Kritik an Russlands Wirtschaftspolitik – Top-Ökonomen schlagen Wege aus der Krise vor

Viel Kritik an Russlands Wirtschaftspolitik – Top-Ökonomen schlagen Wege aus der Krise vor

Wie stark wirkt sich die Corona-Krise auf Russlands Wirtschaft aus? Und was kann die Politik dagegen tun? Unser Analyst hat Stimmen und Daten zusammengetragen.

Um 5,5 Prozent wird Russlands Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr voraussichtlich schrumpfen. Diese Prognose verkündete der Internationale Währungsfonds vor einer Woche in seinem Weltwirtschaftsausblick. Im Januar hatte der IWF noch ein Wachstum der russischen Wirtschaft von 1,9 Prozent im Jahr 2020 erwartet.

Dass der Produktionseinbruch der russischen Wirtschaft über 5 Prozent erreichen dürfte, erwarteten bisher nur wenige Experten. Eine Umfrage der Moskauer „Higher School of Economics“ erbrachte noch wenige Tage zuvor, dass Analysten und Institute für Russland im Durchschnitt mit einer Rezession um 2 Prozent rechneten. Auch Zentralbankpräsidentin Nabiullina deutete lediglich vorsichtig die Möglichkeit an, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Jahr sinken könnte.

Eine Rezession wird es geben – Aber wie tief wird sie?

Wie groß aktuell die Unsicherheit über die weitere Entwicklung ist, zeigen auch die fast gleichzeitig mit dem IWF-Ausblick veröffentlichten Prognosen der italienischen Großbank Unicredit und des OPEC-Sekretariats. Während im monatlichen Ölmarktbericht der OPEC nur mit einem leichten Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 0,5 Prozent gerechnet wird, geht Unicredit von einem fast ebenso starken Einbruch der Wirtschaft aus (– 5,4 Prozent) wie der IWF.

Wachstumsprognosen 2019 bis 2021
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

      
201920202021
OPEC, Wien04/16/20201.4-0.5
Unicredit/BankAustria, Mailand04/15/20201.3-5.43.8
Internationaler Währungsfonds04/14/20201.3-5.53.5
Nordea, Basis-Szenario04/10/20201.3-3.53.6
HSE-Umfrage am 06./07. April04/09/20201.3-22.3
Vnesheconombank Institut04/09/20201.3-3.84.8
Commerzbank, Frankfurt04/09/20201.3-21.1
Economist Intelligence Unit04/09/20201.3- 2.61.8
Weltbank; Datenstand 23.03.202004/09/20201.3-11.6
ING Bank, Amsterdam04/08/20201.3-2.52
Scope Rating, Berlin04/08/20201.3-3.32.3
Gemeinschaftsdiagnose, dt. Institute.04/08/20201.2-1.10
FocusEconomics
Consensus Forecast
04/07/20201.3-1.42.3
Citibank04/07/20201.3-4.2
Berenberg Bank, Hamburg04/06/20201-32.5
J.P. Morgan04/04/20201.3-44.5
DekaBank, Frankfurt04/03/20201.3-1.82.6
Fitch Ratings04/02/20201.3-1.42.2
Rosstat; zweite Schätzung BIP 201904/01/20201.3
Reuters-Umfrage03/31/2020-0.3
Russische Zentralbank,
Basisszenario
02/07/20201.3
Urals 64 $/b
1,5 bis 2,0
Urals 55 $/b
1,5 bis 2,5
Urals 50 $/b
Wirtschaftsministerium; Entwurf laut Interfax01/31/20201.4
Urals 63,8 $/b
1.9
Urals 57,7 $/b
3.1
Urals 56,0 $/b

Die angekündigte Aktualisierung der Konjunkturprognosen der russischen Regierung dürfte vermutlich noch in dieser Woche erfolgen. Die Zentralbank will am 24. April anlässlich ihrer Leitzinsentscheidung neue mittelfristige Prognosen vorlegen.

Putin kündigte weitere Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft an

Staatspräsident Putin wies in einer Videokonferenz mit Regierungsmitgliedern zu Wirtschaftsfragen am 14. April auf die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Unterstützung der Unternehmen hin. Ganz offensichtlich sei die russische Wirtschaft – wie die Wirtschaft in anderen Ländern – durch die Virus-Epidemie einer schweren Belastung ausgesetzt. Viele Handels- und Kooperationsketten seien gestört. Die Geschäftsaktivitäten und der Arbeitsmarkt litten unter der Epidemie.

