Analyse: Russlands Wirtschaftspolitik nach dem SPIEF

Russlands Wirtschaftspolitik nach dem SPIEF: Putin legt sich noch nicht fest – Die Reformdebatte geht weiter

„Putin lässt die Russen weiter im Ungewissen über die Pläne zur Reform der Wirtschaft“. So überschrieb die Nachrichtenagentur Reuters ihren Bericht zur Rede von Präsident Putin auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg am letzten Freitag. Und Benjamin Bidder notierte in Spiegel-Online, das Wort „Reform“ sei in Putins Rede kein einziges Mal vorgekommen. Der Präsident rückte stattdessen den Aufschwung der russischen Konjunktur, den kräftig gestiegenen Zustrom ausländischer Investitionen sowie die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung in den Vordergrund seiner Rede (Ostexperte.de berichtete).

Rohstofflastiges Wachstumskonzept funktioniert nicht mehr

Putin wiederholte sein Ziel, dass die russische Wirtschaft bald wieder schneller als die Weltwirtschaft wachsen soll. Die Wachstumsflaute soll überwunden werden. Schon lange vor dem 2014 einsetzenden Einbruch der Ölpreise war der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion ständig kleiner geworden. Es zeigte sich, dass die rohstofflastige russische Wirtschaft viel stärker diversifiziert werden muss, wenn wieder mehr Wachstum erzielt werden soll.

9 aufschlussreiche Grafiken zur russischen Wirtschaft finden Sie hier:
Benjamin Bidder: Putins Wirtschaftsbilanz: Boom, Absturz – und nun?; Spiegel, 02.06.2017

Kudrin und Titow präsentierten Putin konkurrierende Reformvorschläge

Um Russland aus der Wachstumsflaute zu holen, hatte der Präsident Mitte 2016 Alexei Kudrin, den früheren Finanzminister und jetzigen Leiter des Centre for Strategic Research, beauftragt, ein Konzept für Reformen zur Belebung des Wachstums zu entwickeln. Darum bat er gleichzeitig auch den Unternehmer und Politiker Boris Titow, den er 2012 zu seinem „Bevollmächtigten für Unternehmerrechte“ ernannt hatte.

Titow präsentierte seine „Wachstumsstrategie“ Ende März auf dem „Moscow Economic Forum“. Seine in Zusammenarbeit mit Forschungsinstituten und Wirtschaftsverbänden erarbeitete Strategie war als „Mittelfristiges Programm der sozio-ökonomischen Entwicklung bis 2025“ Ende Februar erstmals veröffentlicht worden.

Kudrin hat die Grundzüge seiner Vorschläge auch längst auf vielen Wirtschaftsforen vorgestellt, unter anderem auf der April-Konferenz der Higher School of Economics (ПЕРСПЕКТИВЫ РОСТА РОССИЙСКОЙ ЭКОНОМИКИ; Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft).

Am 31. Mai trugen Kudrin und Titow ihre Vorschläge dem Präsidenten vor (CSR-Bericht). Laut Wedomosti sollen die Vorschläge in einem gemeinsamen Konzept zusammengeführt werden. Im Juni und Juli seien dazu weitere Beratungen vorgesehen. Teile der gemeinsamen Strategie sollen dann noch vor den Präsidentenwahlen im nächsten März veröffentlicht werden.

Zu den Zielen der Reformen äußerte sich Putin vor der Diskussion der Vorschläge von Kudrin und Titow nur recht allgemein. Er nannte erneut eine Verbesserung des Geschäftsklimas und der Wettbewerbsfähigkeit der russischen Wirtschaft. Die Arbeitsproduktivität müsse erhöht und die Rendite von Investitionen gesteigert werden. Kleine und mittlere Unternehmen seien zu fördern. Der Warenexport außerhalb des Energiebereichs müsse ausgebaut, neue Wachstumsquellen in den Regionen erschlossen werden.

Unterschiedliche Konzepte: Kudrin will vor allem bessere Rahmenbedingungen für mehr Wachstum, Titow eine aktivere Konjunkturpolitik mit „mehr Keynes“

Die Verhandlungen über einen gemeinsamen Reformplan dürften nicht einfach werden. Die bisherigen Konzepte von Kudrin und Titow zur Steuerung der Konjunktur und zur Belebung des Wachstums unterscheiden sich deutlich.

