Ölpreiseinbruch belastet Russlands Wachstum und Außenhandel

Auch Russlands Zentralbank erwartet BIP-Rückgang um bis zu 6 Prozent

Was kommt auf die russische Wirtschaft zu? Welche Auswirkungen haben der Ölpreis-Einsturz und die Corona-Pandemie? Unser Analyst hat Statistiken und Stimmen zusammengetragen.

Russlands Zentralbank beschloss am Freitag eine Senkung des Leitzinses um einen halben Prozentpunkt auf 5,5 Prozent. Gleichzeitig veröffentlichte sie neue Prognosen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bis 2022. Wenn man sie mit den bisherigen  Prognosen vom 07. Februar vergleicht, wird klar, wie drastisch sich die Perspektiven für das Wachstum und die außenwirtschaftliche Entwicklung der russischen Wirtschaft in nur rund 10 Wochen verschlechtert haben.

Die zur Eindämmung des Coronavirus angeordneten Beschränkungen der Produktion und der tiefe Einbruch der Ölpreise zeigen ihre Wirkung. Die russische Zentralbank erwartet jetzt für dieses Jahr einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um bis zu 6 Prozent. Rechnungshof-Präsident Kudrin hält sogar einen Einbruch um bis zu 8 Prozent für möglich. Der bisherige hohe Leistungsbilanzüberschuss dürfte laut Zentralbank in ein deutliches Defizit umschlagen.

Zentralbank senkt Wachstumsprognose und Ölpreiserwartung für 2020

Anfang Februar ging die Zentralbank noch davon aus, dass Russlands Wirtschaft im Jahr 2020 bei einem Urals-Ölpreis von 55 Dollar/Barrel um 1,5 bis 2 Prozent wachsen wird.

Jetzt rechnet sie damit, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion bei einem nur noch halb so hohen Ölpreis von 27 Dollar/Barrel um 4 bis 6 Prozent sinken wird. In dieser Spanne liegt die Mitte April vom Internationalen Währungsfonds vorgelegte Prognose. Der IWF rechnet in Russland mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5,5 Prozent im Jahr 2020.

Eine ähnlich tiefe Rezession wie der IWF erwartet in diesem Jahr inzwischen unter anderem auch die russische Rating-Agentur ACRA (- 4,5 Prozent). Sie veröffentlichte eine ausführliche Vorausschau auf mögliche Entwicklungen bis zum Jahr 2024 (auch in Englisch). 2021 geht der IWF von einer Erholung der russischen Wirtschaft um 3,5 Prozent aus. Ganz ähnlich sieht jetzt auch die Zentralbank die Perspektiven für das nächste Jahr (+ 2,8 bis + 4,8 Prozent).

Wachstumsprognosen 2020 bis 2022
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

   202020212022
Russische Zentralbank,
Basisszenario
04/24/2020- 4 bis - 6
Urals 27 $/b
2,8 bis 4,8
Urals 35 $/b
1,5 bis 3,5
Urals 45 $/b
Helaba, Frankfurt04/24/2020-33
Fitch Ratings04/22/2020-3.32.5
ACRA Rating Moskau04/21/2020-4.52.23.5
Berenberg Bank, Hamburg04/20/2020-53.52.5
Commerzbank, Frankfurt04/17/2020-21.1
OPEC, Wien04/16/2020-0.5
Unicredit/BankAustria, Mailand04/15/2020-5.43.8
Internationaler Währungsfonds04/14/2020-5.53.5
Nordea, Basis-Szenario04/10/2020-3.53.6
HSE-Umfrage am 06./07. April04/09/2020-22.3
Vnesheconombank Institut04/09/2020-3.84.8
Economist Intelligence Unit04/09/2020- 2.61.81.9
Weltbank; Datenstand 23.03.202004/09/2020-11.61.8
Scope Rating, Berlin08.04.20- 3,32,3
Gemeinschaftsdiagnose, dt. Institute.08.04.20- 1,1- 0,0
FocusEconomics
Consensus Forecast
07.04.20- 1,42,3
ING Bank, Amsterdam07.04.20- 2,52,0
Citibank07.04.20- 4,2
J.P. Morgan04.04.20- 4,04,5
DekaBank, Frankfurt03.04.20- 1,82,6
Reuters-Umfrage31.03.20- 0,3
Russische Zentralbank,
Basisszenario
07.02.20
1,5 bis 2,0
Urals 55 $/b

