Wie es ist, Tänzerin am Bolschoi-Theater zu sein

Ein Tag im Leben einer Ballett-Tänzerin

Wie kommt man ans Bolschoi-Theater? Was muss man bei Ballettschuhen beachten und was beim Schminken? Was kann mitten in „Schwanensee“ alles durcheinanderbringen? Swetlana Lunejkina, Tänzerin am weltberühmten Bolschoi-Theater, hat der MDZ aus ihrem Alltag erzählt.

Swetlana Lunejkina (rechts) liebt und lebt Ballett. (Foto: Privat)

7:30

Der Tag beginnt mit einem Kaffee, denn ohne Kaffee bin ich kein Mensch. Die Erzählung, wie unsere ganze Familie gemütlich beim Frühstück sitzt, muss ausfallen. Denn weder ich noch mein Mann noch unser Sohn frühstücken. Eine Morgenroutine gibt es aber dennoch: Ich drehe mit unserem Mops Martin eine Runde.

08:30

Von dem Moment an, wenn ich in meinem Stadtbezirk Kurkino im Norden von Moskau das Haus verlasse, brauche ich eine Stunde bis zur Arbeit. Da geht es mir nicht anders als den meisten. Ich fahre kein Auto und fühle mich durchaus wohl in der Metro. Unterwegs lese ich meist ein Buch, im Moment gerade „Christus der tausend Gesichter“ von Julia Latynina. So vergeht die Zeit fast unmerklich. An der Metrostation Teatralnaja muss ich raus.

9:45

Das Training beginnt um zehn, aber ich bin gern ein bisschen früher an Ort und Stelle. So kann ich noch einen Kaffee trinken und mich in Ruhe umziehen. Wir Tänzerinnen tragen bei der Bekleidung dick auf: Hosen, Strümpfe, T-Shirt, darüber irgendeine Jacke. Das beschleunigt den Aufwärmprozess. Bei den Tänzern ist es umgekehrt. Die ergötzen sich am Anblick ihrer Muskeln und kommen oft in Shorts und hautengen Shirts in den Saal. Dann geht es los: eine halbe Stunde Übungen an der Ballettstange, anschließend arbeiten wir mit dem Pädagogen.

11:00

Die Proben beginnen. Ich gehöre der Truppe des Bolschoi-Theaters an, seit ich 18 Jahre alt war, aber das Ballett liebe ich immer noch wie am ersten Tag. Ich war sieben, als meine Oma in der Zeitung eine Anzeige für ein Tanzstudio entdeckte. Eine ehemalige Ballerina unterrichtete dort klassischen Tanz. Da bin ich dann hingegangen. Nach einem Monat hat sie meine Mutter zur Seite genommen und ihr gesagt, ich hätte Talent und sie würde mich in eine andere, ambitioniertere Gruppe einladen, wo man Stücke einstudiert und auftritt. So hat das alles angefangen.

“Unserem Theater zu dienen, ist eine große Ehre. Und eine große Verantwortung. Es ist für uns wie ein zweites Zuhause, in dem man mehr Zeit verbringt als mit der eigenen Familie.”

Nach den ersten drei Schulklassen bin ich zur Moskauer Staatlichen Akademie für Choreografie gewechselt. Das bedeutete, dass wir neben dem allgemeinbildenden Lehrstoff gezielt auf eine künstlerische Laufbahn vorbereitet wurden. Sechsmal in der Woche hatten wir zehn Stunden Unterricht am Tag. Bei den Abschlussprüfungen nach acht Jahren an der Akademie waren Vertreter der Moskauer Theater anwesend. Und wem man gefallen hat, von dem wurde man eingeladen.

So bin ich zum Bolschoi gekommen. Davon träumen alle, aber längst nicht alle erfüllen die strengen Aufnahmekriterien. Unserem Theater zu dienen, ist eine große Ehre. Und eine große Verantwortung. Es ist für uns wie ein zweites Zuhause, in dem man mehr Zeit verbringt als mit der eigenen Familie.

12:00

Einmal pro Woche, nämlich samstags, gibt es zwei Vorstellungen am Tag, die erste davon zur Mittagszeit. Ich habe immer besonders „Cipollino“ gemocht. Ein tolles Stück mit viel Humor, das bei den Zuschauern garantiert gut ankam. Und zwar bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. Leider gehört es aktuell nicht zum Repertoire.

15:00

In der Pause zwischen den beiden Vorstellungen können wir etwas essen, uns in der Maske auf der Couch ausruhen oder spazierengehen. Wenn mein Part kräftezehrend war, dann gönne ich mir ein ausgiebiges Mittagessen: Vorsuppe, Salat, Hauptmahlzeit und natürlich eine Tasse Kaffee, vielleicht sogar mit Nachtisch, wenn der noch reinpasst. Wie auch meine Kollegen und Kolleginnen esse ich reichlich, denn wir verbrauchen sehr viele Kalorien auf der Bühne.

16:00

Maniküre. Bei uns gibt es ziemlich strenge Vorschriften, was die Farbe des Lacks betrifft. Es sind ausschließlich Pastell- und strahlende Rosatöne erlaubt – alles, was nicht ins Auge sticht.

