Warum starr vor Angst ins Silicon Valley blicken?

Kolumne: Digitalisierungsprojekte in Russland

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de. Heute wirft Autor Jens Böhlmann einen Blick auf den Stand der Digitalisierung in Russland – und die Rolle, die Deutschland darin spielt.

IT im Fokus

Heute öffnet die größte russische Industriemesse Innoprom in Ekaterinburg ihre Tore. Wie jedes Jahr haben jede Menge nationale und ein paar internationale Champions ihr Kommen angekündigt. Beim Blick ins Programm wird überdeutlich: Cyber Security, Digitalisierung, Big Data, digitale Produktion, Smart Cities, BIM-Technologie, kurz, alles was mit Informationstechnologie zu tun hat, ist das überragende Thema der diesjährigen Exhibition, ergänzt durch Bildung, Export und internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Alles Themen, die auch zum Portfolio der nationalen Projekte zählen. Grund genug, sich einmal intensiver mit dem Stand der Digitalisierung in Russland zu beschäftigen. Aber auch, um sich Gedanken darüber zu machen, welche Formen der Kooperation zwischen Deutschen und Russen erfolgversprechend sein könnten oder schon sind.

Yandex führend beim autonomen Fahren

Unter der heißen texanischen Sonne fährt ein Auto mit ungewöhnlichem Schriftzug. Yandex self driving car steht auf der Seite. In den USA kennt den russischen Internet-Giganten kaum jemand, aber beim Thema autonomes Fahren ist der Konzern weit vorn. Während Waymo, Tesla und Uber in die Schlagzeilen geraten sind, weil ihre „unbemannten“ Experimente in Unfällen endeten, testen die Russen ohne große öffentliche Aufmerksamkeit, aber ganz offensichtlich erfolgreich.

Hierzulande hört man oft die eher resignierte Einschätzung, dass Deutschland den Anschluss bei Elektroautos und dem autonomen Fahren verpasst habe. Doch das stimmt nicht wirklich. Fast die Hälfte aller weltweiten Patente rund um das autonome Fahren halten deutsche Produzenten oder Lieferanten. Ganz vorn in der Liste Bosch, aber auch Volkswagen, Mercedes und BMW finden sich unter den weltweiten Top Ten. Ein erstes Feld, in dem sich die deutschen und die russischen Hersteller hervorragend ergänzen. Warum starr vor Angst ins Silicon Valley schauen, wenn die Komponenten für ein Erfolgsmodell in beiden Ländern längst vorhanden sind.

E-Commerce-Wachstum gut

Es ist schon ein paar Jahre her, dass sich die Manager eines großen deutschen Versandhändlers ungläubig über die Zahlen beugten, die ihnen der Vertrieb vorlegte. Sieben Prozent der russischen Bestellungen kamen per Smartphone und via SMS an. Ein Kanal der in Deutschland faktisch nicht existierte, der aber gleichzeitig zeigte, wie kreativ Russen die Möglichkeiten der neuen Technik nutzten.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Während viele Branchen in Russland konjunkturbedingt eher schwächeln, wächst der Online-Handel stetig. Dominiert wird er nicht mehr von deutschen, sondern eher chinesischen Anbietern. Mit der schrittweisen Herabsetzung der finanziellen Grenze für Cross-Border-Lieferungen müssen sich allerdings alle Anbieter überlegen, ob sich eine Lokalisierung in Russland lohnt.

Vielleicht helfen Zahlen bei der Entscheidung: Knapp 90 Prozent aller Russen bestellen online und das erwartete Marktvolumen soll von etwa 16 Milliarden US-Dollar im Jahr 2017 auf knapp 25 Milliarden im Jahr 2024 steigen. Hinzu kommt, dass in kleineren Städten und auf dem Land kaum ein dem Internet vergleichbares Angebot existiert. Die größte Herausforderung für jeden Online-Händler ist jedoch die Logistik, und da wiederum sind die deutschen Anbieter gut aufgestellt.

Alle kommunizieren mit allen

Industrie 4.0 ist eine deutsche Erfindung. Grob gesprochen soll industrielle Produktion mit Internettechnologie kompatibel und beide Welten miteinander verknüpft werden. Im besten Fall interagieren Maschinen, Systeme, Netzwerke und – wo sie noch notwendig sind – Menschen direkt miteinander. Produktionsprozesse sollen so über die gesamte Wertschöpfungskette und den Produktzyklus hinweg optimiert werden. Dabei will Deutschland Spitzenreiter sein, sowohl bei der Entwicklung und Anwendung der Technologien als auch als Fabrikausrüster.

Zur permanenten Weiterentwicklung der Idee und der konkreten Projekte wurde die Plattform Industrie 4.0 gegründet. Auf der Internetseite heißt es dazu: „Vorwettbewerbliche Allianzen und Netzwerke der Plattform unterstützen und entfalten die unternehmerische Kompetenz deutscher Unternehmen.“ In der Praxis stellt das die Unternehmen, allen voran die mittelständischen, vor enorme Herausforderungen. Wer sich nicht schnell genug der digitalen Welt anpasst, wird im Wettbewerb kaum noch eine Chance haben. Bestellprozesse werden zukünftig vollautomatisch und digital, Entwicklungs- und Abstimmungsprozesse autonom und Lernprozesse cloudbasiert abgewickelt und zukünftige Firmen werden kaum noch Produkt- sondern Lösungsanbieter sein.

Vom Komponentenhersteller zum Lösungsanbieter

Wie diese Zukunft aussehen wird, kann man schon in der ein oder anderen deutschen Produktion bewundern. Menschen sieht man in diesen Produktionshallen nur ganz wenige. Ihnen obliegt die Aufgabe, die Prozesse zu steuern und zu kontrollieren. Die Spitze der Entwicklung bilden naturgemäß die Maschinen- und Anlagenbauer, aber auch die Automobil- und die Chemische Industrie.

In der Tat kann man Smart Factories schon bei Audi, BMW und Volkswagen, bei Siemens, Bosch und Beiersdorf bewundern, aber auch der Düsseldorfer Pumpenbauer WILO zieht am Stammhaus eine intelligente Produktion hoch. „Wir haben uns vom Komponentenhersteller zum Lösungsanbieter entwickelt und uns hierfür auch die Chancen der digitalen Transformation zu Nutze gemacht“, beschreibt der CEO Oliver Hermes den Wandel innerhalb der letzten Dekade. Für diese Anpassungs- und Integrationsprozesse wird es eine Vielzahl hoch flexibler, innovativer und bestens qualifizierter Unternehmen der IT-Branche brauchen.

Solche also, wie man sie in Russland in großer Menge finden kann. Die German Russian Initiative for Digitalization (GRID) zu der sich der Ost-Ausschuss – Osteuropaverein, die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer und führende deutsche und russische Unternehmen zusammengeschlossen haben, ist die genau richtige Plattform, um solche Kooperationen anzubahnen.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Yandex SDC
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