1,5 bis 2,5
Urals 50 $/b
Wirtschaftsministerium;
Entwurf laut Interfax
31.01.201,9
Urals 57,7 $/b
3,1
Urals 56,0 $/b

Regierung aktualisiert ihre Prognosen erst Ende Mai

Eine Aktualisierung der Prognosen des russischen Wirtschaftsministeriums wird erst Ende Mai erfolgen. Das kündigte Minister Maxim Reshetnikov laut TASS an. Der Minister nahm aber kürzlich in mehreren Fernsehsendungen ausführlich zur Entwicklung der Wirtschaft Stellung (1tv.ru-Interview mit Vladimir Pozner, 16.04.; Channel 1 „The right to justice; 21.04.; Russia TV „60 Minutes“; 24.04.).

Wirtschaftsminister Reshetnikov rechnet jetzt für dieses Jahr mit einem Haushaltsdefizit von 5 bis 6 Prozent des BIP. Es werde aus Mitteln des Nationalen Wohlfahrtsfonds und einer für den russischen Finanzmarkt tragbaren zusätzlichern Verschuldung gedeckt werden. 2019 schloss der Föderalhaushalt nach vorläufigen Ergebnissen noch mit einem Überschuss von 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Industrieproduktion war im ersten Quartal noch 1,5 Prozent höher

Die am 22. April veröffentlichten Daten zur Entwicklung der Industrieproduktion im März zeigen noch keine deutliche Beeinträchtigung der Produktion durch Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus. Erst rund 4 Wochen zuvor hatte Präsident Putin angeordnet, dass weite Teile der russischen Wirtschaft ab Samstag, dem 28. März, die Produktion für eine Woche einstellen sollten. Eine Woche später wurden die Einschränkungen der Produktion auf den gesamten Monat April ausgedehnt.

Obwohl am Ende des Monats März noch 2 Wochentage von der Anordnung der „arbeitsfreien Woche“ betroffen waren, war die Industrieproduktion im März 2020 insgesamt noch 0,3 Prozent höher als im März 2019. Im ersten Quartal wuchs die Industrieproduktion im Vorjahresvergleich insgesamt um 1,5 Prozent.

Dabei nahm die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes in den ersten drei Monaten weit überdurchschnittlich um 3,8 Prozent zu. Im März war sie 2,6 Prozent höher als vor einem Jahr.

Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Öl- und Gas“ nahm hingegen im März im Vorjahresvergleich um 1,7 Prozent ab. Das Wirtschaftsministerium meint in seinem Monatsbericht zur Entwicklung der Industrieproduktion dazu, in einer wachsenden Zahl von Ländern seien Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus eingeleitet worden. Das habe zu einer schwächeren Nachfrage nach Rohstofflieferungen aus Russland geführt.

Am 27. April wird das Statistikamt Rosstat weitere Daten zur Wirtschaftsentwicklung im März veröffentlichen. Sie dürften weitere Hinweise auf Beeinträchtigungen der Produktion durch die Bekämpfung des Coronavirus geben.

Brent-Ölpreis seit Anfang 2020 um rund 70 Prozent eingebrochen

Russlands Wirtschaft hat derzeit aber nicht unter Produktionsverlusten durch Maßnahmen  zur Eindämmung des Coronavirus zu leiden. Hinzu kommt der Einbruch der Ölpreise. Damit sinken die Exporterlöse und die Einnahmen des Staates aus der Energiewirtschaft.

Der Preis für die Nordseeölsorte Brent ist seit Jahresbeginn um rund 70 Prozent gesunken. Obwohl sich Russland und Saudi-Arabien im Rahmen der OPEC+ am 12. April auf deutliche Produktionseinschränkungen einigten, fiel der Brent-Preis gut eine Woche später am 21.04. zum ersten Mal seit 18 Jahren unter 20 Dollar.

Laut der folgenden Abbildung des Forschungsinstituts BOFIT der finnischen Zentralbank ist der Preis für russisches Urals-Öl (blaue Linie, linke Skala) noch stärker als der Brent-Preis gesunken. Das zeigt die rote Linie in der Abbildung. Während am Jahresbeginn die Differenz zwischen dem Urals-Preis und dem Brent-Preis noch leicht positiv war (rote Linie; rechte Skala), der Urals-Preis also geringfügig höher war als der Brent Preis, unterschritt der Urals-Preis zum letzten von BOFIT erfassten Zeitpunkt den Brent-Preis um rund 8 Dollar/Barrel.

