Gegenüber 2020 wachsen Industrie und Gesamtwirtschaft 2021 aber kräftig
Offenbar in eine Stagnationsphase eingetreten: ist Russlands Industrieproduktion nun offenbar nach ihrer kräftigen Erholung vom Einbruch im Lockdown im Frühjahr des letzten Jahres. Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank erwartet, dass sie im zweiten Halbjahr anhält. Auch die gesamtwirtschaftliche Produktion dürfte laut der Einschätzung des Instituts bis zum Jahresende annähernd stagnieren. Dennoch wird das Bruttoinlandsprodukt im Jahresvergleich 2021 gegenüber 2020 laut dem VEB-Institut voraussichtlich um 4,5 Prozent wachsen.
Auch Alexey Vedev, Direktor am Gaidar Institut, meint, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft im zweiten Halbjahr abschwächen wird. Er erwartet für 2021 im Jahresergebnis einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 3,8 bis 4,0 Prozent. Vedev hat aber große Zweifel, ob die russische Wirtschaft längere Zeit stärker als 3 Prozent wachsen kann. Das Haupt-Risiko für die russische Wirtschaft sei eine Stagnation der Produktion. Auch das VEB-Institut erwartet in seinem Basisszenario, dass sich das Wirtschaftswachstum schon im nächsten Jahr auf 2,4 Prozent abschwächt und 2023 und 2024 noch etwas weiter sinkt.
Am 1. September wird das Statistikamt Rosstat weitere Konjunkturdaten für Juli veröffentlichen. Auf dieser Basis will dann auch das russische Wirtschaftsministerium bald seine Prognosen der sozio-ökonomischen Entwicklung für die staatliche Haushaltsplanung aktualisieren. Im Juli hatte es in einer vorläufigen Fassung seiner Prognosen damit gerechnet, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion nach einem Anstieg um 3,8 Prozent in diesem Jahr im nächsten Jahr um 3,2 Prozent wächst.
Rosstat: Die Industrieproduktion sinkt seit Juni gegenüber dem Vormonat
Russlands Statistikamt teilte am Mittwoch mit, dass die Industrieproduktion im Juli 6,8 Prozent höher war als vor einem Jahr (siehe gelbe Linie im folgenden Rosstat-Chart). Analysten hatten bei einer Bloomberg-Umfrage jedoch mit einem deutlich stärkeren Anstieg von 8 Prozent gerechnet.
Gegenüber dem Vormonat sank die Industrieproduktion im Juli laut Rosstat saison- und kalenderbereinigt um 0,1 Prozent. Im Juni war sie bereits um 0,2 Prozent gegenüber Mai zurückgegangen (siehe blaue Linie).
Index der Industrieproduktion (2018=100)
VEB-Institut: Der Rohstoff-Bereich bremste im Juli
Berechnungen des Forschungsinstituts der staatlichen Vnesheconombank zur saisonbereinigten Entwicklung der Industrieproduktion weichen von den Rosstat-Daten etwas ab. Laut VEB-Institut war die bereinigte Industrieproduktion im Juli insgesamt 0,8 Prozent niedriger als im Juni (nachdem sie im Juni noch um 0,6 Prozent gegenüber Mai gestiegen ist). Die schwarze Linie in der folgenden Abbildung zeigt die Entwicklung der gesamten Industrieproduktion.
Während die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (dünkelgrüne Linie) im Juli stagnierte, sank die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (hellgrüne Linie) um 0,8 Prozent gegenüber Juni.
Industrieproduktion (Jan. 2014 = 100)
Prognose: Nach kräftiger Erholung stagniert die Industrieproduktion
Wie die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt, hat sich die Industrieproduktion insgesamt (dunkelgrüne Linie) von ihrem starken Rückgang im zweiten Quartal 2020 bereits nach nur einem Jahr erholt. Im ersten Quartal 2021 war sie wieder auf dem Stand des ersten Quartals 2020. Im zweiten Quartal 2021 ist sie weiter gestiegen und war rund 4 Prozent höher als im vierten Quartal 2018.
Noch schneller als die gesamte Industrie erholte sich die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ (hellgrüne Linie). Sie war im zweiten Quartal 2021 gut 10 Prozent höher als im vierten Quartal 2018. Im dritten und vierten Quartal 2021 wird sie nach Einschätzung des VEB-Instituts langsam weiter steigen.
