Frühes Ende der Rezession? Russlands Wirtschaft ist im Juli gewachsen

Nach ersten Berechnungen russischer Institute stieg Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im Juli gegenüber Juni. Im Vergleich zum Vorjahr war sie in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 laut dem russischen Wirtschaftsministerium nur 1,1 Prozent niedriger.

Optimistische Konjunkturprognosen der russischen Regierung werden vom Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im Juli gestützt. Der Erste Stellvertretende Ministerpräsident Beloussow erwartet inzwischen für das gesamte Jahr 2022 sogar nur noch einen Rückgang der Produktion „von irgendwo bei 2 Prozent und ein bisschen“. BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, meint hingegen, im Jahr 2022 werde die Rezession zwar wohl moderater als bisher gedacht ausfallen. Andererseits werde sich der weitere Produktionsrückgang im nächsten Jahr aber verschärfen.

Institut der Vnesheconombank: Bruttoinlandsprodukt erholte sich um 0,6 Prozent

Ende August veröffentlichte das russische Statistikamt Rosstat zusätzlich zur Industrieproduktion weitere Daten für die Entwicklung der Produktion der russischen Wirtschaft im Juli.  Erste Berechnungen zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts im Juli veröffentlichte das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank am Freitag. Danach ist das BIP gegenüber Juni saisonbereinigt um 0,6 Prozent gestiegen.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014=100)

Forschungsinstitut Vnesheconombank: Global economy and markets, 02.09.2022

Beiträge zum Wachstum gegenüber dem Vormonat kamen laut VEB-Institut im Juli vom Verarbeitenden Gewerbe, von der Bauwirtschaft und vom Einzelhandel.

Gegenüber dem Vormonat gesunken ist die Produktion im Juli hingegen in den Bereichen „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“, Großhandel und Dienstleistungen.

Auch die Konsumkonjunktur erholte sich im Juli etwas

Von März bis Juni war das reale Bruttoinlandsprodukt vier Monate in Folge gesunken. Besonders stark war seit März der Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes (schwarze Linie in der folgenden Abbildung). Der Rückgang des realen Umsatzes mit Dienstleistungen (dunkelgrüne Linie) war deutlich moderater.

Reallöhne und reale Umsätze im Einzelhandel und mit Dienstleistungen (Jan. 2014=100)

Forschungsinstitut Vnesheconombank: Global economy and markets, 02.09.2022

Der reale Einzelhandelsumsatz war laut den Berechnungen des VEB-Instituts bereits im Juni gegenüber dem Vormonat um 0,3 Prozent gestiegen. Im Juli nahm er gegenüber Juni um 0,4 Prozent zu. Damit war er aber noch 8,8 Prozent niedriger als vor einem Jahr im Juli 2021.

Demgegenüber übertraf der reale Umsatz mit Dienstleistungen im Juli sein Vorjahresniveau noch um 1,4 Prozent, obwohl er im Juli gegenüber Juni um 1,3 Prozent sank.

Hintergrund für die Entwicklung der Konsumkonjunktur ist die Entwicklung der Reallöhne. Sie waren im Juni 3,2 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Beloussow zur Rezession 2022: „Irgendwo bei zwei Prozent und ein bisschen“

Mitte August hatte die russische Regierung in einem Entwurf für die Haushaltsplanung den diesjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf 4,2 Prozent veranschlagt, deutlich weniger als der IWF erwartet (- 6 Prozent). Die Regierung blieb mit ihrer Prognose nur knapp in der von der russischen Zentralbank erwarteten Spanne für die diesjährige Rezession (- 4 Prozent bis – 6 Prozent).

Zwei Wochen später äußerte sich der Erste Stellvertretende Ministerpräsident Beloussow noch deutlich optimistischer. Er erklärte der Nachrichtenagentur Interfax zufolge am 29. August bei einer Regierungssitzung:

“In diesem Jahr werden wir wohl einen Rückgang beim BIP (Bruttoinlandsprodukt) von weniger als drei Prozent, irgendwo bei zwei Prozent und ein bisschen haben.

Und im nächsten Jahr, so Beloussow, hat Russland alle Chancen, den weiteren Rückgang des BIP auf – 0,6 bis – 0,8 Prozent zu begrenzen. Das berichten auch RBC.ru und ad hoc news.de.

Ähnlich zuversichtlich wie Beloussow sieht Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, die diesjährige Konjunkturentwicklung. Sie rechnet in einem Kommentar zu den Juli-Konjunkturdaten mit einem Rückgang des BIP um 3,0 Prozent im Jahr 2022, weist aber gleichzeitig auf die externen geopolitischen Risiken hin. Olga Belenkaya (Chef-Volkswirtin des Finanzportals Finam.ru) meint in einer ausführlichen Analyse der Juli-Daten, die aktuelle Entwicklung spräche für eine schwächere Rezession als sie von ihr bisher mit – 4 bis – 5 Prozent erwartet werde.

Bei einer Reuters-Umfrage sank die durchschnittliche Rezessionserwartung für das Jahr 2022 in der letzten August-Woche von – 5,0 Prozent auf – 4,7 Prozent. Damit ginge das im Jahr 2021 erzielte Produktionswachstum von 4,7 Prozent in diesem Jahr wieder verloren.

BOFIT: Das „Timing“ der Rezession hat sich etwas verändert

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank BOFIT, sieht hingegen offenbar keinen Grund, die Rezessionsprognosen für die russische Wirtschaft deutlich zu revidieren.  Laut einem am Freitag veröffentlichten BOFIT-Artikel haben sich in den letzten Monaten die Prognosen zwar  im Hinblick auf das „Timing“, also den zeitlichen Ablauf der Wirtschaftskrise, etwas verändert. Das Institut bleibt aber bei seiner Einschätzung, die Konjunktur in Russland werde sich in der zweiten Jahreshälfte 2022 noch deutlich weiter abschwächen. Davon gingen internationale Forschungsinstitute, aber auch russische Prognosen aus. Der Zeitpunkt, zu dem die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland voraussichtlich ihren Tiefpunkt erreichen wird, werde sich jedoch voraussichtlich weiter in die Zukunft verlagern.

Für das Jahr 2022 wird jetzt, so BOFIT, ein etwas „moderaterer“ Rückgang des Bruttoinlandsprodukts erwartet. Die Erwartungen für das nächste Jahr hätten sich jedoch eingetrübt. In den meisten Prognosen werde inzwischen für 2022 ein BIP-Rückgang um 5 bis 8 Prozent und für 2023 um 2 bis 4 Prozent angesetzt.  BOFIT will seine eigene Russland-Prognose vom 28. März  (2022: – 10 Prozent) Ende September aktualisieren.

BOFIT zur Konjunktur im Juli

In seinem am Freitag veröffentlichten Wochenbericht analysiert BOFIT in einem weiteren  Beitrag die für Juli veröffentlichten Konjunkturdaten. Zur Entwicklung der Produktion wichtiger Wirtschaftsbereiche bis Juli zeigt die folgende BOFIT-Abbildung die Indizes der saisonbereinigten realen Produktionsentwicklung in den beiden größten Bereichen der Industrie, dem Verarbeitenden Gewerbe (Manufacturing) und dem Bereich Bergbau/Förderung von Rohstoffen (Extractive Industries) sowie im Einzelhandel (Retail trade) und der Bauwirtschaft (Construction).

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank hebt hervor, dass die Produktion der russischen Wirtschaft in den letzten Monaten von der Entwicklung in der Bauwirtschaft (blaue Linie) und dem Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (schwarze Linie) gestützt wurde. Demgegenüber habe sich der reale Umsatz im Einzelhandel (rote Linie) und die Produktion im “Verarbeitenden Gewerbe“ (dunkelblaue Linie) im Trend abgeschwächt.

Das Baugewerbe und die mineralgewinnende Industrie haben die russische Wirtschaftsleistung gestützt, während der Einzelhandel und das verarbeitende Gewerbe schwächer waren

BOFIT: Russian economic trends seem to have stabilised in July,  BOFIT  weekly, 02.09.2022

BOFIT stellt zur Konjunkturentwicklung im Juli folgende Ergebnisse heraus:

Der Rohstoff-Sektor federte den Rückgang der Industrieproduktion ab

Die Industrieproduktion schrumpfte insgesamt im Juli im Vorjahresvergleich nur um 0,5 Prozent. Dabei sank die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ um rund ein Prozent – bei stark schwankenden Produktionstrends in den einzelnen Branchen.

Der Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ federte den Rückgang der gesamten Industrieproduktion im Juli ab. Er verzeichnete einen Produktionsanstieg um rund 1 Prozent gegenüber Juli 2021.

Die Rohölproduktion stieg im Juli im Vorjahresvergleich um rund 3 Prozent. Die russischen Rohölexporte haben sich in den letzten Monaten stark entwickelt.

