Russland: Warnschuss für Wachstumsoptimisten

Kudrin mahnt wirtschaftspolitische Reformen an

Seit dem Frühjahr wurden die Prognosen für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft deutlich angehoben. So wird in der Anfang August veröffentlichten Umfrage der Nachrichtenagentur Interfax im Durchschnitt ein Anstieg  der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,9 Prozent für Russland erwartet. Drei Monate zuvor war nur mit + 3,0 Prozent gerechnet worden.

Weitere Anhebungen der Wachstumsprognosen sind jedoch ziemlich unwahrscheinlich. Die „Einkaufsmanager-Umfrage“ des Marktforschungsunternehmens IHS Markit zeigt eine Eintrübung der Stimmung in den Unternehmen. Für das „Verarbeitende Gewerbe“ (Manufacturing) signalisiert der rückläufige Einkaufsmanager-Index sogar eine Abnahme der Geschäftsaktivitäten im Juni und Juli. Auch im Dienstleistungsbereich ist der Index deutlich gesunken, liegt aber noch über der „Wachstumsschwelle“ von 50 Indexpunkten.

Nach dem „Erholungsjahr“ 2021, in dem die Zentralbank mit einem Wachstum von 4 bis 4,5 Prozent rechnet, wird das Potenzial für das weitere Wachstum der russischen Wirtschaft von der Zentralbank und den meisten anderen Beobachtern derzeit nur auf rund 2 bis 3 Prozent veranschlagt. Rechnungshof-Präsident Aleksei Kudrin meinte in einem in der letzten Woche veröffentlichten Interview mit der Wirtschaftszeitung RBK zwar, dass die russische Wirtschaft Wachstumsraten von 4 bis 5 Prozent erreichen könne. Voraussetzung dafür sei jedoch eine Abkehr vom „überholten“ derzeitigen Wirtschaftsmodell, das auf der Nutzung der Rohstoffvorkommen zur Finanzierung des inländischen Verbrauchs beruhe. Die für mehr Wachstum erforderlichen Innovationen seien so nicht zu erreichen. Kudrin fordert: Russlands Wirtschaft muss von einer „Nachfragewirtschaft“ zu einer „Investitionswirtschaft“ mit weltweit wettbewerbsfähigen Exporten werden.

Die Produktion hat sich in vielen Bereichen erholt

Wie weit sich die russische Wirtschaft bisher von der Rezession im Jahr 2020 erholt hat, analysierte BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, in seinem jüngsten Wochenbericht auf der Basis vorläufiger Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums.

Die folgende BOFIT-Abbildung zeigt, in welchen Wirtschaftsbereichen sich die Produktion im ersten und zweiten Quartal 2021 gegenüber dem Stand im ersten und zweiten Quartal 2019 erhöht hat und wo sie noch niedriger war als vor zwei Jahren. Zu den Wirtschaftsbereichen, die sich unerwartet schnell erholt haben, gehört der wichtigste Bereich der Industrieproduktion, das „Verarbeitende Gewerbe“ („Manufacturing industries“). Seine Produktion war bereits im ersten Quartal 2021 rund 7 Prozent höher als zwei Jahre zuvor im ersten Quartal 2019. Auch im zweiten Quartal 2021 gab es im 2-Jahres-Vergleich im Verarbeitenden Gewerbe einen deutlichen Produktionsanstieg. Er war mit rund 5,5 Prozent aber geringer als im ersten Quartal.

Entwicklung der Produktion nach Wirtschaftsbereichen

Veränderungen im ersten und zweiten Quartal 2021 gegenüber dem ersten und zweiten Quartal 2019 in Prozent in: Bergbau/Förderung von Rohstoffen; Verarbeitendes Gewerbe; Einzelhandel; private Dienstleistungen für private Haushalte; Großhandel; Warentransport; Bauwirtschaft)

BOFIT, Bank of Finland: Russian economy has recovered from last year’s recession, but pace of recovery varies considerably across branches; 06.08.2021

Anders als im Verarbeitenden Gewerbe war die Produktion im Bereich der privaten Dienstleistungen für private Haushalte („Services to households excl. public services“) im ersten und zweiten Quartal 2021 noch niedriger als zwei Jahre zuvor. Im zweiten Quartal 2021 unterschritt die Produktion in diesem Bereich ihr vor zwei Jahren erreichte Niveau aber nur noch um rund 1 Prozent.

