Russische Wirtschaft: Rasche Erholung – aber kein anhaltend kräftiger Aufschwung

Ziemlich umstritten: Wie stark flaut die Inflation bis Ende 2021 ab?

Sie liegen noch ziemlich weit auseinander: die Prognosen für die diesjährige Entwicklung von Produktion und Inflation in Russland. Das zeigte auch eine in der ersten Mai-Woche veröffentlichte Umfrage der Nachrichtenagentur Interfax bei acht führenden russischen Banken und Forschungsinstituten. Wir haben die Ergebnisse der Umfrage insbesondere mit den Prognosen des russischen Wirtschaftsministeriums, der Zentralbank und der Sberbank verglichen.

Weitgehend einig ist man sich, dass sich die gesamtwirtschaftliche Produktion schon im Jahr 2021 von ihrem Rückgang im Jahr 2020 um 3,0 Prozent zumindest erholen wird. Die Sberbank hob ihre Prognose für das diesjährige BIP-Wachstum sogar von 3,0 auf 3,8 Prozent an. Die meisten Beobachter rechnen jedoch damit, dass sich der Produktionsanstieg schon 2022 wieder merklich abschwächt.

Wachstumsprognosen für 2021 jetzt meist knapp über 3 Prozent

Die russische Zentralbank blieb in ihrer am 23. April veröffentlichten mittelfristigen Vorausschau bei ihrer überdurchschnittlich optimistischen Sicht. Ihre breit gespannte Wachstumsprognose für das laufende Jahr beträgt weiterhin 3 bis 4 Prozent. In diesen Bereich sind mittlerweile auch die Erwartungen vieler anderer Institutionen vorgestoßen. So ergab die jüngste monatliche Interfax-Umfrage, dass sich die durchschnittliche Wachstumserwartung für 2021 von 2,9 Prozent auf 3,0 Prozent erhöht hat. Das berichtete das Finanz-Portal Finmarket.ru in der letzten Woche. Das in Barcelona ansässige Research-Unternehmen FocusEconomics hatte in seiner Umfrage bei internationalen Banken und Forschungsinstituten bereits Mitte April einen Anstieg der durchschnittlichen Prognose für 2021 auf 3,1 Prozent ermittelt.

2022 rechnen aber die meisten weiterhin mit deutlich weniger Wachstum

Die weiteren Wachstumsperspektiven sind jedoch auch laut der Umfrage von FocusEconomics weniger günstig. Es wird mit einer deutlichen Abschwächung des Wachstums auf 2,6 Prozent im nächsten Jahr gerechnet. Die von Interfax befragten russischen Fachleute sind noch skeptischer. Sie erwarten für 2022 jetzt im Durchschnitt sogar einen Rückgang des Wachstums auf nur noch 2,1 Prozent. Im Vergleich damit bleibt Russlands Zentralbank auch für 2022 relativ optimistisch. Wie FocusEconomics rechnet auch sie im nächsten Jahr aber mit einer Abschwächung des Wachstums um einen halben Prozentpunkt. Sie geht jetzt davon aus, dass die russische Wirtschaft 2022 um 2,5 bis 3,5 Prozent wächst. Das russische Wirtschaftsministerium prognostiziert einen deutlich anderen Wachstumsverlauf. Es erwartet 2021 mit 2,9 Prozent einen geringeren Produktionsanstieg als die Zentralbank und bleibt auch unter den Umfrage-Ergebnissen. Anders als die meisten Beobachter erwartet das Ministerium im nächsten Jahr keine Abschwächung des Wachstums, sondern rechnet mit einer Beschleunigung auf 3,2 Prozent.    

Wachstumsprognosen 2020 bis 2022

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

  202020212022
DekaBank, Frankfurt07.05.21– 3,03,52,0
Helaba, Frankfurt07.05.21– 3,13,02,0
Commerzbank, Frankfurt07.05.21– 3,13,72,5
ING Bank, Amsterdam06.05.21– 3,02,52,2
Interfax-Poll05.05.21– 3,03,02,1
Sberbank29.04.21– 3,13,8 
Wirtschaftsministerium24.04.21– 3,0 Urals 41,4 $/b2,9 Urals 60,3 $/b3,2 Urals 56,2 $/b
Russische Zentralbank23.04.21– 3,0 Urals 42 $/b3,0 bis 4,0 Urals 60 $/b2,5 bis 3,5 Urals 55 $/b
WIIW Wien15.04.21– 3,13,22,7
Gemeinschaftsdiagnose15.04.21– 3,13,02,7
FocusEconomics Consensus13.04.21– 3,13,12,6
OPEC, Wien13.04.21– 3,13,0 
Economist Intelligence Unit, London13.04.21– 3,12,52,1
Internationaler Währungsfonds06.04.21– 3,13,83,8
Rosstat; zweite Schätzung 202001.04.21– 3,0  
RF Akademie der Wissenschaften01.04.21– 3,13,21,8
Weltbank31.03.21– 3,12,93,2
Eurasian Development Bank31.03.21– 3,13,32,5
Unicredit30.03.21– 3,12,92,6

Wie unterschiedlich die Perspektiven für 2022 noch beurteilt werden, zeigt insbesondere folgender Vergleich: Das Konjunkturforschungsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften äußerte sich Anfang April in seinem vierteljährlichen Konjunkturbericht besonders skeptisch. Es erwartet bereits für 2022 fast eine Halbierung der Wachstumsrate von 3,2 Prozent auf 1,8 Prozent. Viel zuversichtlicher fiel wenige Tage später die Prognose des Internationalen Währungsfonds aus. Er glaubt, dass Russlands Wirtschaft 2021 um 3,8 Prozent wächst und dieses Tempo 2022 halten kann. Erst danach rechnet auch der IWF mit deutlich niedrigeren Wachstumsraten.

Sberbank erwartet 2021 eine kraftige Erholung des BIP (+ 3,8 Prozent)

Die Sberbank äußerte sich bei der Vorstellung ihrer Geschäftsergebnisse im ersten Quartal 2021 auch zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im laufenden Jahr. Das Finanz-Portal seekingalpha.com veröffentlichte dazu folgende Abbildung aus der Sberbank-Präsentation.  

Sberbank-Prognosen zu Ölpreis, BIP-Wachstum, Inflation, Leitzins und Wechselkurs im Jahr 2021 (bisherige Prognosen: blaue Säulen; neue Prognosen: grüne Säulen)

seekingalpha.com; Sberbank: IFRS Earnings presentation 1Q 2021; Seite 23: 29.04.2021

Die Abbildung zeigt, dass die Sberbank ihre bisherige Prognose von Anfang März für das diesjährige Wirtschaftswachstum kräftig nach oben korrigierte, gleichzeitig aber auch mit einer deutlich höheren Inflationsrate rechnet. Angesichts der höheren Inflation erwartet die Sberbank auch eine stärkere Anhebung des Leitzinses als bisher. Mit der Anhebung ihrer Wachstumsprognose für 2021 von 3,0 auf 3,8 Prozent folgt die Sberbank dem „World Economic Outlook“ des Internationalen Währungsfonds vom 06. April.

Die Inflationsrate sinkt bis Jahresende laut SBER nur auf 4,8 Prozent

Bei diesem kräftigen Wirtschaftswachstum erwartet die Sberbank einen deutlich schwächeren Rückgang des Anstiegs der Verbraucherpreise als das Wirtschaftsministerium. Im März 2021 hat die Inflationsrate im Vergleich mit dem Vorjahresmonat mit 5,8 Prozent ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Im April sank sie auf 5,5 Prozent. Bis Dezember 2021 rechnet die Sberbank angesichts des kräftigen Wirtschaftswachstums nur mit einem weiteren Rückgang der jährlichen Inflationsrate auf 4,8 Prozent. Diese Prognose liegt innerhalb der von der Zentralbank erwarteten Inflationsspanne (+ 4,7 bis + 5,2 Prozent). Das Wirtschaftsministerium geht jedoch bei einem Wirtschaftswachstum von nur 2,9 Prozent von einem erheblich stärkeren Abflauen der Inflation auf 4,3 Prozent aus. Auch die Interfax-Umfrage ergab für das Jahresende eine niedrigere Inflationsrate (4,6 Prozent) als sie die Sberbank erwartet (4,8 Prozent). Nachdem die Zentralbank im April den Leitzins stärker als von vielen erwartet um einen halben Prozentpunkt auf 5,0 Prozent angehogen hat, rechnet die Sberbank bis zum Jahreende mit einem weiteren Anstieg des Leitzinses auf 5,5 Prozent. Das wird auch in der Interfax-Umfrage erwartet.  

Prognosen für 2021 im Vergleich

 Wirtschafts-ministeriumZentralbankSberbankInterfax-Umfrage
BruttoinIandsprodukt % ggü. Vorjahr+ 2,9+ 3,0 bis + 4,0+3,8+ 3,0
Verbraucherpreise Jahresende % ggü. Vorjahr+ 4,3+ 4,7 bis + 5,2+ 4,8+ 4,6
Leitzins in % Jahresende 4,8 bis 5,4 Jahresdurchschnitt5,55,5
Wechselkurs Rubel/US-Dollar Jahresdurchschnitt73,3 73,873,9 Jahresende
Urals-Ölpreis US-Dollar/Barrel Jahresdurchschnitt60,36060 

Quellen:

ING-Bank: Die Inflationsrate könnte erst im Dezember deutlich sinken

Am Freitag teilte Rosstat mit, dass der Anstieg der Verbraucherpreise im April im Vergleich zum Vorjahresmonat auf 5,5 Prozent gesunken ist. Im März hatte die jährliche Inflationsrate 5,8 Prozent erreicht. Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt für Russland der ING Bank, hält es in seiner Analyse der aktuellen Entwicklung für möglich, dass die Inflationsrate bis November nicht unter 5,5 Prozent sinken wird. Nur im Dezember 2021 dürfte nach seiner Einschätzung der Preisanstieg im Vergleich zum Vorjahresmonat auf 4,5 Prozent abnehmen, weil das Preisniveau vor einem Jahr im Dezember 2020 kräftig gestiegen sei. Im ersten Quartal 2022 sei dann ein weiterer Rückgang der Inflationsrate auf 4,0 Prozent möglich. Gegen einen raschen weiteren Rückgang der Inflationsrate bis Dezember 2021 spricht laut Dolgin:

  • Der jüngste Rückgang der Inflationsrate von 5,8 Prozent im März auf 5,5 Prozent im April ist allein darauf zurückzuführen, dass die Inflationsrate vor einem Jahr im April 2020 als Reaktion auf den Schock der Verhängung des Lockdowns sprunghaft um 0,6 Prozentpunkte von 2,5 Prozent auf 3,1 Prozent stieg.
  • Nur im Bereich der Lebensmittel ist die Preissteigerungsrate im April gesunken. Ursache dafür war auch nur die Preisentwicklung von Früchten und Gemüse, die besonders volatil ist.

Die folgende Abbildung der ING Bank zeigt, dass die Inflationsrate in den letzten Monaten nur bei Lebensmitteln sank (grüne Linie). In anderen Warenbereichen (dunkelblaue Linie) und bei Dienstleistungen (hellblaue Linie) beschleunigte sich der Preisanstieg hingegen weiter. Ein „Preistreiber“ war seit Jahresbeginn der beschleunigte Anstieg der Benzinpreise (gestrichelte Linie).

Inflation eased only in the food segment and only thanks to high base effect,  in other segments prices keep accelerating

Dmitry Dolgin, ING Bank: Russian CPI slows in April, but no further relief seen till year-end; 07.05.2021

Zahlreiche Inflationsrisiken

Das Inflationstempo in Russland könnte nach Einschätzung von Dolgin vor allem von der weiteren Entwicklung der Preise für landwirtschaftliche Produkte auf den Weltmärkten nach oben getrieben werden. Als Risikofaktoren für die Preisentwicklung nennt er auch den Anstieg der industriellen Erzeugerpreise und gestiegene Preiserwartungen der Unternehmen (vor allem vor dem Hintergrund, dass die Unternehmensgewinne im letzten Jahr nach Angaben von Rosstat um 24 Prozent gesunken seien). Auch die Inflationserwartungen der Verbraucher selbst hätten zugenommen.

Weitere Leitzinserhöhungen auf 5,5 Prozent zu erwarten

Dolgin rechnet weiterhin damit, dass die Zentralbank ihren Leitzins in den nächsten zwei bis drei Sitzungen des Direktorenrates um insgesamt 50 Basispunkte auf 5,5 Prozent erhöhen wird. Mit einem Leitzins von 5,5 Prozent am Jahresende wurde auch in der Interfax-Umfrage gerechnet. Auch die Sberbank geht davon aus. Daria Orlova, Russland Expertin der Frankfurter DekaBank, meint in der am Freitag veröffentlichten Mai-Ausgabe der „Emerging Markets Trends“ der DekaBank zur Politik der russischen Zentralbank: „Die russische Zentralbank hat bei dem Tempo der im März begonnenen geldpolitischen Normalisierung zugelegt und bei ihrer Sitzung im April den Leitzins stärker als von uns erwartet um 50 Bp auf nun 5,0% angehoben. Die Zentralbank erwartet eine robuste Erholung der Inlandsnachfrage, die von den erheblichen Beschränkungen für Reisen ins Ausland gestützt wird, proinflationär wirkt und die Inflationserwartungen erheblich nach oben treiben kann.“

Daria Orlova; DekaBank: Russland: Zentralbank strafft stärker als erwartet,
in: Emerging Markets Trends; 07.05.2021

Auch Orlova erwartet für dieses Jahr weitere Leitzinsanhebungen um insgesamt 50 Basispunkte, die voraussichtlich bereits im Sommer erfolgen dürften, aber in kleineren Schritten um 25 Basispunkte. Der Anstieg der Verbraucherpreise wird sich nach Einschätzung der DekaBank im Jahresdurchschnitt 2021 auf 5,5 Prozent beschleunigen (2020/2019: + 3,4 Prozent).

Quellen und Lesetipps

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu: 

  • Der jährliche Verbraucherpreisanstieg sank im April von 5,8 auf 5,5 Prozent
  • Einkommen und Armut in Russland
  • Deutsch-russische Beziehungen: Nimmt “Putins Koch” Einfluss auf deutsche Unternehmen?
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