Russische Wirtschaft: Die neuesten Prognosen

Die russische Zentralbank senkte am 16. September ihren Leitzins erneut. Sie nahm ihn von 8 Prozent auf 7,5 Prozent zurück. Westliche Analysten rechnen weiterhin mit unterschiedlichen Szenarien und Sanktionswirkungen – und fehlende Daten verleiten zu Spekulationen. Die neuesten Prognosen im Überblick.

Der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise war im August auf 14,3 Prozent gesunken, die niedrigste Inflationsrate seit Februar 2022. Zentralbank-Präsidentin Nabiullina äußerte die Erwartung, dass die jährliche Inflationsrate bis zum Jahresende auf 11 bis 13 Prozent sinken werde.

Ihre mittelfristige Konjunkturprognose will die Zentralbank aber wie vorgesehen erst im Oktober komplett aktualisieren. Den diesjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts veranschlagte die Zentralbank in ihrer Prognose vom Juli auf – 4 bis – 6 Prozent. In der Presseerklärung der Zentralbank vom Freitag heißt es aber, die Aktivitäten der Wirtschaft hätten sich besser entwickelt als die Zentralbank im Juli erwartet habe. Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts dürfte in diesem Jahr näher an – 4 Prozent als an – 6 Prozent liegen.

Die Frankfurter DekaBank hat bereits jetzt ihre Prognose für die diesjährige Rezession der russischen Wirtschaft von – 5,5 Prozent auf – 3,5 Prozent gesenkt. Die Bank betont aber gleichzeitig, dass sich die Sanktionswirkungen erst „im Zeitablauf“ zeigen werden. Sie erwartet, dass die Wachstumsgewinne Russlands aus den letzten 10 Jahren verloren gehen dürften. Für den Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ist es aber noch zu früh, um die Sanktionswirkungen auf Russland und die westlichen Volkswirtschaften beurteilen zu können.

Eine Abschätzung der Folgen der Sanktionen wird durch widersprüchliche russische Statistiken erschwert. So errechnete das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2022 saisonbereinigt um 5,8 Prozent niedriger war als im ersten Quartal. Laut dem Statistikamt Rosstat betrug der Rückgang vom ersten zum zweiten Quartal aber nur 1,9 Prozent.

Nabiullina: Die jährliche Inflationsrate sinkt am Jahresende auf 11 bis 13 Prozent

Die Senkung des Leitzinses der russischen Zentralbank um 0,5 Prozentpunkte war von vielen Beobachtern erwartet worden. Raum für die Senkung bot der anhaltende Rückgang der Inflationsrate.

Der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise war im März nach dem Beginn der „militärischen Sonderoperation“ mit dem Einbruch des Rubel nach oben geschnellt. Im April 2022 erreichte der Preisanstieg 17,8 Prozent. Die Zentralbank erhöhte den Leitzins auf 20 Prozent. Die Inflationsrate sank, auch wegen der raschen Erholung des Rubels. Im August 2022 fiel sie auf 14,3 Prozent. Gegenüber dem Vormonat ist der Index der Verbraucherpreise seit Juni 2022 sogar gesunken.

Die folgende Abbildung von FocusEconomics zeigt die prozentualen Veränderungen des Verbraucherpreisindexes gegenüber dem Vorjahresmonat (rote Linie) und gegenüber dem Vormonat (blaue Säulen)

Veränderung des Verbraucherpreisindexes in Prozent gegenüber dem Vormonat (blaue Säulen, linke Skala), gegenüber dem Vorjahresmonat (rote Linie, rechte Skala)

FocusEconomics: Russia: Inflation falls to lowest level since February in August, 09.09.2022

Die Wirkung der „disinflationären“ Faktoren wird aber, so Zentralbankpräsidentin Nabiullina in ihrem Kommentar zur Leitzinssenkung, in Zukunft nachlassen. Haupttreibkräfte für den Rückgang des Preisindexes in den Sommermonaten seien die vorangegangene Rubel-Aufwertung, die hohe Sparneigung der Haushalte und das gestiegene Angebot von landwirtschaftlichen Produkten gewesen.

Ihre Prognose für den jährlichen Preisanstieg am Jahresende 2022 hat die Zentralbank, so Nabiullina, auf 11 bis 13 Prozent gesenkt (von 12 bis 15 Prozent in der mittelfristigen Prognose vom 22. Juli).  Von den Sanktionen auf die russischen Importe und Exporte erwartet die Zentralbank sowohl inflationstreibende als auch inflationsdämpfende Effekte.