Die Produktion von verflüssigtem Erdgas (LNG) wurde im Vorjahresvergleich sogar um rund 25 Prozent erhöht. Die sonstige Erdgasförderung schrumpfte gleichzeitig allerdings um rund 24 Prozent. Die Exporte von Pipeline-Gas brachen ein.

Auch die Bauproduktion und die Agrarproduktion stiegen im Juli

Neben dem Rohstoffsektor verzeichneten im Juli auch das Baugewerbe und die Landwirtschaft im Juli Produktionszuwächse. Die Bauproduktion stieg um rund 7 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die landwirtschaftliche Produktion um rund 1 Prozent.

Der Transportsektor geriet ins Stocken. Das Frachtvolumen sank im Juli im Jahresvergleich um rund 5 Prozent.

Der Einzelhandelsumsatz hat sich auf stark gesunkenem Niveau stabilisiert

Der Index des realen Einzelhandelsumsatz (rote Linie) hat sich in den letzten Monaten auf einem „Plateau“ eingependelt. Die preisbereinigten Einzelhandelsumsätze, ein grober Indikator für die Entwicklung des realen privaten Verbrauchs, waren im Juli im Jahresvergleich noch um rund 9 Prozent rückläufig.

Dabei stiegen die Verbraucherpreise im Juli im Jahresvergleich noch um rund 15 Prozent, obwohl sich das Inflationstempo in den letzten Monaten leicht verlangsamt hat.

Die Reallöhne sind bei niedriger Arbeitslosenquote gesunken

Der durchschnittliche Reallohn war im Juni im Jahresvergleich laut Rosstat um rund 5 Prozent niedriger. Die real verfügbaren Haushaltseinkommen sanken im zweiten Quartal 2022 im Vorjahresvergleich um rund 1 Prozent.

Die Arbeitslosenquote hielt sich im Juli nahe ihrem historischen Tief von rund 4 Prozent.

RIA Rating: Am meisten erstaunt das Wachstum der Investitionen

Die russische Rating-Agentur RIA Rating zeigte sich in ihrem monatlichen Konjunkturbericht vor allem hinsichtlich des Wachstums der Investitionen in Russland gegenüber dem Vorjahr überrascht. Laut Rosstat sind die Anlageinvestitionen im ersten Halbjahr im Vorjahresvergleich um 7,8 Prozent gestiegen. Dabei wuchsen sie im zweiten Quartal um 4,1 Prozent gegenüber dem zweiten Quartal 2021 – trotz der hohen Ungewissheit über die weitere Entwicklung der Wirtschaft angesichts der Sanktionen und der Aufgabe der Geschäftstätigkeit vieler westlicher Unternehmen.

Als mögliche Ursachen für das Wachstum der Investitionen gegenüber dem Vorjahr nennt RIA Rating:

  • Viele Unternehmen haben gerade angesichts der hohen Unsicherheit ihre bereits begonnenen Investitionen nicht eingefroren, sondern beschleunigt fertiggestellt.
  • Der Kauf bisher in Russland tätiger westlicher Unternehmen durch russische Unternehmen könnte die russischen Investitionen gesteigert haben.
  • Der Rückzug westlicher Unternehmen aus dem Handel mit Russland könnte Investitionen russischer Unternehmen zur Substitution bisheriger Importe stimuliert haben.

Trotz der positiven Investitionsentwicklung im ersten Halbjahr erwartet RIA Rating im zweiten Halbjahr aber ein schwächeres Wachstum oder auch einen Rückgang der Investitionen im Vorjahresvergleich. Die Gründe für mehr Investitionen würden sich abschwächen.

RIA Rating senkte angesichts der in den letzten Monaten verbesserten Konjunkturdaten ihre Rezessionsprognose für die russische Wirtschaft im Jahr 2022 von – 7 Prozent auf – 5 Prozent.  Die internationale Rating-Agentur Moody’s blieb hingegen Ende August bei ihrer Prognose von – 7 Prozent.

VEB Institut: Vom ersten zum zweiten Quartal sind die Investitionen gesunken

Nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank sind die Anlageinvestitionen im zweiten Quartal 2022 gegenüber dem Vorquartal um 5,6 Prozent gesunken. Im ersten Quartal 2022 waren sie gegenüber dem vierten Quartal 2021 noch kräftig weiter um 5,7 Prozent gestiegen.

Index der Entwicklung der Anlageinvestitionen

(4. Quartal 2013=100)

Forschungsinstitut Vnesheconombank: Global economy and markets, 02.09.2022

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

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