Quelle: BOFIT, Bank of Finland: New OPEC+ agreement on oil production ceilings fails to calm markets; BOFIT weekly; 24.04.2020

Inzwischen hat sich der Urals-Preis aber dem Brent-Preis wieder stark genähert. Das zeigen jedenfalls Charts zur Entwicklung der Preisdifferenz von Brent- und Urals-Öl der Seite neste.com. Danach war der Urals-Preis am 24. April im Durchschnitt der letzten 5 Tage mit 13,29 US-Dollar/Barrel nur noch 0,78 Dollar niedriger als der Brent-Preis. Zuvor war der Preisrückstand von Urals-Öl gegenüber Brent im 5-Tages-Durchschnitt bis zum 08. April auf 5,15 Dollar/Barrel gestiegen. Wie verletzlich die russische Wirtschaft durch einen Rückgang der Ölpreise trotz aller Bemühungen um eine stärkere Diversifizierung der Wirtschaft noch ist, hat die Londoner EBRD kürzlich beschrieben (EBRD: Regional Economic Prospects, April 2020: PDF: Covid-19 – from shock to recovery; Box 3: How vulnerable is Russia’s economy to lower oil prices?; mit Slides; 08.04.2020).

Preis für WTI-Terminkontrakt wurde negativ

Aufsehen erregte in der letzten Woche vor allem die Preisentwicklung am US-Terminmarkt für die Sorte „West Texas Intermediate“ (WTI). Am 20. April rutschte der Preis für die Lieferung im Mai für kurze Zeit deutlich ins Minus. Den Käufern mußte ür die Abnahme des Öls Geld bezahlt werden. Hintergrund für den Druck auf die WTI-Preise ist, dass es derzeit in den USA wegen der gesunkenen Nachfrage kaum noch Lagermöglichkeiten für Öl gibt.

Der Tagesspiegel ließ sich das Phänomen von einer Expertin erklären:

„Was gestern passiert ist an der Terminbörse hat vor allem technische Ursachen“, sagt die Ölmarktexpertin Dora Borbely von der Fondsgesellschaft Deka am Dienstag. Kein Spekulant will Papiere im Depot haben, die ihn zu einem bestimmten Termin und Preis im Mai zum Kauf von Öl verpflichten.

Die entsprechenden Terminkontrakte gerieten in den letzten Stunden des auslaufenden Kontraktes unter Druck und stürzten ins Minus, weil Handelsautomatismen griffen: Wenn bestimmte Kursniveaus unterschritten werden, verkaufen Computerprogramm automatisch die Wertpapiere. Und so fiel der Öl-Terminkontrakt für Mai am Montag bei einem insgesamt dünnen Marktvolumen bis auf ein Minus von gut 40 Dollar.

Das sei indes eher eine Momentaufnahme, meint Borbely: „Der Juni-Kontrakt war die ganze Zeit stabil um die 20 Dollar.“

Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Professor Gabriel Felbermayr, äußerte sich in einem Interview mit NDR info zur Entwicklung auf dem US-Ölmarkt (Minute 17 bis 25). Auch in Folge 6 der NDR Info-Sendung „Wirtschaft in Zeiten von Corona“ wurde ausführlich zu den „negativen“ Ölpreisen berichtet (Minute 3:50 bis 13:00).

Russlands Leistungsbilanzüberschuss sank im 1. Quartal bereits deutlich

Bereits im ersten Vierteljahr 2020 hinterließ der Rückgang der Ölpreise tiefe Spuren in Russlands Zahlungsbilanz, wie ein weiterer BOFIT-Bericht in der jüngsten Ausgabe von „BOFIT weekly“ zeigt. Der Wert der Öl- und Gasexporte verringerte sich um rund ein Viertel. Dazu trug neben den niedrigeren Preisen auch der Rückgang der exportierten Mengen bei.

Der Einbruch der Einnahmen aus Energieexporten konnte durch einen Anstieg der Einnahmen aus der Ausfuhr anderer Waren um rund 2 Prozent bei weitem nicht ausgeglichen werden. Wegen der Reisebeschränkungen verringerten sich außerdem Russlands Exporterlöse im Tourismusgeschäft um 27 Prozent.