Die Wirtschaftslage ist besser als erwartet

Zentralbankpräsidentin Nabiullina stellte in ihrer Stellungnahme zur Leitzinssenkung auch heraus, dass sich die Wirtschaft besser als erwartet entwickelte. Die Zentralbank werde ihre Prognose für das diesjährige Bruttoinlandsprodukt im Oktober höchstwahrscheinlich anheben.

Die gesamtwirtschaftliche Lage habe sich im im dritten Quartal, so Nabiullina, insgesamt zwar verbessert. Es gebe aber sehr große Unterschiede zwischen den Branchen und Regionen. Die Ausfuhr von Waren in den Westen habe sich stark verringert oder sei sogar in einigen Fällen gar nicht mehr möglich. Eine Steigerung der Ausfuhr von Waren in Richtung Osten erfordere einen beträchtlichen Ausbau der Infrastruktur. Das werde dauern.

Auf der Importseite, so die Zentralbankpräsidentin, passten sich die Unternehmen beschleunigt der veränderten Situation nach der Verhängung von Sanktionen an. Die Importeure stellten sich auf andere Hersteller und die Nutzung von Wegen für „Parallelimporte“ um. Die meisten landwirtschaftlichen Unternehmen hätten neue Lieferanten für Saatgut gefunden.

Die Arbeitsmarktlage bezeichnete Nabiullina als weiterhin stabil. In den letzten Monaten hätten die Unternehmen die Möglichkeiten der Teilzeit-Arbeit etwas weniger häufig genutzt. Mit dem Aufbau neuer Produktionsstrukturen seien aber auch neue Qualifikationen der Arbeitskräfte erforderlich. Das könne sich in einem zeitweiligen Anstieg der „strukturellen Arbeitslosigkeit“ niederschlagen.

„Talking trends“ der Zentralbank: „Gewisse Erholung im Juli und August“

Die volkswirtschaftliche Abteilung der Zentralbank hatte bereits am 07. September in ihrem Bericht „Talking trends“ zur Entwicklung von Produktion und Preisen folgende Entwicklungen herausgestellt:

Die Wirkung von Faktoren, die inflationsdämpfend wirken, vor allem die Wirkung des jüngsten Rubel-Anstiegs, läuft aus. Gleichzeitig nimmt die Nachfrage der Verbraucher zu. Sie wird unter anderem durch eine Erholung der Kreditvergabe angeheizt. Einen immer bedeutenderen Beitrag zur Gesamtnachfrage leisten zudem die Staatsausgaben. Diese Trends dürften zu einem allmählichen Anstieg des Inflationsdrucks führen.

Die gesamtwirtschaftliche Aktivität zeigte im Juli und August eine gewisse Erholung. Dabei
war die Entwicklung der Produktion in den einzelnen Branchen aber sehr unterschiedlich und unbeständig. Die Wirtschaft hat noch einen langen Weg vor sich, um sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Auf die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion wirken im derzeitigen Stadium eine Reihe von divergierenden Faktoren ein.

Zum einen befindet sich die russische Wirtschaft nach dem Finanzschock im Februar jetzt noch in einer Phase, in der sie die Auswirkungen des starken Rückgangs der Importe von Vorleistungs- und Investitionsgütern noch nicht in vollem Maße zu spüren bekommt.

Zweitens gibt es jetzt ein Zeitfenster für Energieexporte aus Russland – bevor die von der EU beschlossenen Einfuhrbeschränkungen wirksam werden.

Drittens passen sich derzeit die am stärksten betroffenen Branchen (z. B. die Automobilindustrie) durch die Vereinfachung der Produktionstechnik an die Veränderungen an.

Viertens wachsen jetzt die Industrien, die in der Lage sind, Importe schnell zu ersetzen (z. B. die Konsumgüter-Industrie), und Branchen, die sich auf Regierungsaufträge konzentrieren.

DekaBank rechnet 2022 mit einer merklich schwächeren Rezession als bisher

Auch die Research-Abteilung der Frankfurter DekaBank meint, die russische Wirtschaft habe die erste Schockwelle der massiven Sanktionen offenbar besser als erwartet überstanden. Sie weist in der am Freitag erschienenen September-Ausgabe der „Emerging Markets Trends“ dazu auch auf die Stabilisierung der Einkaufsmanagerindizes hin.

