„In den 1990ern war die Krim ein Fall von Konfliktprävention“

Exklusiv-Interview mit Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien

Prof. Dr. Gwendolyn Sasse ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS). Im Exklusiv-Interview mit Ostexperte.de spricht sie über Osteuropa-Forschung in Deutschland, die Halbinsel Krim in den 1990ern sowie die Lage in der Ostukraine.

ZOiSProf. Dr. Gwendolyn Sasse
Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) ist ein Forschungsinstitut mit Sitz in Berlin. Es hat im Oktober 2016 seine Arbeit aufgenommen und konzentriert sich auf Forschung zu  Osteuropa, Zentralasien und Kaukasus.

Die Gründung des ZOiS wurde 2015 im Deutschen Bundestag beschlossen. Das Auswärtige Amt finanziert das Institut, das von Prof. Dr. Gwendolyn Sasse als Wissenschaftliche Direktorin geleitet wird, zunächst mit 2,5 Millionen Euro pro Jahr.

Zu den Forschungschwerpunkten zählen bisher „Stabilität und Wandel von politischen Regimen“, „Konfliktdynamiken“ und „Migration“ mit Fokus auf Ukraine und Russland. Die Länder und Themen sollen in Zukunft ausgeweitet werden. 

Seit dem 1. Oktober 2016 ist Gwendolyn Sasse die Wissenschaftliche Direktorin des ZOiS.

Sie ist Professor of Comparative Politics im Department of Politics and International Relations und in der School of Interdisciplinary Area Studies an der Universität Oxford sowie Professorial Fellow am Nuffield College und Non-Resident Associate bei Carnegie Europe.


Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) konzentriert sich Eigenangaben zufolge auf mittelfristige gesellschaftsrelevante Forschung zu Osteuropa. Was bedeutet das für Sie?

Wir unterscheiden uns von Thinktanks, die stark auf Tagespolitik reagieren. Wir haben die Möglichkeit, langfristige Recherchen vor Ort zu realisieren. Wir beschäftigen uns mit gesellschaftlichen Themen, die eine große Breitenwirkung haben. Was genau relevant ist, könnte man natürlich lange diskutieren.

Es geht nicht nur um politikrelevante Forschung, die an Diskurse innerhalb von deutschen politischen Institutionen anknüpft, sondern auch um in der Region diskutierte Themen. Wir wollen die breite Öffentlichkeit für eine größere Bandbreite an Themen begeistern und neue Impulse setzen.

Zu welchen Themen forschen Sie aktuell?

Wir sind noch klein und fangen gerade an. Das Zentrum wurde im März offiziell eröffnet. Zunächst haben wir drei Themenschwerpunkte konzipiert. Der eine ist „Stabilität und Wandel von politischen Regimen“ mit Projekten aus der soziologischen, politiologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive. Ein weiterer Schwerpunkt sind „Konfliktdynamiken“.

Im Moment sehen wir uns in einem Umfrageprojekt Personen an, die vom Konflikt in der Ukraine betroffen sind. Das sind Geflüchtete und die Bevölkerung in den von Kiew kontrollierten Gebieten sowie in den besetzten Gebieten befinden. Der dritte Schwerpunkt ist „Migration“ zum Thema Osteuropa. Dabei betrachten wir, wie osteuropäische Migranten und Migrantinnen in Berlin vernetzt sind und welche transnationalen Verflechtungen sie haben.

Wie bestimmen Sie, welche Kriterien relevant für Ihre Forschung sind? Erfolgt dies auf Empfehlung der Bundesregierung?

[blockquote pull=”right” align=”left” attributed_to=”” attributed_to_url=”{{attributed_to_url}}”]”Wir machen keine Auftragsarbeit für das Auswärtige Amt.”[/blockquote]Das muss ich vielleicht klarstellen. Wir sind ein unabhängiges Forschungsinstitut. Was heißt das? Unsere Mittel sind, wie Sie sicher wissen, Regierungsgelder. Wir werden ausschließlich vom Auswärtigen Amt finanziert, sind aber in unserer Struktur, was die inhaltliche Konzeption angeht, unabhängig. Das heißt, wir machen keine Auftragsarbeit für das Auswärtige Amt. Wir hoffen, auch anderen Institutionen mit Osteuropaschwerpunkt, Medien, der Öffentlichkeit sowie der Wissenschaft Ergebnisse aus unserer Forschung zu vermitteln.

Die Gründung des ZOiS wurde 2015 vom Deutschen Bundestag beschlossen. Warum war diese Entscheidung notwendig? Gab es einen Mangel an Osteuropaforschung in Deutschland?

Im Koalitionsvertrag von 2013 wurde beschlossen, die Expertise zu Osteuropa zu stärken. Es hat zwei Jahre gedauert, bis der Beschluss durchging, dass es ein Institut werden soll. Der wichtige Impuls kam aus der Wissenschaft und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. In den 1990er-Jahren gab es in den Sozialwissenschaften viel mehr Lehrstühle zu Osteuropa. Es hat ein Abbau stattgefunden.

Der Bereich Osteuropäische Geschichte ist nach wie vor an deutschen Universitäten gut vertreten. Dann kam noch ein wichtiger politischer Impuls hinzu. Der Krieg in der Ostukraine und das angespannte Verhältnis zu Russland haben sicher dazu beigetragen, dass die Politik bemerkt hat, wie wichtig Osteuropa-Expertise ist.

Verstehe ich richtig, dass der Fokus Ihrer Forschung stark auf Ukraine und Russland liegt?

[blockquote pull=”right” align=”left” attributed_to=”” attributed_to_url=”{{attributed_to_url}}”]”Mir ist klar, dass man in Polen nicht mehr gerne als Osteuropa bezeichnet wird.”[/blockquote]Das hat sich so ergeben. Meine eigene Forschung bezog sich lange Zeit auf die Ukraine, aber häufig auch in vergleichender Perspektive. Auch Russland ist im Blick, das ist bei der jetzigen Lage klar. Die ersten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen haben zum Teil mit Russland-Themen angefangen, die sich mit Initiativen im Graubereich zwischen Staat und Zivilgesellschaft auseinandersetzen. Aber wir haben auch eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, die sich auf Zentralasien konzentriert; andere arbeiten vergleichend zu den Ländern im postsowjetischen Raum.

Es liegt mir sehr daran, Osteuropa flexibel und weit zu definieren. Dazu gehört auch der Kaukasus, dazu gehören auch Ost- und Mitteleuropa. Mir ist klar, dass man in Polen nicht mehr gerne als Osteuropa bezeichnet wird, aber unter dem Kunstbegriff Osteuropa möchte ich mir die geographische und thematische Freiheit erhalten, nicht nur zu einem Land zu arbeiten, sondern auch vergleichende Themen zu verfolgen.

Sie haben einen interessanten Hintergrund, u. a. die Universität Oxford sowie das Carnegie-Zentrum. Was können Sie unseren Lesern über Ihre persönlichen Forschungsinteressen verraten?

Im Moment habe ich mich von meiner Professur für Vergleichende Politikwissenschaft in Oxford beurlauben lassen. In meiner Arbeit habe ich mich insbesondere mit der Ukraine beschäftigt. Ich habe zu einer Krim-Thematik eine Promotion geschrieben. Aber das war die Krim in den 1990er-Jahren, wo sie noch ein Fall von Konfliktprävention war. Darauf aufbauend habe ich vergleichend zu ethnischen Konflikten gearbeitet, beispielsweise in der ehemaligen Sowjetunion und auf dem Balkan.

Zudem habe ich mich längere Zeit auf EU-Osterweiterung in Ost- und Mitteleuropa konzentriert. In den letzten 2-3 Jahren habe ich mich mehr mit Migration beschäftigt, aber stets mit Osteuropabezug im Grenzbereich von Politikwissenschaften, Ethnologie und internationalen Beziehungen.

Sie erklärten soeben, dass die Krim in den 1990er-Jahren ein Beispiel für Konfliktprävention war. Was genau meinen Sie damit?

In den 1990er-Jahren gab es auf der Krim alle Faktoren, die man normalerweise heranzieht, um einen Konflikt oder einen Krieg zu erklären – ethnische Vielfalt, historische Streitereien, territoriale Ansprüche, den Zerfall der Sowjetunion und die Schwarzmeerflotte direkt vor der Küste. Man hätte entweder einen internen oder einen internationalen Konflikt erwarten können.

Doch eine Mischung aus verschiedenen Faktoren hat dazu geführt, dass es gelungen ist, das Konfliktpotenzial zu entschärfen. Ich will dies nicht als Konzept verstanden sehen, das konsequent von der ukrainischen Regierung verfolgt wurde. Dennoch hat man es geschafft, das Konfliktpotenzial durch Verhandlungen in einen langwierigen Prozess umzuleiten, der in einer schwachen, aber immerhin verfassungsrechtlich verankerten Krim-Autonomie geendet ist.

Waren Sie von den Ereignissen in 2014 überrascht?

[blockquote pull=”right” align=”left” attributed_to=”” attributed_to_url=”{{attributed_to_url}}”]”Ich persönlich habe nicht damit gerechnet, dass die Krim 2014 annektiert wird.”[/blockquote]Die Krim spielt für Russland kulturell und politisch eine wichtige Rolle. Aber ich persönlich habe nicht damit gerechnet, dass die Krim 2014 annektiert wird. Der Diskurs verschiebt sich derzeit. In den Medien wurde am Anfang gesagt, die Annexion sei eine Völkerrechtsverletzung und die Grenzen müssten eingehalten werden. Inzwischen wird im Nachsatz gesagt, die Krim sei immer russisch gewesen und die Bevölkerung hätte eine Angliederung gewollt.

Aber wenn man genau hinsieht, dann ist das ein problematisches Argument. Es lässt die Ansprüche der krimtatarischen Bevölkerung völlig außen vor. Zudem ist es schwierig, Ansprüche historisch aufzurechnen. Außerdem gab es 2014 auf der Krim überhaupt keine Bemühungen, sich an Russland anschließen. Das gab es in den 1990ern, aber nicht jetzt. Die Krim war in Janukowitschs Ukraine politisch genauso eingebettet wie andere Regionen des Ostens.

Der AfD-Politiker Alexander Gauland sagte in einem Interview: „Wenn Menschen außerhalb der Landesgrenzen zurück zu Russland möchten, dann kann das nicht grundsätzlich falsch sein. (…) Das Einsammeln russischer Erde beruft sich auf eine alte, zaristische Tradition.“

Ja, das sind ähnliche Argumente. Da rechnet man auf, dass 200 Jahre zaristische Herrschaft auf einmal wichtiger sein sollen als die vorherige, mehrere Jahrhunderte dauernde krimtatarische Herrschaft. Aber wie bewertet man die Erfahrung der Deportation der Krim-Tataren unter Stalin? Oder die Tatsache, dass die Krim als Teil der Sowjetunion im Jahre 1954, nicht ganz so willkürlich, wie es immer dargestellt wird, unter Chruschtschow an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik gegangen ist.

Es ist eine sehr komplizierte Geschichte, aber im Endeffekt muss man alle Seiten mitdenken. Gleichzeitig gibt es internationales Völkerrecht, und dagegen hat Russland klar verstoßen. Und wie schon zuvor erwähnt, gab es 2014 auf der Krim keine Bestrebungen für eine Anbindung an Russland.

Woran könnte es Ihrer Meinung nach liegen, dass die Minsker Vereinbarungen bis heute nicht eingehalten werden?

Ich denke, es gibt keine Alternative zu Minsk II. Das wiederholen die beteiligten Seiten immer wieder, auch wenn es im Moment nur stockend oder gar nicht vorangeht. Es ist schon viel erreicht, wenn kurzzeitig ein Waffenstillstand hergestellt werden kann. Ohne den Minsker Prozess wäre der Krieg jedenfalls stärker eskaliert.

Es sieht so aus, als ob es demnächst wieder ein Gespräch auf höchster Ebene im Normandie-Format stattfinden soll. Stark umstritten sind die Kombination von Sicherheitsaspekten und politischen Institutionen und die Reihenfolge, in der die Punkte des Minsker Abkommens umgesetzt werden sollen. Im Moment gibt es keinerlei Einigung auf ukrainischer und russischer Seite.

Woran hakt es denn bei der Umsetzung?

[blockquote pull=”right” align=”left” attributed_to=”” attributed_to_url=”{{attributed_to_url}}”]”Es bleibt die Frage, ob es auf lokaler Ebene Möglichkeiten eines Kompromisses gibt, um Dinge auszuprobieren.”[/blockquote]Ein Hauptthema sind nach wie vor die lokalen Wahlen, die in den besetzten Gebieten nicht stattgefunden haben. Russland akzeptiert den Rahmen dieser Wahlen nicht. Die Ukraine möchte natürlich mit ukrainischen Parteien antreten. Es bleibt die Frage, ob es auf lokaler Ebene Möglichkeiten eines Kompromisses gibt, um Dinge auszuprobieren – und ob Freiräume geschaffen werden können, die lokale Wahlen in einem gesicherten Raum ermöglichen. Wenn das funktionieren sollte, könnte man auch eine Internationalisierung bei der Kontrolle der Konfliktregion erwägen, beispielsweise durch eine Aufwertung der Rolle der OSZE.

Es gab in den besetzten Donbass-Gebieten zahlreiche Berichte über Handelsblockaden, Zwangsenteignungen sowie Unterbrechungen der Strom- und Wasserversorgung. Wie dramatisch schätzen Sie die Lage derzeit ein?

Es ist schwierig, das im Detail zu beurteilen. Der Zugang zu den Regionen ist begrenzt. Wir erfahren nicht viel vom Leben der Menschen. Doch all die Dinge, die Sie nennen, haben stattgefunden. Es hat Zwangsenteignungen gegeben. Die Lage der Menschen vor Ort, auch von der Grundversorgung her, ist schlecht. Unsere ZOiS-Umfragen unter der Donbass-Bevölkerung im von Kiew kontrollierten Teil sowie in den besetzen Gebieten haben ergeben, dass die Menschen über Kriegsgrenzen hinweg weiterhin sehr viel Kontakt haben.

Die Lage ist punktuell dramatisch, und sie wird sich weiter verschlechtern. Die Ukraine hat die besetzen Gebiete blockiert. Von beiden Seiten werden weitere Fakten geschaffen. Der Abstand der Ukraine zu diesen Gebieten wird immer größer. Auf der anderen Seite ziehen von Russland gesteuerte Prozesse die Gebiete enger an Russland heran.

Inzwischen hat Russland die Pässe der selbsternannten Volksrepubliken anerkannt. Kann man die russische Aktivität in Luhansk und Donezk als „stille Annexion“ bezeichnen?

Viele dieser Dinge sehen so aus. Doch ich würde einen Unterschied machen. Ich glaube nach wie vor, dass das Hauptinteresse Russland darin liegt, diese Region instabil zu halten und damit den Reformprozess in der Ukraine zu erschweren. Es ist ein Unterschied, ob es um die Krim geht oder um Teile des Donbass, aber in der Praxis ist ein Prozess im Gange, der auf etwas Ähnliches hinauslaufen könnte.

Nämlich, dass ein Gebiet ausschließlich von Russland versorgt und kontrolliert wird. Aber dass Russland ein Interesse daran hätte, sich Teile oder weite Teile des Donbass einzuverleiben, wie es bei der Krim geschehen ist, sehe ich weder aus politischer noch aus finanzieller Sicht.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Prof. Dr. Sasse.

Dieses Interview führte Ostexperte.de-Chefredakteur Thorsten Gutmann.

Titelbild
Quelle: David Ausserhofer[/su_spoiler]