17:30

Anderthalb Stunden vor der zweiten Vorstellung schaltet man so langsam wieder in den Arbeitsmodus. Man fängt an, sich die Sachen zurechtzulegen. Eine besondere Rolle spielt beim Ballett natürlich das Schuhwerk. Die Spitzenschuhe werden bisweilen individuell gefertigt und der Fußform angepasst. Oder man sucht sich das Passende aus fertigen Modellen aus. Im Schnitt hat jeder von uns drei Paar Schuhe, jede für eine bestimmte Rolle. Die Schuhe werden zuerst bei den Proben und erst dann auf der Bühne getragen, wenn man sich sicher ist, dass man in ihnen ein gutes Gefühl hat.

18:00

Das Schminken ist eine wahre Kunst. An der Akademie war das sogar ein eigenes Unterrichtsfach für ein komplettes Schuljahr. Die Solisten und Solistinnen haben ihre Maskenbildner. Wir Tänzer und Tänzerinnen kommen allein zurecht. Weil die Bühne im Bolschoi-Theater vergleichsweise weit von den Zuschauerrängen entfernt ist, muss die Schminke auffällig sein. Wir betonen unbedingt die Augen. Ich als Blondine hebe die Stirn hervor, weil sie sonst mit den Haaren verschwimmt. Gleichzeitig muss man aufpassen, dass das Gesicht im Licht der Scheinwerfer nicht glänzt und dass die Farbe der Schminke mit der Farbe des Lichts harmoniert. Bei „Schwanensee“ zum Beispiel ist roter Lippenstift tabu, weil die Lippen sonst von Weitem schwarz wirken.

19:00

Auch nach so vielen Jahren habe ich immer noch Lampenfieber vor der Vorstellung. Und das muss auch so sein. Jedes Ballett läuft bei uns in Blöcken: fünf Vorstellungen innerhalb von vier Tagen. Wenn die fünfte an der Reihe ist, könnten wir alle schon etwas Erholung vertragen. Aber in der darauffolgenden Woche geht alles von Neuem los. So richtig erholen kann man sich deshalb nur im Urlaub, der bei uns immerhin 56 Tage beträgt – von Ende Juli bis Mitte September, wenn die neue Saison beginnt. Nach 20 Jahren scheidet man aus dem Theater aus und bekommt eine Rente, was natürlich nicht heißt, dass man sich dann zur Ruhe setzt.

Eine Institution: Das Moskauer Bolschoi-Theater gehört zu den berühmtesten Kultur-Häusern der Welt. (Foto: Tino Künzel)

20:00

Man kann den Beruf noch so ernst nehmen, trotzdem läuft auf der Bühne nicht immer alles glatt. Und dann gibt es unter Umständen sogar etwas zu lachen. Manchmal fällt jemand hin und wenn das gleich mehrere Personen auf einmal betrifft, dann sorgt das für Heiterkeit, warum auch immer. Einmal gab es einen lustigen Moment bei „Schwanensee“. In einer Szene, wo alle förmlich die Luft anhalten mussten, kam plötzlich Bewegung in die Reihen. Und ich sah, wie die Schwäne, einer nach dem anderen, hinter die Kulissen hüpften. Ich konnte mir keinen Reim da­rauf machen, bis jemand rief: „Eine Kakerlake!“ Ja, alle Mädels graust es vor Kakerlaken, auch wenn die Mädels schon erwachsene Frauen sind und im Bolschoi-Theater auftreten.

20:30

Nach dem ersten Akt hören wir uns an, was die Pädagogen zu sagen haben. Wenn man Glück hat, bleibt danach noch Zeit, in der Theaterkantine einen Happen zu essen. Dafür muss man aber früher dort sein als das Orchester, sonst hat man keine Chance.

22:00

Wenn die Vorstellung vorbei ist, geht es unter die Dusche. Die Schminke abzutragen und sich fertig zu machen für den Heimweg, dauert ungefähr 20 bis 30 Minuten. Dann geht es nach Hause, um zu „übernachten“, wie man in unseren Kreisen scherzt. Denn am nächsten Morgen muss man ja schon wieder auf der Arbeit sein.

23:30

Wenn ich nur im ersten Akt auftrete, dann kann ich etwas früher gehen. Zu Hause treffe ich zwischen 23 und 23.30 Uhr ein. Unser Hund freut sich dann schon, ausgeführt zu werden, sofern das nicht mein Mann oder Sohn übernommen haben.

00:00

Mitternacht ist Abendbrotzeit. Entweder ich habe schon am Wochenende für die ganze Woche vorgekocht oder mein Mann hat sich an den Herd gestellt: Sein überbackenes Fleisch mit Gemüsesalat zu einem Glas Wein ist superlecker.

01:00

Bügeln, Waschen: Ohne das eine oder andere im Haushalt zu machen, geht es auch zu später Stunde nicht. Vor eins komme ich eigentlich nie ins Bett.

Aufgeschrieben von Anna Braschnikowa

Titelbild
Titelbild: ALEXANDRE DINAUT / Unsplash
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung.