Gemischtes Doppel #47: Reformen, die schmerzen

Kolumne: Gemischtes Doppel #47 – Reformen, die schmerzen

Heute ist der 5. Juli 2017, willkommen beim Gemischten Doppel. Ukraine diskutiert mal wieder über eine kontroverse Reform. Diesmal geht es um die Medizin. Das Ziel ist eine “Revolution der Würde” in der Gesundheitsversorgung, doch der Weg dorthin wird schmerzhafter als gedacht.

Von Inga Pylypchuk, n-ost


Liebe Leserinnen und Leser,

wer zumindest ab und zu ukrainische Nachrichten schaut, weiß ganz bestimmt, wie wichtig dieses Wort für die Ukraine ist: Reformen. Reformen sind etwas, was das ukrainische Volk von seiner Regierung erwartet. Manchmal scheint es mir, der Glauben der Ukrainer an die „Reformen“ habe etwas beinahe Religiöses.

Wenn nur die Reformen erfolgreich sind, dann wird es dem Land endlich gut gehen! Diese Vorstellung hat offensichtlich auch die Europäische Union. Damit die Neuerungen verwirklicht werden, hat Brüssel bereits Milliarden Euro an die Ukraine überwiesen.

Ich muss mich gleich outen. Auch ich glaube an Reformen. Überhaupt keine Frage: Viele Dinge müssen sich ändern in der Ukraine, und zwar in fast allen Bereichen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass das Wort „Reformen“, gerade in diesem Plural, inzwischen ein elendes Abstraktum geworden ist. Umgeben von einem Heiligenschein, weit entfernt von der Realität. Noch immer scheinen nur wenige zu verstehen, was Reformen in der Praxis bedeuten: schmerzhafte Veränderungen.

Anpassung der ukrainischen Strompreise

Wollen sie ein aktuelles Beispiel? Den Wirtschaftsseiten der Zeitungen gilt die Anpassung der ukrainischen Strompreise an das Marktniveau als einer der größten Reformerfolge bisher. Für die Menschen bedeutet das hohe Stromrechnungen, die sie mit jedem Monat immer ängstlicher aus den Briefkästen fischen. Im Vergleich zum Jahr 2015 ist der Strompreis um das Dreieinhalbfache gestiegen. Die Löhne stiegen nur um 20 Prozent.

Oder nehmen wir die Medizin, einen der korruptesten Lebensbereiche in der Ukraine. Nur auf dem Papier ist die medizinische Versorgung kostenlos. In der Praxis erwartet fast jeder Arzt Geld im Briefumschlag, egal, ob es um eine Lungenentzündung oder eine Geburt geht.

Will man gute Behandlung, schmiert man. Niemand geht freiwillig in ein staatliches Krankenhaus. Dreckige Matratzen, stickige Luft, unfreundliche Ärzte – das sind die Markenzeichen der „kostenlosen Medizin.“

Gesundheitsreform

Nun soll eine Gesundheitsreform das ändern. Die Löhne der Ärzte sollen sich verdoppeln, die Patienten sollen besser versorgt werden. So will die Regierung Korruptionsanreize aus der Welt schaffen. Von einer „Revolution der Würde im Gesundheitswesen“ spricht Ukraines kommissarische Gesundheitsministerin Uljana Suprun. Sie hat die Reform initiiert.

Die Krux allerdings ist, dass sie eine obligatorische Krankenversicherung nach westeuropäischem Modell vorsieht. Dabei sollen bestimmte Leistungen der Krankenhäuser wie Zahnbehandlung offiziell kostenpflichtig werden. Für die Operationen in akuten Fällen soll der Staat die Kosten übernehmen, für die planmäßigen werden die Ausgaben zwischen dem Staat und dem Patienten geteilt.

Wie gangbar ist dieser Weg für die Ukraine, ein Land, in dem das durchschnittliche Monatsgehalt gerade einmal 200 Euro beträgt? Die Ukrainer sind gespalten. Viele, vor allem NGO-Aktivisten, unterstützen Supruns Vorhaben und erzählen von ihren schlechten Erfahrungen mit der ukrainischen Medizin unter dem Hashtag #вимагаю_медреформу (zu Deutsch: #verlange_eine_Medizinreform).

Skepsis gegenüber Reformen

Andere protestieren mit Parolen wie: „Die Medizinreform ist ein Genozid am ukrainischen Volk.“ Nicht unbegründet sind die Vermutungen, dass sich hinter den letzteren konkrete politische Interessen verbergen, dass einige Politiker die Reform einfach sabotieren. Und dennoch: Wie Straßenumfragen und Facebook-Kommentare zeigen, begegnen auch viele einfache Ukrainer dem Reformvorhaben mit einer gewissen Skepsis.

Im Ausland will man lieber nichts darüber wissen, wie die Reformen laufen. Man will das Ergebnis sehen. Zack, und fertig. Leider krempelt aber jede Reform in einem Land wie Ukraine die Gesellschaft um. Ganz sicher hätte die ukrainische Regierung die eine oder andere Reform viel schneller durchführen können.

Aber es ist auch wichtig, dass die Menschen, die davon betroffen sind, verstehen, was auf sie zukommt. Dass sie darüber reden, streiten und nachdenken, wie jetzt im Falle der Medizin. Solch eine Debatte braucht Zeit – und am Ende ist die Reform selbst vielleicht weniger schmerzvoll, als wenn sie von oben als vermeintliches Allheilmittel verordnet wird.

Im Juni ist die medizinische Reform übrigens in der ersten Lesung im Parlament verabschiedet worden, in einer abgeschwächten Fassung. Die zweite ist für den Herbst angesetzt. Ich hoffe, sie wird erfolgreich sein.


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.

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