Eurasien-Expertin: Ist Kasachstan das neue Hongkong?
Ein Gastbeitrag von Gaukhar Nurgalieva, Leiterin der Forschungsstätte für Eurasien-Studien am SKOLKOVO Institute for Emerging Market Studies (IEMS) an der SKOLKOVO Moscow School of Management.
Englisches Recht auf dem Gebiet Kasachstans
Anfang 2018 wurde das Astana International Financial Centre (AIFC) in Betrieb genommen, bei welchem es sich um den größten Wirtschaftsknotenpunkt in Zentralasien handelt und das gemäß den Plänen der kasachischen Regierung in eine Art lokales Hongkong verwandelt werden soll. Selbst die Verfassung des Landes wurde geändert, um das Projekt zu ermöglichen. Dadurch ist das AIFC nun autorisiert, englisches Recht anzuwenden.
Die offizielle internationale Eröffnung fand am 5. Juli statt und markierte den Beginn einer Entwicklung, im Rahmen derer sich das Zentrum nicht nur als größter Finanzschwerpunkt Zentralasiens etablieren, sondern seinen Einfluss stark ausweiten und langfristig Russland sowie weitere osteuropäische und asiatische Länder einschließen will. Ob Kasachstan dieser Durchbruch tatsächlich gelingen wird, bleibt abzuwarten. Bislang kann man lediglich konstatieren, dass die Gründer des Zentrums gut vorbereitet waren und den richtigen Moment ausgewählt haben.
Das AIFC selbst war ursprünglich als typische Finanzplattform mit lokaler Bedeutung entstanden, und erst die ambitionierten Pläne der kasachischen Regierung verliehen ihm eine ganz neue Perspektive. Innerhalb von drei Jahren wurden viele Hebel in den Bereichen Wirtschaft, Politik und vor allem Gesetzgebung gezogen, damit das AIFC die wettbewerbsfähigste Einrichtung seiner Art auf dem Gebiet der ehemaligen UDSSR werden konnte.
Die Regierung plant, mit dem Zentrum einen Treffpunkt für Unternehmen aus Europa, Zentral- sowie Südostasien, Transkaukasien und dem Mittleren Osten zu schaffen. Das Gelände der in Astana abgehaltenen EXPO 2017 beherbergt nun ein einzigartiges Finanzzentrum, welches von seinen Gründern zukünftig auf Augenhöhe mit Hongkong und Singapur gesehen wird.
Geburt der Eurasischen Wirtschaftsunion
Warum besteht gerade jetzt die Chance, dass der ehemalige Teil der Sowjetunion mindestens ein äußerst wichtiges Zentrum erhält, wenn nicht sogar ein neues Hongkong? Seit vielen Jahren versucht Russland bereits zusammen mit einigen ehemaligen Teilstaaten der UDSSR, eine wirtschaftliche Gemeinschaft in irgendeiner Form zu schaffen. Neben der GUS, welche eine rein formale Gruppierung ist, wollten russische Politiker eine Union gründen, die einen echten Nutzen bringen und das Ansehen Russlands fördern sollte. Und siehe da – die Eurasische Wirtschaftsunion, das realistischste aller breitgefächerten Projekte zur Wirtschaftsintegration auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken, nimmt Gestalt an.
Dieses Mal ist sie klarer umrissen, und die Nachbarn Russlands sind deutlich weniger beunruhigt als zuvor, dass der Einfluss ihres großen Nachbarn außer Kontrolle geraten könnte. Die Union, welche aus Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Russland besteht, sorgt für einen gemeinsamen Finanzmarkt – und langfristig auch für ein gemeinsames Zollgebiet sowie weitere Integrationsstufen. Dieses Mal fühlen sich Russlands Nachbarn nicht mehr als Juniorpartner. Einige von ihnen zeigen sogar die Bereitschaft, selbst voranzugehen, wie zum Beispiel Kasachstan mit seinem AIFC-Projekt.
Das Astana Centre ist nun der einzige Ort in der GUS, an dem englisches Recht angewendet wird. Angesichts der Tatsache, dass die Eurasische Wirtschaftsunion einen gemeinsamen Markt schaffen soll, wird es für Unternehmen möglich sein, sich in Astana zu registrieren und dann im gesamten Gemeinschaftsgebiet zu operieren – unter anderem auch in Russland. Der Schutz ihrer Rechte und ihres Vermögens ist wahrscheinlich das Hauptanliegen für Investoren, welche Geschäfte in den ehemaligen Sowjetrepubliken machen. Ihnen einen zuverlässigen Schutzmechanismus zu bieten, ist ein großer Schritt nach vorne.
Sollten internationale Unternehmer Misstrauen gegenüber den kasachischen Gesetzen und dem Strafverfolgungssystem hegen, wird die Regierung eine rechtliche Enklave ähnlich wie Hongkong gründen, welches basierend auf dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“-Teil der Volksrepublik China ist. Streitfragen werden dann vor dem Schiedsgericht geklärt, welches sich aus internationalen Schiedsrichtern zusammensetzt und englisches Recht anwendet. Britische Schiedsrichter sind, neben weiteren, bereits am Gericht tätig.