Insgesamt waren die Ausfuhrerlöse Russlands in der Handels- und Dienstleistungsbilanz im ersten Quartal 2020 mit rund 100 Milliarden US-Dollar rund 13 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Importiert wurden gleichzeitig Waren und Dienstleistungen im Wert von 74 Milliarden US-Dollar (rund – 1 Prozent gegenüber dem ersten Quartal 2019).

Russlands Überschuss in der Leistungsbilanz verminderte sich im ersten Vierteljahr deutlich auf rund 22 Milliarden US-Dollar.

Zentralbank: Leistungsbilanz wird im Jahr 2020 defizitär

Die Zentralbank erwartet in ihrer neuen mittelfristigen Prognose im Basisszenario, dass sich der Saldo der russischen Leistungsbilanz („current account“) im Jahr 2020 bei einem Rückgang des Urals-Ölpreises um rund 58 Prozent auf 27 Dollar/Barrel um rund 100 Milliarden Dollar verschlechtert. Statt des 2019 verzeichneten Überschusses in Höhe von 65 Milliarden Dollar dürfte die Leistungsbilanz ein Defizit von 35 Milliarden Dollar aufweisen.

Erst im Jahr 2022 erwartet die Zentralbank bei einem sich langsam erholenden Ölpreis (2021: 35 Dollar/Barrel; 2022: 45 Dollar/Barrel) wieder einen kleinen Überschuss in der Leistungsbilanz (5 Milliarden Dollar).

Indikatoren der Entwicklung der Leistungsbilanz Russlands; Basisszenario

Quelle: Zentralbank: Medium-Term Forecast; 24.04.2020; Ausschnitt

TV-Tipp: Wie lassen sich die Risiken minimieren?

Der Fernsehsender „Russia TV“ sendete am 25. April das Feature: „Dangerous Virus. Economics“: How to minimize the consequences of a pandemic? von Naila Asker-Zade. Die Sendung enthält auch Auszüge aus Interviews mit Wirtschaftsminister Maxim Reshetnikov und seinem Vorgänger Maxim Oreshkin (jetzt Wirtschaftsberater Präsident Putins), mit Rechnungshof-Präsident Alexei Kudrin, Finanzminister Siluanov und mit dem Sberbank-Vorstandsvorsitzenden German Gref, der sich zuvor auch in einem langen Lenta.ru-Gespräch mit dem Vorsitzenden des Duma-Finanzausschusses, Andrei Makorov, zur Corona-Krise geäußert hatte (“In this crisis, we have a unique chance to change”; lenta.ru, 21.04.2020).

Die Video-Seite zum Thema Wirtschaft von Vesti.ru bietet u.a. Links zu den Langfassungen der Interviews mit Kudrin („Now we review forecasts every two weeks“; 27 Min.), Oreshkin („Oreshkin predicted a review of the entire system of international relations“; 12 Min.) und Siluanov („Price storm and airbag“; 17 Min.). Weit

Kudrin senkte seine Prognosen zum diesjährigen Wirtschaftswachstum in dem Gespräch weiter. Er meint jetzt, die Produktion der russischen Wirtschaft werde in diesem Jahr wohl um 6 bis 8 Prozent sinken. Das berichtet auch rbc.ru.

Titelbild
Titelbild: AAndrey Chertolyas / Unsplash.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Coronavirus in Russland: Liveticker und Presseschau; Russland-Analysen

Coronavirus: Informationen von AHK, GTAI, OAOEV

Coronavirus: Regierung und Zentralbank zu Russlands „Corona-Politik“

Zentralbank senkt Leitzins auf 5,5 Prozent und veröffentlicht neue mittelfristige Prognosen:

Russlands Industrieproduktion im März und im ersten Quartal 2020

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte

Coronavirus und Konjunktur in Russland und weltweit

Ölpreiseinbruch und Konjunktur in Russland und weltweit

Zahlungsbilanzentwicklung im ersten Quartal 2020

Verbraucherpreisentwicklung im März

Konjunktur im Februar; Monatsberichte von Zentralbank, Wirtschaftsministerium und Rosstat

Zentralbank: „What the trends say“; Bericht der volkswirtschaftlichen Abteilung

Zentralbank: Präsentationen für Investoren in Englisch