Prognose am Montag: Abgeschwächte Geschäftsaktivitäten und Produktionsrückgang

Russlands Wirtschaftsminister Reschetnikow spricht von Stabilisierung, aber die Realität sieht anders aus. Das sind die aktuellen Konjunkturprognosen für Russland.

Ende Oktober zeigte sich der russische Wirtschaftsminister Reschetnikow bei einem Wirtschaftsforum in Baku sehr optimistisch. Er meinte, die russische Wirtschaft habe sich stabilisiert. Er erwarte, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im vierten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorquartal wachsen werde. Das berichtete Interfax. Etwa gleichzeitig durchgeführte Befragungen russischer Unternehmen signalisieren jedoch eine deutliche Abschwächung der Geschäftsaktivitäten im Oktober. Die gesamtwirtschaftliche Produktion ist bereits im September gegenüber August nach ersten Berechnungen um 0,6 Prozent gesunken. Damit gingen die schwachen Produktionszuwächse vom August (+ 0,3 Prozent) und Juli (+ 0,5 Prozent) fast völlig verloren.

Analysten nennen die am 21. September angeordnete Teil-Mobilmachung und die Abwanderung von Arbeitskräften ins Ausland als Ursachen für die Abnahme der Produktion, die sinkende Zahl von Beschäftigten und den Rückgang der Verbrauchernachfrage (Finam.ru).

Einkaufsmanager-Indizes gesunken

Der vom Marktforschungsunternehmen S&P Global durch Befragungen russischer Unternehmen ermittelte „Einkaufsmanager-Index“ (Purchasing Manager Index, PMI) sank im Oktober im Bereich der Dienstleistungen deutlich unter die Schwelle von 50 Punkten, die ein Wachstum der Geschäftsaktivitäten gegenüber dem Vormonat signalisiert (blaue Linie in der folgenden Abbildung). Im Verarbeitenden Gewerbe hielt sich der Index nur knapp über der Wachstumsschwelle (orange Linie).

S&P Global-Einkaufsmanagerindizes Russland

Verarbeitendes Gewerbe (orange Linie) und Dienstleistungen (blaue Linie)

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review, 04.11.2022

Im Dienstleistungs-Bereich brach der Index von 51,1 Punkten im September auf 43,7 Punkte im Oktober ein. Das ist der niedrigste Wert seit März. Der Rückgang signalisiert, dass sich die Geschäftsaktivitäten im Dienstleistungsbereich im Oktober gegenüber dem Vormonat deutlich abgeschwächt haben. Die Nachfrage der Kunden ging stark zurück. Die Aufträge ausländischer Kunden sanken den achten Monat in Folge. Der Rückgang der Beschäftigung beschleunigte sich. Die Besorgnis der Unternehmen hinsichtlich eines Rückgangs der Kaufkraft der Kunden stieg.

Im Verarbeitenden Gewerbe fiel der Index von 52,0 Punkten im September auf 50,7 Punkte im Oktober. Die Aufträge aus dem Ausland sanken wegen der Sanktionen scharf. Bei insgesamt nur schwach steigenden Aufträgen wuchs die Produktion nur wenig. Mit der Hoffnung auf eine stärkere Kundennachfrage erreichten die Produktionserwartungen der Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe aber dennoch den zweithöchsten Wert seit April 2019.

Der „kombinierte Einkaufsmanager-Index“ sank von 51,5 Punkten im September auf 45,8

Punkte im Oktober. In der folgenden Abbildung wird seine Entwicklung (blaue Linie) mit der vierteljährlichen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion (orange Linie) verglichen. Die orange Linie zeigt als letzten Wert den Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2022 gegenüber dem Vorjahr um 4,0 Prozent.

S&P Global: Kombinierter Einkaufsmanagerindex Russland
Veränderung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent

S&P Globat: S&P Global Russia Services PMI, Russia Composite PMI, 03.11.2022

Beschleunigter BIP-Rückgang gegenüber dem Vorjahr im dritten Quartal

Nach ersten Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums hat sich der Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts im dritten Quartal 2022 im Vorjahresvergleich auf 4,4 Prozent beschleunigt. Dabei war das BIP im September  im Vergleich zum Vorjahresmonat 5,0 Prozent niedriger.

Das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) veranschlagt in seinem Wochenbericht den Rückgang des BIP gegenüber September 2021 geringfügig schwächer als das Ministerium auf 4,5 Prozent.