Der tiefe Produktionseinbruch im Lockdown 2020 ist also auch im Dienstleistungsbereich inzwischen weitgehend aufgeholt. Die Produktion der Gesamtwirtschaft war nach ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums im zweiten Quartal 2021 1,5 Prozent höher als zwei Jahre zuvor. Im Juni 2021 übertraf das Bruttoinlandsprodukt laut Wirtschaftsministerium das vor dem Corona-Einbruch im vierten Quartal 2019 erreichte Niveau um 0,1 Prozent.

Die Stimmung der Unternehmen hat sich im Juli aber weiter verschlechtert

Mit der Erholung der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe hatte sich die Stimmung der Unternehmen in diesem Wirtschaftsbereich verbessert. In der „Einkaufsmanager-Umfrage“ von IHS Markit stieg der Index für das Verarbeitende Gewerbe bis Mai 2021 auf 51,9 Punkte. Im Juni sank er jedoch auf 49,2 Punkte und im Juli weiter auf 47,5 Punkte. Er lag damit unter 50 Punkten, was als Zeichen für eine Abnahme der Geschäftsaktivitäten gilt.

Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank hat die Entwicklung der Einkaufsmanager-Indizes für das Verarbeitende Gewerbe und für den Dienstleistungsbereich in der folgenden Abbildung dargestellt. Wie der Index für das Verarbeitende Gewerbe (orange Linie) sank auch der Index für den Dienstleistungsbereich (blaue Linie) im Juni und Juli. Er ging seit Mai von 57,5 Indexpunkten auf 53,5 Indexpunkte im Juli zurück, liegt also noch über der „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten.

Entwicklung der IHS Markit-Einkaufsmanager-Indizes für das Verarbeitende Gewerbe (orange Linie) und den Dienstleistungsbereich (blaue Linie)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“: 05.0/.2021

IHS Markit: Im Verarbeitenden Gewerbe sinken Aufträge und Produktion

Finmarket.ru berichtete zu den Ergebnissen der Juli-Umfrage von IHS Markit im Verarbeitenden Gewerbe: Das Geschäftsumfeld hat sich bei einem erneuten Rückgang der Produktion und einer verschärften Abnahme der Aufträge verschlechtert. Die Aufträge sanken im zweiten Monat in Folge. Der Anstieg der Einkaufs- und Verkaufspreise nahm ab, blieb aber angesichts der weltweit starken Rohstoffnachfrage auf hohem Niveau.

IHS Markit konstatiert, die schwache Nachfrage und der scharfe Kostenanstieg hätten den Optimismus im Verarbeitenden Gewerbe gedämpft. Das habe sich auch in einem deutlichen Rückgang der Beschäftigung gespiegelt.

Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank stellte bei seinen jüngsten Berechnungen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts („Monthly GDP Index June 2021“) ebenfalls einen Rückgang der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe fest. Saison- und kalenderbereinigt sei die Produktion gegenüber dem Vormonat im April um 0,5 Prozent, im Mai um 0,8 Prozent und im Juni um 1,2 Prozent gesunken. Die Produktionsentwicklung sei durch Probleme bei Zulieferungen beeinträchtigt worden.

Marina Voitenco meint aufgrund ihrer detaillierten Analyse der aktuellen Konjunkturentwicklung für Politcom.ru die „Konjunkturampel“ sei auf „flackerndes Gelb“ umgesprungen.

Auch der Wirtschaftsminister sieht eine Abschwächung der Erholung

Wirtschaftsminister Reschetnikov will Ende August/Anfang September neue Konjunkturprognosen für die Haushaltsberatungen in der Duma vorlegen. Als vorläufige Einschätzung hatte er Anfang Juli der Presse mitteilien lassen, dass das Wirtschaftsministerium seine BIP-Prognose für 2021 von 2,9 Prozent auf 3,8 Prozent anhebt.

TASS meldete am 05. August dazu, Wirtschaftsminister Reshetnikov wolle die Konjunkturdaten für Juli abwarten, um seine Prognosen zu präzisieren. Der Minister meinte gegenüber der Presse, die bisher für Juli vorliegenden Daten deuteten darauf hin, dass sich das Tempo der Konjunkturerholung offenbar abschwäche.

Kudrin: Wachstum von 4 bis 5 Prozent möglich

Der frühere Finanzminister Kudrin (2000-2011), seit Mai 2018 Präsident des Rechnungshofes, nahm in der letzten Woche in einem ausführlichen RBK-Interview auch zur russischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik Stellung (15-Minuten-Video). Er hält es grundsätzlich für möglich, dass die russische Wirtschaft Wachstumsraten von 4 bis 5 Prozent erreichen kann. Voraussetzung dafür sei allerdings eine Abkehr vom „überholten“ derzeitigen Wirtschaftsmodell.