Bisher hat die Bank für 2022 in Russland einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 5,5 Prozent erwartet. Jetzt rechnet sie aber damit, dass Russlands Rezession im laufenden Jahr mit – 3,5 Prozent merklich „milder“ ausfallen wird. Gleichzeitig bleibt sie aber bei ihrer Rezessionsprognose für das nächste Jahr (- 4,0 Prozent).

In den letzten Wochen waren bereits viele andere Prognosen für die diesjährige Rezession in Russland abgeschwächt worden. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) erwartet in seiner „Herbstprognose“ in diesem Jahr jetzt auch nur noch einen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 3,5 Prozent. Dr. Janis Kluge, Russland-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, äußerte in einem Interview ebenfalls die Einschätzung, dass Russlands BIP im Jahresvergleich 2022 gegenüber 2021 nur um 3 bis 4 Prozent sinken werde. Die meisten westlichen Beobachter rechnen aber noch mit einer deutlich stärkeren Rezession im laufenden Jahr (FocusEconomics-Umfrage: – 7,0 Prozent)

DekaBank: Die Sanktionen werden Russland zunehmend belasten

Während das IWH erwartet, dass sich der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland im nächsten Jahr abschwächt und nur noch 2,6 Prozent erreicht, geht die DekaBank aber davon aus, dass sich die Rezession 2023 auf 4,0 Prozent verschärft. Sie erwartet, dass die russische Wirtschaft durch die Sanktionen im Zeitablauf zunehmend belastet wird:

„Zum einen wird in den kommenden Monaten das Ölembargo der EU greifen. Die Perspektiven für die Erdölexporte Russlands Richtung Asien im kommenden Jahr sind aufgrund möglicher Transporteinschränkungen oder der durch G7 beschlossenen – im Detail aber noch unklaren – Preisobergrenze für das russische Öl ungewiss. Die Abkopplung der EU von den russischen Erdgaslieferungen dürfte schneller vorangehen als die Erweiterung der entsprechenden Exportinfrastruktur Richtung Asien seitens Russland.  Das Technologieembargo wird sich in vielen Wirtschaftsbereichen mittelfristig deutlich bemerkbar machen.  

Die Sanktionen gegen Russland dürften für lange Zeit bestehen bleiben. Damit bliebe das Land für eine längere Zeit de facto von der globalen Wirtschaft ausgeschlossen, selbst wenn der Handel Richtung Schwellenländer aufrechterhalten wird. Das reale Bruttoinlandsprodukt dürfte somit auch nächstes Jahr noch erheblich schrumpfen. Die wirtschaftlichen Folgen des Angriffs auf die Ukraine dürften somit die Wachstumsgewinne der vergangenen zehn Jahre auslöschen.“

Rating-Agentur Scope: Erst 2030 wird sich Russlands BIP erholt haben

Die Berliner Rating-Agentur Scope nimmt ähnlich wie die DekaBank an, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt in den Jahren 2022 und 2023 gegenüber 2021 um insgesamt rund acht Prozent sinken dürfte. Auch Scope betont die langfristige Schwächung des Wachstumspotenzials der russischen Wirtschaft durch die Sanktionen. Das Handelsblatt berichtete auf der Basis von Reuters zu der Scope-Studie:

„Die russische Wirtschaft wird nach Prognose der Ratingagentur Scope erst am Ende des Jahrzehnts auf das vor dem Einmarsch in die Ukraine erreichte Niveau zurückkehren.

Der Kreml habe zwar mit Hilfe der Zentralbank die unerwartet hohen Exporteinnahmen dazu genutzt, um die unmittelbaren Folgen des Krieges und der westlichen Sanktionen auf die Binnenwirtschaft abzufedern, heißt es in der Reuters am Freitag vorliegenden Studie.

„Aber die längerfristigen Aussichten haben sich verschlechtert“, schreibt Scope-Analyst Levon Kameryan. Die russische Wirtschaft werde daher voraussichtlich bis etwa 2030 brauchen, um wieder das Vorkriegsniveau erreichen.

