IWF und Weltbank senken ihre Rezessionsprognosen für Russland

Internationale Wirtschaftsorganisationen haben in den letzten drei Monaten ihre Prognosen für den diesjährigen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts deutlich abgeschwächt. Einen neuen niedrigen Wert gab nun die Weltbank bekannt: Sie rechnet für 2022 mit einem russischen BIP-Rückgang von nur 4,5 Prozent.

Nachdem der Internationale Währungsfonds bereits Ende Juli die Rezession der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 auf nur noch 6 Prozent veranschlagte, senkten Ende September die Pariser OECD und die Londoner EBRD ihre Rezessionsprognosen von bisher 10 Prozent auf nur noch 5,5 Prozent (OECD) und 5,0 Prozent (EBRD).

Die Weltbank erwartet jetzt für 2022 sogar nur noch einen Rückgang des russischen BIP um 4,5 Prozent. 2023 rechnet die Weltbank mit einem weiteren Rückgang um 3,6 Prozent.

Bei dieser Entwicklung wird der reale private Verbrauch je Einwohner nach ihren Prognosen zwar merklich sinken, auch 2023 aber noch höher bleiben als in der „Corona-Krise“ im Jahr 2020.

Russlands Wirtschaftsminister Reschetnikow hält allerdings auch die Weltbank-Prognosen für „zu konservativ“. Die russische Regierung erwartet in diesem Jahr einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um lediglich 2,9 Prozent. Für eine zumindest vorübergehende Stabilisierung der Produktion spricht unter anderem der Anstieg der Einkaufsmanager-Indizes, den S&P Global im September in Befragungen russischer Unternehmen ermittelte.

IWF erwartet 2022 nur noch einen BIP-Rückgang um 3,4 Prozent

Die im „World Economic Outlook“ des Internationalen Währungsfonds am 11. Oktober veröffentlichte Prognose für Russland rückt noch näher an die Konjunkturerwartungen der russischen Regierung heran als die Weltbank-Prognose. Der IWF halbierte seine Rezessionsprognose in den letzten drei Monaten fast. Er rechnet jetzt für 2022 nur noch mit einem Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 3,4 Prozent.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Banken und Institute hinken den Prognosen von IWF und Weltbank hinterher

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, senkte seine Prognose für die diesjährige Rezession der russischen Wirtschaft jetzt zwar auch auf nur noch 4 Prozent (wie bereits Ende September die „Gemeinschaftsdiagnose“ der deutschen Konjunkturforschungsinstitute).

Viele westliche Banken und Institute sind längst nicht so zuversichtlich wie die Regierung. Sie rechnen derzeit zumeist auch noch mit einem stärkeren Wirtschaftseinbruch in Russland als die Internationalen Wirtschaftsorganisationen. In der September-Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics bei fast ausschließlich westlichen Analysten wurde im Durchschnitt erwartet, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Jahr um 5,9 Prozent sinken dürfte.

Viele Rezessionsprognosen für das nächste Jahr wurden verschärft

Die folgende Abbildung von FocusEconomics zeigt aber, dass auch die Geschäftsbanken und Institute seit dem Frühjahr für das Jahr 2022 mit einer immer schwächeren Rezession in Russland rechnen (blaue Linie).

Ein erheblicher Teil des bisher für 2022 erwarteten Produktionsrückgangs wird sich nach ihren Erwartungen allerdings lediglich in das nächste Jahr verschieben. Für 2023 wird jetzt im Durchschnitt mit einem weiteren Produktionsrückgang um 3,3 Prozent gerechnet (orange Linie). Die Rezessionserwartungen für 2023 haben sich bisher im Durchschnitt ständig verschärft.

 Veränderung der BIP-Prognosen für 2022 und 2023

FocusEconomics: Consensus Forecast CIS Plus Countries October 2022, 04.10.2022

Der IWF senkt auch seine Rezessionsprognose für 2023, die Weltbank nicht

Im Gegensatz zum bisherigen Umfragetrend rechnet der IWF jetzt aber auch für das nächste Jahr mit einem schwächeren Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts als bisher. Die neue IWF-Prognose geht davon aus, dass die Produktion im nächsten Jahr nur noch um 2,3 Prozent schrumpft. Ende Juli  war vom IWF mit einem Rückgang um 3,5 Prozent gerechnet worden.