Kudrin sieht die Entwicklungsmöglichkeiten der russischen Wirtschaft weiterhin vom Erbe der staatlichen Planwirtschaft der Sowjetunion belastet. Nach dem Jahr 2000 sei man auf dem Weg zu mehr Markt zwar vorangekommen. Jetzt habe sich der Abbau der Staatswirtschaft jedoch verlangsamt. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft nehme wieder zu. Es müsse für mehr Marktwirtschaft mit freien Unternehmen gesorgt werden.

Der Rechnungshof-Präsdent fordert auch Änderungen der Produktionsstruktur. Von einer Wirtschaft, die auf der Nutzung der Rohstoffvorkommen zur Finanzierung des inländischen Verbrauchs beruhe, seien keine Innovationen zu erwarten.

Russlands Wirtschaft müsse von einer „Nachfragewirtschaft“ zu einer „Investitionswirtschaft“ mit wettbewerbsfähigen Exporten werden. Mit seinem auf die Sicherung der inländischen Nachfrage ausgerichteten Wirtschaftsmodell könne Russland bestenfalls ein Wirtschaftswachstum von 2 Prozent erreichen.

Was Kudrin für mehr Wachstum fordert

Nur durch die Entwicklung der Exportwirtschaft werde Russland ein Wachstum von 4 bis 5 Prozent erreichen, strich Kudrin in seinem Interview heraus. Russland müsse Produkte anbieten können, die weltweit nachgefragt würden.

Ein hervorragendes Beispiel sei der in Russland entwickelte Impfstoff. Die Entwicklung international wettbewerbsfähiger Produkte allein reiche aber nicht aus. Hinzu kommen müssten unter anderem auch eine entsprechendes Netz von Logistik-Unternehmen und ein kostengünstigerer Transport.

Auf die Frage nach Hindernissen für eine raschere Entwicklung der russischen Wirtschaft, erinnert Kudrin an seine Tätigkeit im Aufsichtsrat des „Zentrums für strategische Studien“. Im Rahmen der Forschungsarbeit des Zentrums habe sich gezeigt, dass viele russische Unternehmen wie zu den Zeiten der Sowjetunion arbeiten. In einigen Unternehmen würden „sehr überholte“ Management-Modelle praktiziert.

Für eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums sei auch die Entwicklung des Humankapitals wichtig. Das betreffe sowohl das Bildungswesen als auch das Gesundheitswesen. Erforderlich seien unternehmerische Initiative, Wettbewerb und Rechtssicherheit.

Fortschritte sieht Kudrin bei der Digitalisierung der Verwaltung. Hier beweise die Regierung ihre Kompetenz. Er glaube, dass es am Ende der Legislaturperiode in dieser Hinsicht interessante Ergebnisse geben werde.

Kudrin will auch mehr Macht für die Regionen

Ein sehr wichtiger Faktor für die Entwicklung der russischen Wirtschaft ist, so Kudrin, die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Zentralregierung und den Regionen. Wenn man die Entscheidungsbefugnisse und Finanzierungsmöglichkeiten der Regionen zu stark einenge, erlösche ihre Initiative.

In den letzten 10 Jahren habe sich der Anteil der Investitionen der Regionen an ihrem Bruttoinlandsprodukt halbiert. Sie hätten mehr Finanzmittel für „laufende Ausgaben“ wie Gehälter verwenden müssen.

Kudrin unterstrich, dass er entschieden für eine „Dezentralisierung“ eintrete. Der Rechnungshof bereite eine Reihe von Vorschlägen für Änderungen der Finanzbeziehungen zwischen Zentralregierung und Regionen vor.

Umstrukturierung der Energiewirtschaft nötig und möglich

Bereits im Juni hatte Kudrin in einem TASS-Interview beim diesjährigen Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg fundamentale Änderungen der russischen Wirtschaft gefordert. Ihre Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen müsse verringert werden. Der weltweite Ölverbrauch werde in den nächsten zehn Jahren seinen Höhepunkt überschreiten. Auch Russland werde vor die Entscheidung gestellt, sich von der Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen zu lösen und der Welt neue Technologien und Produkte anzubieten.

Neue Technologien machten eine Abwendung von einer Energiewirtschaft auf der Basis von Kohlenwasserstoffen auch möglich. Bisher habe man geglaubt, solch eine „ökologische Initiative“ sei eine Belastung für die Weltwirtschaft, die wahrscheinlich Wachstum koste. Jetzt glaube auch er aber, dass die erforderlichen neuen Technologien verfügbar sein werden. Das Wachstum der Weltwirtschaft werde von dieser Umstellung gefördert werden.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Alexei Kudrin. Quelle: OrangeGroup I Shutterstock.com