Putin nannte Anzeichen für einen deutlichen Abschwung der Wirtschaft. Die Nachfrage gehe zurück. Der Einzelhandelsumsatz sei im April um mehr als 35 Prozent gesunken. Der Stromverbrauch sei in den ersten 12 Apriltagen um 5 Prozent im Vorjahresvergleich zurückgegangen. Die Kreditvergabe an Unternehmen sei zum Stillstand gekommen. Das bedeute, viele Unternehmen schöben Investitionen auf. In der ersten April-Woche habe es auch einen scharfen Rückgang bei der Vergabe von Hypothekendarlehen gegeben.

Der Präsident stellte heraus, die Regierung habe zwar schon eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft beschlossen. Sie würden derzeit umgesetzt. Die aktuellen Herausforderungen machten jedoch zusätzliche Maßnahmen erforderlich.

Am 15. April teilte Putin in einer Besprechung mit Regierungsmitgliedern mit, welche weiteren Maßnahmen geplant sind. Die AHK Russland berichtete in ihrem Live-Ticker zur Corona-Krise dazu unter anderem:

  • Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) aus den betroffenen Branchen sollen direkte Finanzhilfen bekommen, um die Gehälter im April und im Mai zahlen zu können.
  • Die einzige Bedingung: Die Unternehmen müssen mindestens 90 Prozent ihrer Personalstärke vom 1. April behalten. Die Hilfen können schon ab Anfang Mai beantragt werden. Die Höhe richtet sich nach der Personalstärke und beträgt 12.130 Rubel pro Kopf im Monat.  
  • Darüber hinaus soll die Vergabe zinsloser Kredite für die Weiterzahlung der Gehälter ausgeweitet werden. Um den Zugang dazu zu erleichtern, soll die staatliche Vnesheconombank (VEB) für 75 Prozent solcher Kredite bürgen.
  • Auch die Liste der systemrelevanten Unternehmen soll erweitert werden. Die auf dieser Liste stehenden Unternehmen sollen günstige Kredite zur Auffüllung der Umlaufmittel bekommen. Der Staat wird die Kredite für die systemrelevanten Unternehmen in Höhe des Leitzinses subventionieren und für 50 Prozent der Summe bürgen.
  • Mehr als 23 Milliarden Rubel sollen für die Unterstützung der Fluggesellschaften bereitgestellt werden.
  • Der Nicht-Lebensmittel-Einzelhandel soll auf die Liste der von der Pandemie besonders schwer betroffenen Branchen gesetzt werden.

Erste Maßnahmen, um die Ausbreitung der Virus-Krankheit einzudämmen, hatte der Staatspräsident in einer „Rede an die Nation“ am 25 März angekündigt, Dazu gehörte unter anderem eine arbeitsfreie Woche mit Lohnfortzahlung.

Am 2. April verlängerte Ptuin die arbeitsfreie Zeit bis zum 30. April (siehe AHK Russland: Zusammenfassung der Maßnahmen). Am 8. April schlug der Präsident weitere Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise vor (Zusammenfassung der AHK).

AHK-Umfrage: „Corona-Wirtschaftspolitik“ ist unzureichend

Eine am 16. April veröffentlichte Umfrage der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer unter ihren mehr als 900 Mitgliedsunternehmen ergab, dass 85 Prozent der Firmen die Maßnahmen der Regierung zur Stützung der russischen Wirtschaft für „unzureichend“ halten.

58 Prozent gaben an, dass sie insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen auf mehr Subventionen und Kredite hoffen.

Bemängelt wurden unter anderem auch die Einreisebeschränkungen. 41 Prozent der Unternehmen wünschen ihre Aufhebung für hochqualifizierte Ausländer.

Auch prominente Ökonomen fordern mehr Hilfe von der Regierung

Eine Gruppe führender russischer Wirtschaftswissenschaftler hält ebenfalls insbesondere die bisherigen Maßnahmen der Regierung zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen bei weitem nicht für ausreichend. Das läßt sich dem Einleitungskapitel eines in der letzten Woche erschienenen Sammelbandes der gemeinnützigen wissenschaftlichen Stiftung „Liberale Mission“ entnehmen.

Die Wissenschaftler stellen heraus, dass die Ausgaben für die von der Regierung bisher angekündigten Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise insgesamt nur rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Sie halten es für erforderlich, dafür mindestens 4 Prozent des BIP auszugeben. In einem „radikalen Szenario“ könne es sogar erforderlich werden, die vorgesehenen Ausgaben zur Stimulierung der Nachfrage auf 9 bis 10 Prozent des BIP zu vervierfachen.

Kirill Rogoff, stellvertretender Präsident der Stiftung, konnte als Autoren für den Sammelband sehr bekannte russische Wissenschaftler gewinnen

Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes:

Coronacrisis 2020: what will happen and what to do

Einleitung: Development Scenarios and Economic Policy Measures

Beiträge für den Sammelband:


Szenarien für Russland und die Weltwirtschaft bis 2021

m Einleitungskapitel umreißen die Autoren die mögliche Entwicklung des Wachstums der russischen Wirtschaft und der Weltwirtschaft mit drei Szenarien.

Consensus forecast of the authors

OptimisticModeratePessimistic
  H1-2020 2020 2021 H1-2020 2020 2021 H1-2020 2020 2021
Oil ($ / bbl) 31 40 49 24 31 42 19 24 31
World economy, growth (%) -0.9 0.7 3.4 -2.2 -1.9 2.7 -3.7 -3.7 1.6
Russian economy, growth (%) -4.2 -3.7 2.3 -5.3 -5.7 1.3 -7.5 -8.6 -0.6

Im „optimistischen“ Szenario sinkt das russische Bruttoinlandsprodukts 2020 um 3,7 Prozent. Dabei wird von einem schwachen Wachstum der Weltwirtschaft ausgegangen (+ 0,7 Prozent), während der IWF jetzt schon eine weltweite Rezession erwartet (-3,0 Prozent).

Im „moderaten“ Szenario gehen die Autoren für die russische Wirtschaft mit – 5,7 Prozent von einem ähnlich starken Rückgang der diesjährigen Produktion aus wie der Internationale Währungsfonds (- 5,5 Prozent). 2021 erwarten sie aber eine erheblich schwächere Erholung (+ 1,3 Prozent) als der IWF (+ 3,5 Prozent).

Im „pessimistischen“ Szenario erwarten die Autoren in Russland 2020 eine Rezession um 8,6 Prozent und weltweit einen Produktionsrückgang um 3,7 Prozent.

Auch Wissenschaftler fordern Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen

Kirill Rogoff erläuterte die Szenarien und die Vorschläge der Autoren zur Wirtschaftspolitik in der Corona-Krise auch in einem RTVI-Interview (Video; 6 Min.).

Das „optimistische“ Szenario, das von einem Wachstum der Weltwirtschaft um 0,7 Prozent und einem Ölpreis von 40 Dollar/Barrel im Jahresdurchschnitt ausgeht, hält er für eher unwahrscheinlich.

Er unterstreicht auch im Interview, dass es vor allem darauf ankomme, die staatlichen Hilfen sehr gezielt einzusetzen. Sie sollten vor allem kleinen und mittleren Unternehmen zugute kommen. Die Bevölkerung solle auch direkte Einkommenshilfen erhalten, damit die Nachfrage aufrechterhalten werden könne.

Behandelt wird von den Autoren in den Beiträgen unter anderem auch die Frage, in welchem Maße zur Finanzierung von Ausgaben auf die im „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ gesparten Reserven zugegriffen werden soll. Einige meinen, rund die Hälfte des Fonds  sollte in diesem Jahr ausgegeben werden (4 Prozent des BIP). Vorgeschlagen wird auch, die Mittel des Fonds für direkte Zahlungen an die Bevölkerung zu verwenden.

Sergey Guriev, Professor an der Pariser Hochschule Sciences Po, meint in seinem Beitrag zum Beispiel, jeder Bürger solle während der Quarantänezeit monatlich 20.000 Rubel vom Staat erhalten (rund 275 $). Kleine Unternehmen sollten denselben Betrag je Beschäftigten als Lohnkostenhilfe bekommen. Diese Ausgaben könnten mit Hilfe des Nationalen Wohlfahrtsfonds finanziert werden.

Einig sind sich die Wissenschaftler, dass sich der russische Staat zur Bekämpfung der Krise verschulden müsse. Die Staatsanleihen sollten von der Zentralbank aufgekauft werden („quantitative easing“). Angesichts des schockartigen Rückgangs  der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage hätte dies keine inflationstreibende Wirkung.

So stellt sich Unicredit die Überwindung der Krise vor

Die Analysten der italienischen Großbank Unicredit gehören zu den „Optimisten“, die zwar in Russland mit einer tiefen Rezession in der Corona-Krise rechnen, aber gleichzeitig auch eine relativ schnelle Erholung für wahrscheinlich halten. Auch sie erwarten aber nicht, dass der Rückschlag der Rezession schon 2021 vollständig aufgeholt werden kann. Ihre Prognosen für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (2020: – 5,4 Prozent; 2021: + 3,8 Prozent) entsprechen weitgehend denen des IWF (2020: – 5,5 Prozent; 2021: + 3,5 Prozent.

Unicredit rechnet damit, dass die in Russland angeordneten strikten  Quarantänemaßnahmen es möglich machen, die Einschränkungen der Produktion durch Schutzmaßnahmen auf das zweite Quartal 2020 zu begrenzen. Die Erholung der Produktion werde außerdem durch fiskalische Impulse gefördert werden können. So erwartet Unicredit, dass der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 16,7 Prozent im Jahr 2019 auf 18,7 Prozent im Jahr 2020 steigt.

Im jüngsten Bericht „CEE-Quarterly“ der Unicredit, der wohl bis Ende April auch in deutscher Übersetzung bei „Bank Austria“ erscheinen wird, ist die voraussichtliche Entwicklung der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts in folgender Abbildung dargestellt:

Wachstum des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent (rote Linie)
Beiträge der Verwendungsbereiche zum Wachstum in Prozentpunkten

Artem Arkhipov, Ariel Chernyy; Unicredit: CEE Quarterly; Russia: Aperfect storm to test macroeconomic stability; 15.04.2020

Wie stark die Veränderung der Anlageinvestionen („Fixed Capital Formation“; rote Säulenteile) zum Rückgang der Bruttoinlandsprodukts und seiner Erholung beitragen dürfte, ist in der Abbildung allerdings nur teilweise erfasst. Unicredit erwartet, dass die Anlageinvestitionen 2020 um 15 Prozent sinken und sich 2021 um 11 Prozent erholen. Der Private Verbrauch (dunkelgrauer Säulenteil) dürfte 2020 um 6,5 Prozent zurückgehen. 2021 wird dieser Rückschlag wohl nur rund zur Hälfte aufgeholt (+ 3,5 Prozent).

Vom öffentlichen Verbrauch, der 2020 um lediglich 2,0 Prozent zunehmen dürfte, erwartet Unicredit 2020 nur einen geringen Beitrag zur Stabilisierung des Bruttoinlandsprodukts (hellgrauer Säulenteil). 2021 wird der öffentliche Verbrauch noch schwächer ausgedehnt werden (+ 1,5 Prozent).

Titelbild
Titelbild: Wohnblock in St. Petersburg. Quelle: Ilya Mirnyy / Unsplash.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Coronavirus in Russland: Liveticker und Presseschau; Russland-Analysen

Coronavirus: Informationen von AHK, GTAI, OAOEV

Coronavirus: Regierung und Zentralbank zu Russlands „Corona-Politik“

Wissenschaftler zur Corona-Krise und zu Maßnahmen der Regierung

Coronavirus und Konjunktur in Russland und weltweit

Ölpreiseinbruch und Finanzmarktchrash

Coraonavirus und internationale Konjunkturentwicklung

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte

Verbraucherpreisentwicklung im März

Konjunktur im Februar; Monatsberichte von Zentralbank, Wirtschaftsministerium und Rosstat

Wirtschaftswachstum im 4. Quartal 2019 und im Jahr 2019

Zentralbank: „What the trends say“; Bericht der volkswirtschaftlichen Abteilung

Zentralbank: Präsentationen für Investoren in Englisch

Politisches Umfeld