Die Weltbank erwartet im Russland-Kapitel ihres „Europe and Central Asia Economic Update“ im nächsten Jahr hingegen einen Produktionsrückgang um 3,6 Prozent. Sie hat ihre Prognose vom Juni (- 2,0 Prozent) damit zwar um 1,6 Prozentpunkte verschärft. Gleichzeitig senkte sie ihre Rezessionsprognose für 2022 aber viel stärker um 4,4 Prozentpunkte von 8,9 Prozent auf 4,5 Prozent.

In den beiden Jahren 2022 und 2023 zusammen wird die russische Wirtschaft laut der neuen Weltbank-Prognose also voraussichtlich um gut 8 Prozent schrumpfen. Zum Vergleich: Russlands Regierung rechnet für 2022 und 2023 nur mit einem knapp halb so starken Produktionsrückgang um insgesamt 3,7 Prozent.

Weltbank-Prognosen zu Konsum, Investitionen, Aus- und Einfuhr

Die Weltbank weist darauf hin, dass das reale Bruttoinlandsprodukt Russlands im zweiten Quartal 2022 im Jahresvergleich um 4,1 Prozent gesunken ist. Die wirtschaftlichen „Schocks“ nach dem Beginn des Ukraine-Krieges hätten zu einem Einbruch der Binnennachfrage und der Ausfuhrmengen geführt.

Wo die Weltbank die wichtigsten Ursachen für den voraussichtlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 um 4,5 Prozent sieht, zeigt die folgende Abbildung der Weltbank.

Gebremst wird die gesamtwirtschaftliche Produktion (blaue Linie) von ihrer Verwendung her gesehen vor allem vom Rückgang der Ausfuhr (roter Säulenabschnitt), dem Abbau der Lagervorräte (grauer Abschnitt) und dem Rückgang der Summe von privatem und öffentlichem Verbrauch (grüner Abschnitt). Außerdem sinken die Bruttoanlageinvestitionen (schwarzer Abschnitt).

Gestützt wird das Wachstum nur von der Abnahme der Einfuhr (violetter Abschnitt)

Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts in Prozent,
Beiträge der Verwendungsbereiche zum BIP-Wachstum in Prozentpunkten

World Bank: Europe and Central Asia Economic Update, Fall 2022; 04.10.2022

Zur preisbereinigten Entwicklung des privaten Verbrauchs und des staatlichen Verbrauchs, der Bruttoanlageinvestitionen und der Aus- und Einfuhr von Waren und Dienstleistungen veröffentlichte die Weltbank auch folgende Tabelle (Auszug).

Entwicklung der Verwendungsbereiche des realen Bruttoinlandsprodukts

Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

World Bank: Europe and Central Asia Economic Update, Fall 2022; 04.10.2022

Rückgang der Inlandsnachfrage: Verbrauch und Investitionen sinken

Die Abnahme des privaten Verbrauchs im Jahr 2022 veranschlagt die Weltbank auf 4,7 Prozent (2023: – 2,4 Prozent). Gleichzeitig erwartet sie aber einen Anstieg des Staatsverbrauchs um 2,1 Prozent (2023: + 1,6 Prozent).

Den Rückgang der Bruttoanlageinvestitionen im Jahr 2022 schätzt die Weltbank auf 3,9 Prozent (2023: – 5,6 Prozent). Verschärft werde der Rückgang durch den Abzug vieler ausländischer Investoren.

Die Finanzpolitik der Regierung bremst den Rückgang der Inlandsnachfrage

Zur starken Abnahme des privaten Verbrauchs um 4,7 Prozent im laufenden Jahr merkt die Weltbank an, der Rubel habe nach Beginn des Krieges in der Ukraine zunächst stark abgewertet. Die Inflation sei in die Höhe geschnellt. Die niedrigeren Reallöhne hätten zu einem starken und anhaltenden Rückgang der realen Einzelhandelsumsätze – einem Indikator für den privaten Konsum – beigetragen.

Den Rückgang des privaten Verbrauchs und der Investitionen hat die russische Regierung, so die Weltbank, mit einem „fiskalischen Stützungspaket“ gemildert. Sozialleistungen wurden erhöht, subventionierte Kredite bereitgestellt und Steuererleichterungen gewährt. Außerdem wurden die Mindestlöhne angehoben. Finanziert worden sei die Erhöhung der Ausgaben zum Teil durch die gestiegenen Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich.

Der Überschuss im Föderalen Haushalt hat sich laut Weltbank im Zeitraum Januar bis August 2022 im Vorjahresvergleich von 14,5 auf 1,9 Milliarden Milliarden US-Dollar verringert. Die Abhängigkeit der öffentlichen Finanzen Russlands von der Entwicklung der Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich habe sich 2022 verschärft.

Im gesamten Jahr 2022 erwartet die Weltbank im staatlichen Gesamthaushalt ein Defizit von 1,8 Prozent des BIP.

Auswirkungen der Rezession auf Arbeitsmarkt und Einkommen

Die Weltbank verweist darauf, dass die Arbeitslosenquote in Russland trotz Rezession gesunken ist. Die offizielle Arbeitslosenquote sei auf 3,9 Prozent zurückgegangen (Im August fiel sie mit 3,8 Prozent laut Rosstat sogar auf ein neues Rekordtief; Finmarket.ru-Bericht). Die Zahl der Beschäftigten sei im Jahresvergleich um 0,4 Prozent gestiegen.

Der Rückgang der Reallöhne hat sich, so die Weltbank, bis Juni 2022 im Vorjahresvergleich auf 3,2 Prozent abgeschwächt (Finmarket.ru-Bericht). Dies sei möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften gestiegen ist weil wegen der Sanktionen weniger Kapital und technologisches Wissen verfügbar sei.

Die von der russischen Regierung veröffentlichte Armutsquote lag nach Angaben der Weltbank im ersten Halbjahr 2022 bei 13,0 Prozent, etwa auf demselben Niveau wie in den Vorjahren.

Weltbank: Die Armutsquote steigt, der reale Pro-Kopf-Verbrauch sinkt

Die Weltbank berechnet für Russland als „Land mit oberem mittleren Einkommen“  („Upper Middle Income Country, UMIC“) die sogenannte „UMIC-Armutsquote. Sie gibt an, welcher Prozentsatz der Bevölkerung über ein tägliches Einkommen von kaufkraftbereinigt weniger als 6,85 US-Dollar in Preisen von 2017 verfügt. In der folgenden Abbildung der Weltbank zeigt die graue Linie den langjährigen starken Rückgang dieser Armutsquote. Sie sank 2021 auf 2,9 Prozent der Bevölkerung. 2023 erwartet die Weltbank einen Anstieg auf 3,5 Prozent und 2023 auf 3,8 Prozent.

Die grüne Linie zeigt die Entwicklung des realen privaten Verbrauchs je Einwohner. Er fiel zuletzt im Corona-Krisenjahr 2020 kräftig. Im Jahr 2021 erholte sich der Pro-Kopf-Verbrauch jedoch von diesem Einbruch. Er erreichte wieder in etwa seinen bisherigen Höchststand vom Jahr 2014. Jetzt erwartet die Weltbank im laufenden Jahr 2022 und im nächsten Jahr einen Rückgang des Pro-Kopf-Verbrauchs. Er dürfte jedoch auch 2023 nicht auf das Niveau im Corona-Krisenjahr 2020 zurückfallen.

Armutsquote in Russland und realer privater Verbrauch je Einwohner

World Bank: Europe and Central Asia Economic Update, Fall 2022; 04.10.2022

Außenwirtschaftliche Entwicklung: Leistungsbilanzüberschuss verdreifacht

Russlands reale Einfuhr von Waren und Dienstleistungen wird 2022, so die Weltbank-Prognose, noch deutlich stärker sinken (- 20,8 Prozent) als die Ausfuhr (- 12,3 Prozent).

Die Entwicklung des Außenhandels stützt wegen des stärkeren Rückgangs der Einfuhren damit insgesamt die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

Zur diesjährigen außenwirtschaftlichen Entwicklung berichtet die Weltbank außerdem:

Der Rubel hat sich nach seinem kurzen Absturz im Februar aufgrund von Kapitalverkehrskontrollen und der starken Entwicklung der Leistungsbilanz mehr als erholt.

Russlands Leistungsbilanzüberschuss erreichte von Januar bis August 2022 rund 183 Milliarden US-Dollar. Er verdreifachte sich damit gegenüber dem Vorjahr, obwohl die Ausfuhren mengenmäßig sanken. Gleichzeitig gingen Russlands Einfuhren real aber noch stärker zurück als die Ausfuhren. Zudem stiegen die Preise für russische Rohstoffausfuhren.

Der Überschuss in der Leistungsbilanz wurde von beträchtlichen Kapitalabflüssen begleitet. Russlands internationale Währungsreserven sind seit Beginn des Krieges laut Weltbank um etwa 10 Prozent gefallen.

Russlands mittel- und langfristige Wachstumsaussichten haben sich eingetrübt

Die gegenüber Russland verhängten Sanktionen haben, das betont auch die Weltbank,

die mittel- und langfristigen Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft verschlechtert. Kurzfristig seien die Auswirkungen der Sanktionen aber weniger schwerwiegend gewesen als zunächst erwartet wurde.

Gemildert worden sei die Wirkung der Sanktionen durch die fiskalischen Gegenmaßnahmen der Regierung im Umfang von rund 3 Prozent des BIP und eine Straffung der Geldpolitik. Mit dem weltweiten Anstieg der Rohstoffpreise habe Russland außerdem hohe Devisenzuflüsse verzeichnen können.

Die Sanktionen haben aber bereits, so die Weltbank, zu einem „dramatischen Rückgang“ der russischen Einfuhren geführt. Der Zugang Russlands zu neuen Technologien und Ausrüstungen sei jetzt eingeschränkt. Das gelte auch für die Verfügbarkeit externer Finanzierungsquellen.

Ein besonderes Risiko für Russlands weitere Wirtschaftsentwicklung sind nach Einschätzung der Weltbank niedrigere Preise für Energie und Rohstoffe, die sich bei einem schwächeren Wachstum der Weltwirtschaft ergeben könnten. Zusätzliche Risiken sieht die Weltbank in der im September angekündigten „Teilmobilisierung“ von Soldaten. Sie könnte die Binnennachfrage dämpfen und den Druck auf den Arbeitsmarkt und den Finanzsektor erhöhen.

Reschetnikow: Maßnahmen der Regierung nicht ausreichend berücksichtigt

Russlands Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow meinte zu den neuen Weltbank-Prognosen laut einem RIA-Novosti-Bericht, die Prognosen der Weltbank für das Jahr 2022 näherten sich zwar den Erwartungen der russischen Regierung. Sie seien aber noch „zu konservativ“.

Der Minister kritisierte, in der Regel würden solche Prognosen die geplanten und beschlossenen „strategischen Maßnahmen“ der Regierung nicht ausreichend in Betracht ziehen. In der Weltbank-Prognose für das Jahr 2023 seien die von der Regierung für den Staatshaushalt beschlossenen Entscheidungen nicht berücksichtigt.

Reschetnikow fügte hinzu, die russische  Regierung gehe von einer beschleunigten Anpassung der russischen Wirtschaft an „die neuen Bedingungen“ aus. Die Wirtschaft werde durch eine Phase der „strukturellen Transformation“ gehen und im Jahr 2024 ein nachhaltiges Wachstum erreichen.

Einkaufsmanager-Indizes im September gestiegen

Die aktuelle Entwicklung der von S&P Global durch Befragung von Unternehmen ermittelten Einkaufsmanager-Indizes deutet darauf hin, dass sich die Produktion der russischen Wirtschaft in den letzten Monaten zumindest stabilisiert hat (bne Intellinews:  “Russia’s economy is back in growth mode as both the services and manufacturing PMI expand“).

Die folgende Abbildung aus dem Wochenbericht des Forschungsinstituts der Vnesheconombank zeigt den Anstieg der Einkaufsmanager-Indizes im September.

Der Einkaufsmanager-Index für das Verarbeitende Gewerbe (orange Linie) stieg im September auf 52 Indexpunkte, der Index für den Dienstleistungsbereich (blaue Linie) auf 51,1 Punkte. Die Überschreitung der „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten signalisiert einen Anstieg der Produktionsaktivitäten der Unternehmen.

Entwicklung der Einkaufsmanager-Indizes
für das Verarbeitende Gewerbe und für den Dienstleistungsbereich

Vnesheconombank-Institute: World Economy and Markets Review, 07.10.2022

Die Prognose des Konjunkturforschungsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, dass die Industrieproduktion im September im Vorjahresvergleich um 0,4 Prozent gesunken ist, spricht auch gegen einen erneuten „Einbruch“ der Produktion.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Pexels.com