OECD-Prognose: schnelle Erholung der russischen Wirtschaft

Wachstumsprognosen aber auch von Inflationsängsten überschattet

Das wird Russlands Regierung sehr willkommen gewesen sein: Ende Mai – kurz vor dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg (SPIEF) – hob die OECD ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft von 2,7 Prozent auf 3,5 Prozent an. Die internationale Organisation der Industrieländer zeigte auch, dass nur wenige andere Staaten den Produktionsrückschlag der Corona-Krise so schnell aufholen wie Russland.

Nochmals „bestätigt“ wurde die Prognose der OECD durch eine „Analysten-Umfrage“ der russischen Zentralbank, die in der letzten Woche erstmals veröffentlicht wurde. Die Zentralbank befragte 26 russische und ausländische Banken und Forschungsinstitute unter anderem zu ihrer Einschätzung der Entwicklung von Wirtschaftswachstum, Inflation und Leitzins in Russland bis 2023. Als Mittelwert der Prognosen für das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts im laufenden Jahr ermittelte sie einen Anstieg von 3,5 Prozent.

Immer mehr Beobachter meinen also, dass die Produktion der russischen Wirtschaft schon im zweiten Halbjahr 2021 den Einbruch durch die Corona-Krise aufgeholt haben wird. Dazu tragen auch die am Freitag von der Statistikbehörde Rosstat veröffentlichten Konjunkturdaten für April und die Ergebnisse der jüngsten Befragungen von Unternehmen durch IHS Markit bei.

Konjunkturdaten für April: Industrie- und Bauproduktion stark gestiegen

Die Rosstat-Daten für April bestätigen, dass sich nach der Industrieproduktion auch der Einzelhandel und der Dienstleistungsbereich der russischen Wirtschaft zunehmend erholen.

Die folgende Abbildung aus einer Analyse von Dmitry Dolgin, Chefvolkswirt der ING Bank für Russland, zeigt, dass die Industrieproduktion (orange Linie) und die Bauproduktion (violette Linie) im April jeweils 7,2 Prozent höher waren als im Vorjahresmonat.

Producer trends are looking up on low base effect, but also accompanied by higher lending activity

Dmitry Dolgin; ING Bank: Russian activity exceeds expectations in April; 04.06.2021, Chartadresse

Dolgin verweist darauf, dass der wichtigste Grund für den kräftigen Anstieg der Industrieproduktion gegenüber April 2020 der damalige starke Rückgang der Produktion ist („Basiseffekt“). Der Anstieg im April 2021 war aber kräftiger als erwartet wurde. Als Hintergrund für den Produktionsanstieg verweist Dolgin außerdem auf das Wachstum der Kreditvergabe an Unternehmen (graue Fläche in der Abbildung). Sie ist in den letzten Monaten deutlich beschleunigt gestiegen, zuletzt um rund 11 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.

Der Produktionsanstieg ist, so Dolgin, auch von der Fiskalpolitik der Regierung gestützt worden. Die Ausgaben im föderalen Haushalt seien im April nominal rund 6 Prozent höher als vor einem Jahr gewesen, obwohl sie im damaligen „Lockdown“ kräftig erhöht wurden.

Der Einzelhandelsumsatz war real gut ein Drittel höher als vor einem Jahr

Auch der Anstieg des realen Einzelhandelsumsatzes übertraf im April die Erwartungen der Analysten. Mit einer Zunahme um 34,7 Prozent (rote Linie in der folgenden Abbildung) war nicht gerechnet worden, obwohl es im „Lockdown“ im April 2020 einen Umsatzrückgang um 22 Prozent gegeben hatte.

Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes (rote Linie), der Beschäftigtenzahl (Millionen) und der Reallöhne (blaue Linie)

Dmitry Dolgin; ING Bank: Russian activity exceeds expectations in April; 04.06.2021
https://think.ing.com/uploads/charts/_w800/consumption_vs_employment_April_2021.png

Der Aufschwung im Einzelhandel zeigt sich auch, wenn man zum Vergleich auf den „noch normalen“ April 2019 zurückgreift. Der reale Einzelhandelsumsatz war im April 2021 immerhin 5,1 Prozent höher als zwei Jahre zuvor.