Kudrin unterstützt die auf einen raschen Abbau der Inflationsrate gerichtete Geldpolitik von Zentralbankpräsidentin Nabiullina und die von Finanzminister Siluanow geplante schnelle Verringerung des Haushaltsdefizits prinzipiell. Seine Vorschläge zielen vor allem auf die Herstellung besserer Rahmenbedingungen für mehr Wachstum.

Titow plädiert für eine weniger „orthodoxe“ Konjunktur- und Wachstumspolitik. Die Geldpolitik soll gelockert, die Zinsen rascher gesenkt werden. Titow will mit staatlichen Konjunkturprogrammen die Wirtschaft ankurbeln. Das Haushaltsdefizit kann seiner Meinung nach langsamer als vorgesehen abgebaut werden.

Wladimir Korowkin, Wirtschaftswissenschaftler an der Skolkovo School of Management, hat in der russischen Zeitschrift „Republic“ im März die Konzepte wie folgt verglichen:

Das Programm des Stolypin-Klubs arbeitet mit dem ganzen Instrumentarium der Jünger Keynes’: Es verweist auf die Notwendigkeit, Nachfrage zu schaffen, es erkennt an, dass zu diesem Zweck Staatsverschuldung möglich und nützlich ist, es erwähnt den „Multiplikator-Effekt“, bei dem jeder staatliche Rubel vier bis fünf Rubel privater Investitionen nach sich zieht.

Kudrins Programm konzentriert sich auf die „makroökonomische Stabilität“, also vor allem auf eine niedrige Inflation. In der Tradition der klassischen Wirtschaftstheorie ist für Kudrin eine hohe Inflation die Folge zu starker staatlicher Einmischung und der Hauptfeind von Wirtschaftswachstum, da sie Anreize für langfristige Investitionen untergräbt.

Aktueller Streit über Geldpolitik

Noch kurz vor dem SPIEF heizte Kudrin den Konflikt mit Titow mit einem Kommersant-Artikel zur Geldpolitik an. Er verwies – ohne Titow explizit als Adressaten zu nennen – auf „fünf gefährliche Mythen der Geldpolitik“ (Пять опасных мифов).

Seine Kritik an der von Titow geforderten „stimulierenden Geldpolitik“ untermauerte er mit einem von ihm gemeinsam mit zwei anderen Autoren in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichten Artikel (Стимулирующая денежно-кредитная политика: мифы и реальность; Stimulierende Geldpolitik: Mythos und Realität).

Titow wies die Kritik schon am nächsten Tag in der russischen Forbes-Ausgabe zurück (Развенчание «мифов»: Борис Титов ответил Алексею Кудрину через Forbes; „Mythen“ entlarven: Boris Titow antwortet Alexei Kudrin in Forbes; Forbes.ru, 23.05.2017).

Gemeinsamkeiten in der Ordnungspolitik

Allerdings sieht Korowkin auch überraschend viele Gemeinsamkeiten in den Programmen: „Hier wie dort wird eine grundlegende Verbesserung des Rechtssystems in den Fokus gestellt. Hier wie dort wird von der Notwendigkeit gesprochen, das Unternehmertum stärker zu entwickeln und die Steuerlast sowie den bürokratischen Druck zu senken.“

In beiden Programmen werde daran erinnert, dass nur die Privatwirtschaft zu einem Zugpferd für Wachstum werden kann und der Einfluss des Staates auf den Wirtschaftsprozess durch unmittelbare und mittelbare Beteiligungen viel zu hoch sei.

„Alles nur Schau“?

Man kann aus der regen Reformdebatte in Russland den Eindruck gewinnen, dass sich zwischen den „System-Liberalen“ mit ihrem Protagonisten Kudrin und dem „Stolypin-Klub“, in dem Titow Gleichgesinnte versammelt hat, eine sehr lebendige demokratische Streitkultur entwickelt hat.

Andere sehen allerdings im Vorgehen Putins, verschiedene Gruppen mit der Vorlage von Wachstumskonzepten zu beauftragen, eher einen „Schaukampf“, der auch für ausländische Investoren inszeniert wird. So meint Maria Domanska, Mitarbeiterin des Warschauer Forschungsinstituts OSW, in einer Anfang März erschienen Studie („Crisis in Russia. The degradation of the model of economic governance“) die Reformdebatte in Russland sei „rein ritueller Natur“.