Chinesische Regierung treibt Neue Seidenstraße voran
Chinas Politik kann im Übrigen ebenfalls zum Wachstum des AIFC beitragen. Das Land treibt ein Projekt voran, welches als „Belt and Road Initiative“ bezeichnet wird und als neue Seidenstraße Europa mit Asien verbinden soll. Die BRI umfasst die Entwicklung von Handelsrouten über Land und über See sowie das Schaffen einer soliden logistischen Infrastruktur in verschiedenen Ländern. In diesem Zusammenhang ist von möglicherweise umfangreichen Investitionen auszugehen.
Bis dato sind bereits mehr als 65 Staaten dem Programm beigetreten – insgesamt über 60 % der Weltbevölkerung. Kasachstan hegt die Hoffnung, dass das Astana Financial Centre die Basis für viele an der Initiative teilnehmende Unternehmen wird und dass auf Kasachstan selbst als Transferland ein guter Teil der Investitionen entfällt, da es sehr günstig an der „Neuen Seidenstraße“ liegt.
Die Gründer des Zentrums heißen amerikanische, europäische und asiatische Unternehmen gleichermaßen willkommen, die der BRI beitreten und Geschäfte in Mittelasien sowie dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion machen wollen. Insgesamt wollen sie nicht weniger als 500 Unternehmen anziehen und ihnen die notwendige Infrastruktur zur Verfügung stellen.
Auf lange Sicht ist das AIFC ein voll funktionsfähiges wirtschaftliches Ökosystem mit einer eigenen Börse (basierend auf der Astana Stock Exchange), wo Wertpapiere und Währungen ge- und verkauft werden; darüber hinaus ist es eine internationale Vermögensverwaltungsbasis für Investmentbanken und Fonds, ein Schwerpunkt für Versicherungs- Rechts-, Beratungs- und Bewertungsunternehmen, ein Veranstaltungsort mit Bildungs- und Aufklärungsfunktion sowie eine Plattform für islamische Finanztransaktionen.
Das islamische Finanzwesen ist ein für die islamische Welt charakteristisches alternatives System zur traditionellen westlichen Bankenstruktur. Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass dieser Bereich zukünftig exponentiell wachsen wird. Hauptsächlich werden Städte wie Dubai davon profitieren, aber auch Astana wird sich den Investitionszuwachs durch islamische Finanztransaktionen zunutze machen.
Kooperationsvereinbarung mit SKOLKOVO
Es versteht sich von selbst, dass die Etablierung eines neuen, wenn auch lokalen Hongkongs ein hartes Stück Arbeit ist. Viele Hürden gilt es zu überwinden, und es benötigt Zeit. Das Zentrum muss alle Funktionsabläufe von Grund auf optimieren: Unternehmensregistrierungen, Geschäftsabschlüsse, Gerichtsverfahren. Das Projekt muss mit bislang noch nicht in ausreichender Zahl vorhandenen qualifizierten Spezialisten besetzt werden. Die kasachische Regierung arbeitet bereits aktiv daran, die Visa-Hindernisse aus dem Weg zu räumen, und plant, internationale Bildungsprogramme zu fördern und vielversprechende Bewerber mit Zuschüssen zu unterstützen.
Ein Beispiel für eine solche Kooperation ist das „EMBA for Eurasia Programme“ der SKOLKOVO Moscow School of Management zusammen mit der HKUST Business School. Das Programm ist auf Unternehmer zugeschnitten, die beabsichtigen, ihre Geschäfte in Asien vor dem Hintergrund der sich entwickelnden BRI und des wachsenden AIFC auszuweiten. Im Mai 2018 trat eine von Kasachstans führenden Universitäten, die Nazarbayev University, „EMBA for Eurasia“ bei. Zu diesem Zwecke wurde zwischen SKOLKOVO und dem AIFC eine Kooperationsvereinbarung geschlossen.
Ausländische Direktinvestitionen
Zuletzt wird sich die kasachische Regierung der Unsicherheit der internationalen Anleger stellen und ihre Befürchtungen zerstreuen müssen. Das ist eine lösbare Aufgabe, da Kasachstan in Bezug auf ausländische Direktinvestitionen schon jetzt unter den führenden Ländern der Region ist (insgesamt 300 Milliarden US-Dollar). Damit Anleger ihre Zurückhaltung so schnell wie möglich ablegen, organisiert Astana einen äußerst lukrativen Verkauf, direkt auf dem Gelände des AIFC. Das Land bereitet sich auf ein umfangreiches Privatisierungsprogramm vor, welches staatliche Unternehmen umfasst.
Die Liste beinhaltet unter anderem Firmen wie Kaztransoil, KEGOC, Air Astana und Kazakhtelecom. Dabei handelt es sich um sehr lukrative Vermögenswerte, und es ist durchaus möglich, dass beide Initiativen der kasachischen Regierung — das Privatisierungsprogramm und die Eröffnung des Finanzzentrums — aus einem guten Grund zum selben Zeitpunkt stattfinden. Es könnte sich dabei um ein Mittel handeln, der neuen Plattform direkt zu ihrem Start Leben einzuhauchen.
Quelle: evgenykz | Shutterstock.com[/su_spoiler]