Dolgin verweist als Hintergrund für den Aufschwung des Einzelhandelsumsatzes  insbesondere auf die Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt. Die Zahl der offiziell Beschäftigten (graue Fläche in der Abbildung) erholte sich auf 71,2 Millionen. Damit ist fast wieder der Stand vom März 2020 (vor dem Lockdown) erreicht. Die Arbeitslosenquote sank im April weiter von 5,4 Prozent auf 5,2 Prozent. Der Anstieg der Reallöhne (blaue Linie) verstärkte sich im März 2021 auf 1,8 Prozent (April noch nicht verfügbar).

Wirtschaftsministerium: BIP im April noch rund 1 Prozent niedriger als vor dem Lockdown

Auch das russische Wirtschaftsminiterium stellt in seinem Konjunkturbericht „Bild der Wirtschaft“ für April heraus, dass in den nächsten Monaten bei Vergleichen aktueller Daten mit ihrem Vorjahresstand die starken Rückgänge in den Lockdown-Monaten im Frühjahr 2020 zu beachten sind. Für seinen Konjunkturbericht hat das Ministerium deswegen saisonbereinigte Daten errechnet und vergleicht den aktuellen Stand der Daten auch mit ihrem Niveau im 4. Quartal 2019 vor dem „Lockdown“.

Nach den ersten Berechnungen des Ministeriums war das reale Bruttoinlandsprodukt Russlands im April 10,7 Prozent höher als im April 2020.

Im Vergleich mit dem „Vorkrisen-Stand“ im vierten Quartal 2019 war das BIP im April 2021 nur noch rund 1 Prozent niedriger (nachdem es im ersten Quartal 2021 den Vorkrisenstand noch um rund 2 Prozent unterschritt). Gedrückt wurde dieses Ergebnis durch die niedrigere Produktion im Rohstoffbereich. Die Produktion in den sonstigen „Basis-Sektoren“ (Verarbeitendes Gewerbe, Transport/Verkehr, Bauwirtschaft, Landwirtschaft) übertraf im April ihr Vorkrisenniveau um rund 2 Prozent.

Der reale Umsatz im gesamten Verbrauchsbereich (Einzelhandel, Dienstleistungen, Gastgewerbe) war im April nur noch 0,5 Prozent niedriger als im vierten Quartal 2019. Dabei war der Umsatz im Dienstleistungsbereich noch rund 6 Prozent niedriger, während er im Einzelhandel bereits 1,3 Prozent höher als vor der Krise war.

Auch die Einkaufsmanager-Indizes signalisieren Wachstum

Die von IHS-Markit in der ersten Juni-Woche veröffentlichten beiden Einkaufsmanager-Indizes für das „Verarbeitende Gewerbe“ sowie die Dienstleistungsunternehmen sind im Mai gestiegen. Der Index im „Verarbeitenden Gewerbe“ kletterte von 50,4 im April auf 51,9 Punkte. Im Dienstleistungsbereich erhöhte sich der Index von 55,2 Punkten auf 57,5 Punkte im Mai, der höchste Stand seit neun Monaten.

Der „kombinierte“ Index stieg von 54,0 Punkten im April auf 56,2 Punkte im Mai. IHS Markit vergleicht in der folgenden Abbildung die Entwicklung des „Composite Purchasing Manager Index“ mit den prozentualen Veränderungen des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr.

Private sector output growth accelerates in May

IHS Markit: Russia Services PMI: Business activity growth fastest for nine months in May; 03.06.2021

IHS Markit erwartet aufgrund der Unternehmensbefragungen in diesem Jahr in Russland einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 3,1 Prozent. In einem Kommentar meint IHS Markit zu den Mai-Befragungen, im Dienstleistungsbereich hätten sich die Wachstumsraten bei Produktion und Aufträgen beschleunigt. Insgesamt seien die Umsätze trotz leicht rückläufiger Exporte stark gestiegen. Allerdings merkt IHS Markit an, dass sich der Preisanstieg weiter verstärkt habe. Die Unternehmen machten sich Sorgen, ob die Kunden die höheren Preise bezahlen können.

Im April war der Anstieg der Verbraucherpreise zwar von 5,8 auf 5,5 Prozent gesunken. Im Mai könnte er sich aber wieder auf 5,8 bis 5,9 Prozent Prozent beschleunigt haben.