Bis Ende kommenden Jahres wird das Bruttoinlandsprodukt demnach wegen der westlichen Sanktionen um etwa acht Prozent unter dem Stand von 2021 liegen. Danach sinke das Wachstumspotenzial von den vor dem Krieg erreichten 1,5 bis 2,0 Prozent auf 1,0 bis 1,5 pro Jahr. …

Der Kapitalabfluss werde sich beschleunigen. Allein im ersten Quartal 2022 seien rund 64 Milliarden Dollar privates Kapital abgeflossen – viermal so viel wie ein Jahr zuvor. …

Zugleich werde das Wachstum der Produktivität durch den beschränkten Zugang zu westlicher Technologie gehemmt. „Russland ist in hohem Maße von importierten Komponenten für Maschinen und Elektrogeräte, Computer, Autos und Pharmazeutika abhängig“, so die Studie. …

Gleichzeitig beschleunigten sich negative demografische Trends, „insbesondere der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter“. Viele junge, gut ausgebildete Russen haben nach dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar das Land verlassen. „Schätzungen gehen von mehreren Hunderttausend aus“, so Scope.

Russland müsse zudem damit rechnen, weniger aus Öl und Gas zu erlösen, da es seine Energieexporte nach Indien und China umleite, dort aber beträchtliche Preisnachlässe gewähren müsse.

Scope hält tiefgreifende Reformen für erforderlich, um die russische Wirtschaft von ihrer langjährigen Abhängigkeit vom Rohstoffsektor zu befreien. „Solche Reformen erfordern eine Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und die Förderung des Privatsektors“, lautet das Fazit. Die aber sei mit dem zunehmend autoritären Ansatz der derzeitigen Regierung kaum in Einklang zu bringen.“

Wirtschaftshistoriker Tooze: Für eine Beurteilung der Sanktionen ist es noch zu früh

In einem ausführlichen t-online-Interview äußerte sich in der letzten Woche auch der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, Columbia Universität New York, zu den Folgen des Wirtschaftskrieges zwischen Russland und dem Westen. Er hebt hervor, wie unterschiedlich westliche Experten die Wirkungen der Sanktionen gegen Russland einschätzen. Tooze meint, dass es noch zu früh ist, um ein verlässliches Urteil abgeben zu können.

Frage: Wie hart treffen die Strafen sein (Putins) Regime wirklich?

Tooze: Es ist erstaunlich, wie verschieden westliche Experten die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Russland einschätzen. Ein Lager behauptet, dass die Sanktionen wirken – und zwar kräftig. Was sich wiederum am Import des Landes ablesen lässt. Russland veröffentlicht zwar keine Statistiken mehr, seine Handelspartner jedoch sehr wohl. Demnach ist Russlands ökonomischer Kreislauf stark angeschlagen. Vermutlich im Herbst wird Russlands Wirtschaft in die Knie gehen – so lautet die Hypothese.

Frage: Anders als im Westen erhofft, plagen den Kreml allerdings bislang keine Geldnöte.

Tooze: Im Gegenteil, die Russen verdienen sich dumm und dämlich. Und zwar dank ihrer Energieexporte. Das ist die andere Seite der Medaille. Zwar verbrennen sie tagtäglich Unsummen an Geld, weil sie Erdgas aufgrund der vollen Lager abfackeln müssen. Aber der Gasexport umfasste ohnehin immer nur einen Bruchteil der russischen Energieexporte. Das ganz große Geld macht der Kreml mit Erdöl. Und selbst wenn Russland das Öl nun zum Discountpreis verkauft, sind die Gewinne immer noch immens. Deswegen bezweifeln die Skeptiker, dass der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland wirklich Erfolg hat. 

Frage: Und wie lautet Ihre Einschätzung?

Tooze: Es braucht mehr Zeit, um ein verlässliches Urteil zu fällen. Dieser Konflikt herrscht erst seit sechs Monaten, das ist für eine große und komplexe Wirtschaft wie Russland kein besonders langer Zeitraum. Erleidet Russland Mangel durch die westlichen Sanktionen, zum Beispiel im Bereich der Mikroelektronik? Zweifellos. Aber ob das wirklich gravierende Folgen hat, wird erst die Zeit zeigen.

Frage: Wladimir Putin hat bewiesen, dass ihm die viel beschworene “Ehre” mehr bedeutet als wirtschaftliche Kennzahlen. Würde er bei einem Einbruch der russischen Ökonomie tatsächlich von der Ukraine ablassen?

Tooze: Selbst enorme wirtschaftliche Schwierigkeiten würden Putins Entscheidungen in politischer und militärischer Hinsicht aller Wahrscheinlichkeit nach kaum beeinflussen. Dafür ist er bereits viel zu weit gegangen. Alles, was ihn interessiert, geschieht auf den Schlachtfeldern in der Ukraine. Zumindest für die nächsten sechs bis zwölf Monate. Vor allem geht es Moskau jetzt darum, einer Niederlage zu entgehen.

Neue BIP-Daten des Statistikamtes Rosstat für das zweite Quartal 2022

Am 9. September veröffentlichte das russische Statistikamt Rosstat seine „erste Schätzung“ zur Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2022 und aktualisierte auch seine Excel-Tabelle zur vierteljährlichen Entwicklung des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts.

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, veröffentlichte am Freitag zu den neuen Rosstat-Daten in einem BOFIT-Weekly Artikel folgende Abbildung zur Entwicklung des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts.

Laut Rosstat hat das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 2016 bereits im zweiten Quartal 2021 seinen bisherigen Höchststand erreicht (23.533 Milliarden Rubel). Im weiteren Verlauf des Jahres 2021 sank es geringfügig. Im 4. Quartal 2021 war es mit 23.458 Mrd. Rubel um 0,3 Prozent niedriger als im zweiten Quartal 2021.

Im ersten Quartal 2022 sank das BIP gegenüber dem vierten Quartal 2021 um weitere 0,3 Prozent auf 23.378 Mrd. Rubel. Nach dem Beginn des Ukraine-Krieges nahm es im zweiten Quartal 2022 gegenüber dem ersten Quartal 2022 laut Rosstat um 1,9 Prozent auf 22.923 Mrd. Rubel ab. Damit war es im zweiten Quartal 2022 nur 2,3 Prozent niedriger als im vierten Quartal 2021.

Saisonbereinigtes Bruttoinlandsprodukt in Mrd. Rubel in Preisen von 2016

Sources: Macrobond, Rosstat and BOFIT

BOFIT, Bank of Finland: BOFIT Weekly,  16.09.2022

Unbereinigt war das BIP im zweiten Quartal 2022 laut Rosstat 4,1 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Das VEB-Institut errechnet einen viel stärkeren Rückgang des BIP als Rosstat

Ein deutlich anderes Bild der saisonbereinigten Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts vermittelt das Forschungsinstitut der Vnesheconombank in seinem am 12 September veröffentlichten Bericht zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts bis Juli 2022.

Saisonbereinigtes Bruttoinlandsprodukt, Januar 2008 = 100

Forschungsinstitut der Vnesheconombank, BIP-Index Juli 2022,  12.09.2022

Laut VEB-Institut hat das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt nicht im zweiten Quartal 2021, sondern erst im vierten Quartal 2021 seinen bisherigen Höchststand erreicht. Im zweiten Quartal 2022 ist das saisonbereinigte BIP laut VEB-Institut gegenüber dem ersten Quartal um 5,8 Prozent gesunken (während Rosstat einen Rückgang um lediglich 1,9 Prozent ausweist).

Janis Kluge und Chris Miller: Eine Krise, die lange dauern dürfte

Janis Kluge, Stiftung Wissenschaft und Politik, veranschlagt in einem Phoenix-Interview vom 14. September zu den Folgen der Sanktionen den Einbruch des russischen Bruttoinlandsprodukts vom Februar bis zum Sommer auf „ungefähr 6 Prozent“ (Minute 7). Er scheint sich an den Berechnungen und Schätzungen des VEB-Instituts zu orientieren. Kluge sieht Russland in einer „sehr, sehr tiefen Rezession“, die sich im nächsten Jahr noch vertiefen dürfte.

Chris Miller, Associate Professor of International History an der Fletcher School at Tufts University, meint in einem in  „Foreign Affairs“ veröffentlichten Artikel sogar, Russland erleide einen steileren Produktionseinbruch als in der Finanzkrise im Jahr 2008. Es sei unwahrscheinlich, dass der Krise eine baldige Erholung („rebound“) folgen werde. Der Lebensstandard der Bevölkerung werde durch staatliche Sozialausgaben gestützt. Ihre Fortführung werde schwierig werden. Wahrscheinlich werde die Regierung im kommenden Jahr zu harten Haushaltsentscheidungen gezwungen sein.

Miller erwartet zwar keinen Kollaps der russischen Wirtschaft, der den Kreml zu einem Stopp des Krieges zwingen könnte. Das Land sei jedoch mit einer scharfen Rezession konfrontiert, einer langen Zeit mit einem niedrigeren Lebensstandard. Es könne sich wenig Hoffnung auf eine schnelle Erholung machen.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Gebäude der russischen Zentralbank in Moskau. Quelle: Ovchinnikova Irina | Shutterstock.com