Im dritten Quartal gelang lediglich eine „Stabilisierung“ der Produktion

Laut den ersten Berechnungen des VEB-Instituts ist das reale Bruttoinlandsprodukt im September gegenüber August um 0,6 Prozent gesunken. Damit gingen die leichten Produktionszuwächse vom August (+ 0,3 Prozent) und Juli (+ 0,5 Prozent) fast völlig verloren. Die folgende Abbildung des Instituts zeigt, dass der Index des realen Bruttoinlandsprodukts im September fast auf den im Juni erreichten bisherigen Tiefpunkt im aktuellen Abschwung zurückfiel.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014 = 100)

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review, 04.11.2022

Nachdem die gesamtwirtschaftliche Produktion von März bis Juni 2022 um rund 6,5 Prozent eingebrochen ist, konnte sie im dritten Quartal 2022 also lediglich auf dem stark gesunkenen Niveau „stabilisiert“ werden.

Die aktuelle Krise traf den Einzelhandel stärker als die Dienstleistungen

Im Hinblick auf den Konsumbereich zeigt die folgende Abbildung, dass die realen Umsätze im Einzelhandel (schwarze Linie) bis Mitte 2022 viel stärker sanken als im Dienstleistungsbereich (grüne Linie). Der Dienstleistungsbereich erholte sich zudem rasch – im Gegensatz zum Einzelhandel.

Indizes der Entwicklung der Reallöhne
und der realen Umsätze im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich
(Jan. 2014=100)

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review, 04.11.2022

Im September sank der reale Umsatz im Einzelhandel im Vergleich zum Vormonat erneut etwas (- 0,2 Prozent gegenüber August, schwarze Linie). Im Dienstleistungsbereich war der Umsatzrückgang stärker (-0,5 Prozent gegenüber August, grüne Linie).

Für die Entwicklung der Reallöhne liegen bisher nur Daten bis August vor. Gegenüber Juli stiegen die Reallöhne im August um 1,6 Prozent (graue Linie). Sie waren im August 1,2 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Die real verfügbaren Einkommen stiegen im dritten Quartal erneut

Die Entwicklung der real verfügbaren Einkommen der russischen Haushalte zeigt – anders als man erwarten könnte – ein deutlich anderes Bild als die Entwicklung der realen Einzelhandelsumsätze. Von ihrem tiefen Einbruch in der „Corona-Krise“ im 2. Quartal 2020 hatten sich die real verfügbaren Einkommen nach gut einem Jahr im 3. Quartal 2021 mehr als erholt. Staatliche Einmal-Zahlungen ließen die Einkommen im dritten Quartal 2021 kräftig steigen.

Das VEB-Institut berechnete einen Index zur Entwicklung der real verfügbaren Einkommen. Wie die folgende Abbildung zeigt, begann der Rückgang der Einkommen gegenüber dem Vorquartal bereits im vierten Quartal 2021 (- 3,8 Prozent). Er setzte sich aber nur im ersten Quartal 2022 fort (- 2,3 Prozent). Im zweiten Quartal 2022 stiegen die real verfügbaren Einkommen bereits wieder um 1,6 Prozent gegenüber dem Vorquartal und im dritten Quartal um 1,2 Prozent. Damit wurde das Einkommensniveau der Jahre 2014 und 2015 aber noch nicht wieder erreicht.

Index der real verfügbaren Einkommen der russischen Haushalte

(4. Quartal 2013=100)

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review, 04.11.2022

Das VEB-Institut merkt an, dass der Anstieg der realen Einkommen im dritten Quartal gegenüber dem Vorquartal vor allem auf „sonstige Einkommen“ zurückzuführen ist, die von Rosstat nicht näher klassifiziert wurden.

Im Vergleich zum Vorjahresquartal beschleunigte sich der Rückgang der real verfügbaren Einkommen im dritten Quartal 2022 auf 3,4 Prozent. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Einkommen im dritten Quartal 2021 durch staatliche Einmal-Zahlungen kräftig erhöht wurden.

Ein Vergleich mit dem Vorjahresmonat zeigt aktuell oft hohe Minus-Raten

Da die Produktion der russischen Wirtschaft im letzten Herbst/Winter einen historischen Höhepunkt erreichte, weisen Vergleiche der September-Daten mit den Vorjahresergebnissen oft sehr starke Rückgänge auf (siehe Rosstat-Monatsbericht).

Der reale Einzelhandelsumsatz war im September fast 10 Prozent niedriger (- 9,8 Prozent) als ein Jahr zuvor. Der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich übertraf hingegen sein Vorjahresniveau im September noch geringfügig um 0,6 Prozent.

Der reale Rückgang im Warentransportgewerbe erhöhte sich im September auf 7,2 Prozent (August 2022/August 2021: – 4,1 Prozent).

Auch bei der Industrieproduktion hat sich der Rückgang gegenüber dem Vorjahresmonat im September verschärft. Die Industrieproduktion sank im September um 3,1 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, nachdem sie im August nur 0,1 Prozent niedriger war.  Das Konjunkturforschungsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften erwartet in seiner monatlichen Prognose, dass die Industrieproduktion im Oktober ihr Vorjahresniveau mit – 3,2 Prozent ähnlich stark unterschreiten wird wie im September.

Kräftig gestiegen ist 2022 jedoch die landwirtschaftliche Produktion. Sie wuchs im September im Vorjahresvergleich um 6,7 Prozent. In den ersten neun Monaten war sie 5,2 Prozent höher als im Vorjahr.

Alfa Bank-Prognose: BIP im Oktober voraussichtlich 6 Prozent niedriger als vor einem Jahr

Der vom Wirtschaftsministerium für September errechnete Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5,0 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat war schärfer als die Analysten der Alfa Bank erwartet hatten. Die Bank rechnet in einer Analyse für das Finanzportal Finam.ru damit, dass sich der Rückgang des BIP im Oktober auf 6 Prozent im Vorjahresvergleich beschleunigt haben dürfte.

Die Alfa Bank verweist darauf, dass sich der Rückgang des realen Umsatzes im Einzelhandel mit Nicht-Lebensmitteln im September im Vorjahresvergleich auf 15 Prozent verschärfte. Dies sei ein Zeichen, dass sich die Nachfrage der Verbraucher in einem Umfeld wachsender Unsicherheit weiter abgeschwächt hat. Die Bank geht mit Hinweis auf die Entwicklung der Frühindikatoren davon aus, dass sich dieser Trend im Oktober fortgesetzt hat.

Dabei hält die Alfa Bank die Einkommenslage der privaten Haushalte für „sicher“. Sie verweist auf wachsende Ausgaben des Staates. Staatliche Transfers stellten bereits 22 Prozent aller Einkommen der Bevölkerung. Die beschleunigte Abnahme des privaten Verbrauchs ist nach Einschätzung der Alfa Bank angesichts der relativ niedrigen Arbeitslosenquote wahrscheinlich mit einem Rückgang der Konsumneigung der Bevölkerung verbunden.

Die Arbeitslosenquote stieg in Russland im September geringfügig von 3,8 auf 3,9 Prozent. Dazu meint die Alfa Bank, der russische Arbeitsmarkt sei gegenwärtig in jedem Fall von einem knappen Angebot an Arbeitskräften geprägt. Rund eine Million Menschen hätten nach der Ankündigung der Teil-Mobilmachung den Arbeitsmarkt verlassen.

Die Entscheidung der russischen Regierung, die Teil-Mobilmachung zu beenden (Tagesschau vom 01. November), könnte nach Einschätzung der Alfa Bank die konjunkturelle Entwicklung der russischen Wirtschaft im November verbessern. Die Stimmung der Verbraucher werde sich wahrscheinlich aber nur sehr langsam, wenn überhaupt, aufhellen.

Pläne, die Leitzinsen in diesem Jahr nicht weiter zu senken, hält die Alfa Bank für unangemessen. Die Bank erwartet, dass die Zentralbank die Zinsen in den nächsten Monaten weiter zurücknimmt.

Reuters-Umfrage: 2022 sinkt Russlands BIP um 3,5 Prozent

In einer am 03. November veröffentlichten Umfrage des Moskauer Reuters-Büros geht die Mehrheit der Beobachter hingegen davon aus, dass die Zentralbank angesichts der hohen Inflationsraten ihren Leitzins von 7,5 Prozent für einige Monate beibehalten wird. Im Durchschnitt des Monats September waren die Verbraucherpreise noch 13,7 Prozent höher als vor einem Jahr. Im Oktober sank die jährliche Inflationsrate voraussichtlich auf 12,7 Prozent (Interfax).

Die 14 Teilnehmer der Reuters-Umfrage rechnen im Durchschnitt damit, dass die jährliche Inflationsrate im Dezember 2022 noch 12,5 Prozent betragen wird, was den Erwartungen der russischen Zentralbank entspricht (Prognosespanne der Zentralbank: 12 bis 13 Prozent).

Den Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im laufenden Jahr veranschlagen die Umfrage-Teilnehmer jetzt auf 3,5 Prozent (Prognose der Zentralbank: – 3 bis – 3,5 Prozent). Vor einem Monat war in der Reuters-Umfrage noch ein etwas geringerer BIP- Rückgang von 3,2 Prozent erwartet worden.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Russlands Wirtschaftsminister Maksim Reschetnikow. Quelle: Maksim Konstantinov / Shutterstock.com