Nabiullina warnt vor den Gefahren steigender Inflationserwartungen

Das Inflationsproblem wurde auch beim Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg in einer Diskussionsrunde mit Zentralbankpräsidentin Nabiullina, Finanzminister Siluanow und Wirtschaftsminister Reschetnikow ausrührlich angesprochen. Weitere Teilnehmer an dem Panel zum Thema „The Russian Economy: From the Anti-Crisis Agenda to Sustainable Development“ waren Kristalina Georgiewa, geschäftsführende Direktorin des IWF, und der frühere Wirtschaftsminister und jetzige Berater von Präsident Putin Maxim Oreschkin.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina unterstrich in der Diskussion die Gefahren steigender Inflationserwartungen der Verbraucher. Sie seien inzwischen auf einem 4 Jahres-Hoch. Die Erwartung stark steigender Preise ändere das Verhalten der Verbraucher. Es könnte zu einer „Inflationsspirale“ kommen. Die Zentralbank habe deswegen mit Leitzinserhöhungen ihre Geldpolitik gestrafft. Diese „Normalisierung“ der Geldpolitik sei kein Wachstumshindernis (Video: Min. 24 bis 31).

Nabiullina wiederholte ihre Kritik an den von der Regierung beschlossenen Eingriffen in die Preisbildung zur Dämpfung der Inflation. Solche staatlichen Preisregulierungen  dürften in einer Marktwirtschaft nur in Notfällen vorgenommen werden. Das berichtet die „Moscow Times“.

Siluanow will auch eine straffere Haushalts- und Geldpolitik

Finanzminister Siluanow stimmte Nabiullinas Warnungen vor Inflationsgefahren zu. Er meinte, in Russlands Wirtschaft seien bei einer Inflationsrate von aktuell 5,9 Prozent bereits Elemente einer „Überhitzung“ sichtbar. Wenn man die staatlichen Ausgaben weiter erhöhe, werde sich dieser Trend verstärken. Die Regierung werde ihre Ausgabenpolitik deswegen „normalisieren“. Geplant ist eine Verringerung des Haushaltsdefizits. Laut Siluanow ist eine „allmähliche Abwendung von der super-weichen Haushalts- und Geldpolitik“ in enger Abstimmung von Finanzministerium und Zentralbank zu erwarten, berichtet RBC.ru (Video: Min. 32 bis 37).

SPIEF-Diskussionen mit deutscher Beteiligung

Für die Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen von besonderem Interesse waren beim diesjährigen SPIEF der vom früheren Vorsitzenden des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft Professor Dr. Klaus Mangold moderierte „Russisch-deutsche Wirtschaftsdialog“ und ein von Alexander Rahr (Deutsch-Russisches Forum) moderiertes Panel zum Thema „Deutsch-Russische Beziehungen nach der Pandemie“. Der von der AHK eingerichtete „SPIEF-Liveticker“ berichtete über einige Stellungnahmen von Teilnehmern an diesen Diskussionen am 04. Juni. Professor Dr. Klaus Mangold hatte zuvor im AHK-Podcast „Zaren, Daten, Fakten“ im Gespräch mit Thomas Baier ausführlich zu den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen und zur Bedeutung des Wirtschaftsforums in Sankt Petersburg Stellung genommen. Er bedauerte, dass sich insbesondere deutsche Politiker in den letzten Jahren immer weniger am Forum beteiligten.

Eine Ausnahme war in diesem Jahr Klaus Ernst (Die Linke), Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie. Er nahm in Sankt Petersburg in einem Interview mit Thomas Fasbender (RT Deutsch) insbesondere zu Nord Stream 2 Stellung. Fasbender interviewte beim SPIEF u.a. auch Stefan Teuchert (Präsident und CEO BMW Russland) und Stefan Mecha (CEO Volkswagen Russland).

Weitere Lesetipps zum SPIEF, zum Russland-Tag in Rostock und zu den deutsch-russischen Beziehungen bietet das beigefügte PDF-Dokument. Besonders bemerkenswert ist unter den zahlreichen Interviews der letzten Wochen zur Russlandpolitik ein Gespräch des CDU-Bundestagsabgeordneten Norbert Röttgen (Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses) mit dem Deutschlandfunk. Röttgen  kritisierte die Haltung von Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, in der Sanktionspolitik gegenüber Russland scharf.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

  • St. Petersburg International Economic Forum; 4. Unternehmertag Russland in Rostock;
  • Interviews mit Prof. Dr. Klaus Mangold, früherer Vorsitzender des Ost-Ausschusses
  • Nord Stream2: RT-Interview mit Klaus Ernst (Die Linke) beim SPIEF
  • Streit über Russland-Politik: Norbert Röttgen kritisiert Matthias Platzeck
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