Ihre Intensivierung habe hauptsächlich eine politische Funktion. Die Öffentlichkeit solle überzeugt werden, dass die Politik der Regierung keine Ursache der Krise ist, sondern der Beseitigung wirtschaftlicher Probleme diene. Ziel der Debatte sei, mehr Glaubwürdigkeit für die „Pseudo-Reformpolitik“ des Kreml zu gewinnen.

Wer wird bei Putin Gehör finden?

Professor Philip Hanson (Associate Fellow des Royal Institute of International Affairs in London) hat schon vor knapp einem Jahr, als die Grundzüge der Konzepte bereits zur Diskussion standen, eine Prognose gewagt, welchen Vorschlägen Präsident Putin wohl eher folgen werde (Russia’s Global Strategy: Is It Economically Sustainable?). Er meint, Putin scheine in der Geld- und Finanzpolitik nicht den „populistischen“ Forderungen Titows zuzuneigen.

Das Stolypin-Programm finde zwar einige Unterstützung in Wirtschaftskreisen, die sicherlich niedrigere Zinsen begrüßen würden. Putin stehe aber hinter der Führung der Zentralbank, wenn Kritiker Zinssenkungen forderten. Wenn sich allerdings Veränderungsdruck „von unten“ aufbauen sollte, wäre eine Aufweichung der bisherigen klugen Makro-Politik wahrscheinlicher als radikale liberale Reformen.

Russlands Geld- und Finanzpolitik bleiben stabilitätsorientiert

Aus den Interviews, die Zentralbankpräsidentin Nabiullina und Finanzminister Siluanow beim SPIEF gaben, wird kein Kurswechsel ihrer Geld- und Finanzpolitik erkennbar. Priorität hat für Nabiullina weiterhin die Sicherung des inzwischen fast erreichten Inflationsziels von 4 Prozent. Wenn die Inflation bei 4 Prozent stabilisiert werde, könne der Leitzins auf 6,5 bis 6,75 Prozent gesenkt werden.

Auch der Finanzminister bleibt auf “Stabilitätskurs”. Siluanow rechnet damit, schon in diesem Jahr – schneller als im Haushaltsplan vorgesehen – das Defizit im Föderationshaushalt auf rund 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts senken zu können.

Chancen für liberale ordnungspolitische Reformen sind begrenzt

Eine Grenze für liberale Reformen machte Kreml-Sprecher Peskow allerdings sehr rasch klar. Als Kudrin bei einer SPIEF-Diskussion mit Zentralbankpräsidentin Nabiullina, Finanzminister Siluanow und Wirtschaftsminister Oreshkin eine „Entstaatlichung“ der russischen Ölindustrie in den nächsten sieben bis acht Jahren anregte, ließ Peskow sofort verlauten, die Regierung habe keine derartigen Pläne. Und Rosneft-Chef Igor Sechin meinte zu Privatisierungsforderungen in einem CNBC-Interview entrüstet:

“We work very hard,” … “They kept telling us that private companies operate in a more efficient manner. And I completely disagree with that . . . We obviously demonstrate that we are competitive. We can compete with any market players.”

Benjamin Triebe macht in seinem Kommentar in der NZZ wenig Hoffnung auf umfassende Reformen:

„Russlands grösstes Übel liegt in dem wuchernden Staatsapparat und der fehlenden Herrschaft des Rechts. Filz und ungleiche Spielregeln nähren Vetternwirtschaft und Seilschaften. Die Drangsalierung der Unternehmen durch willkürlich handelnde Behörden, durch Bürokratie und Korruption ist weiterhin stark. Diesen Problemen hat sich Putin bei aller Stabilitätspolitik auch in der nun beendeten, zweijährigen Rezession nie gewidmet. Die staatskapitalistische Elite, welche die Macht zur Durchsetzung von Reformen hat, sieht für sich keinen Vorteil durch Veränderungen und hat manches zu verlieren. Der Status quo und minimales Wirtschaftswachstum reichen zu ihrer Machterhaltung aus – sonst wären diese Reformen längst Realität.“

Quellen und Lesetipps zur wirtschaftspolitischen Diskussion in Russland:

 Interviews beim SPIEF mit Kudrin, Oreshkin, Nabiullina, Siluanow; Kommentar von Siluanow

Berichte und Kommentare zur wirtschaftspolitischen Diskussion beim SPIEF

Kudrin und Titow präsentieren ihre Reformpläne Präsident Putin

Kudrin und Titow streiten über „gefährliche Mythen“ der Geldpolitik

Studien zur russischen Wirtschaftspolitik: