitte klar und nachvollziehbar darlegen, wie er den ökologischen Wandel bezahlen und technisch möglich machen will, und woher der grüne Wasserstoff dafür kommen soll. Alle bisherigen Konzepte geben auf diese Fragen nur unbefriedigende Antworten.
Der „Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.