Insgesamt wird die Industrieproduktion im dritten und vierten Quartal 2021 laut VEB-Prognose jedoch voraussichtlich auf dem erreichten Niveau stagnieren. Im Jahresvergleich 2021/2020 dürfte sich aber dennoch ein Anstieg um 4,6 Prozent ergeben.
Industrieproduktion insgesamt
und Produktion im Verarbeitenden Gewerbe
4. Vierteljahr 2018 = 100
Bei diesen Prognosen ging das VEB-Institut allerdings davon aus, dass die Industrieproduktion im Jahresvergleich 2020/2019 um 2,6 Prozent gesunken ist. Laut jüngsten Rosstat-Angaben betrug der Rückgang nur 2,1 Prozent.
VEB-Prognose: Das Bruttoinlandsprodukt wächst 2021 um 4,5 Prozent
Die gesamtwirtschaftliche Produktion entwickelt sich laut VEB-Prognose ähnlich wie die Industrieproduktion. Das Bruttoinlandsprodukt wird nach Einschätzung des Instituts im dritten und vierten Quartal auch annähernd auf dem erreichten Niveau stagnieren, wie folgende Abbildung zeigt (dunkelgrüne Linie).
Das VEB-Institut meint, dass trotz des Anstiegs der Corona-Infektionen kein signifikanter Abschwung der wirtschaftlichen Aktivität zu erwarten ist. Allerdings habe es im Einzelhandel, im Dienstleistungsbereich und im Verarbeitenden Gewerbe im Mai/Juni eine „Wachstumspause“ gegeben. Im Jahresvergleich 2021/2020 wird das Bruttoinlandsprodukt laut der VEB-Prognose trotz der voraussichtlichen Stagnation in der zweiten Jahreshälfte aber um 4,5 Prozent wachsen.
Bruttoinlandsprodukt und Investitionen
4. Vierteljahr 2018 = 100
Bei einem Anstieg der Real-Einkommen um 2,9 Prozent wachsen die realen Umsätze von Einzelhandel und Dienstleistern deutlich stärker
Im Durchschnitt des Krisenjahres 2020 sind die real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte in Russland um 2,8 Prozent gesunken. Das VEB-Institut erwartet, dass dieser Rückgang 2021 mit einem Anstieg der Einkommen um 2,9 Prozent ausgeglichen wird.
Real verfügbare Einkommen, 4. Vierteljahr 2018 = 100
Bei dieser Einkommensentwicklung dürften die realen Umsätze des Einzelhandels laut der Prognose des VEB-Instituts 2021 um 8,5 Prozent steigen, viel stärker als sie 2020 gesunken sind (- 3,2 Prozent). Die realen Umsätze im Dienstleistungsbereich werden hingegen ihren tiefen Einbruch im Jahr 2020 (- 14,8 Prozent) voraussichtlich lediglich ausgleichen (+ 15,1 Prozent).
Einzelhandel und Dienstleistungen; reale Umsätze; 4. Vierteljahr 2018 = 100
Gestützt wird die Nachfrage der privaten Haushalte von einem weiter kräftig wachsenden Wert der Konsumentenkredite (2021/2020: +11,9 Prozent).
VEB-Institut: Der Ölpreis wird sinken …
Das VEB-Institut geht bei seinen Prognosen für 2021 von einem Urals-Ölpreis von 64 US-Dollar/Barrel aus. Es stellt heraus, dass diese Annahme etwa den durchschnittlichen Erwartungen in anderen Prognosen entspricht.
Ab 2022 rechnet das Institut in seinem Basisszenario jedoch mit einem merklich niedrigeren Ölpreis als „der Konsens“. Schon für die zweite Jahreshälfte 2021 erwartet es, dass der Ölpreis angesichts eines höheren Ölangebots aus den USA und dem Iran zu sinken beginnt. 2022 und 2023 werde der Ölpreis durch ein weiter wachsendes Angebot und steigende Zinsen in den USA unter Druck bleiben. In den nächsten drei Jahren werde er rund 14 Prozent niedriger sein als 2021 (2022: 56 US-Dollar/Barrel; 2023: 54 US-Dollar/Barrel; 2024: 56 US-Dollar/Barrel). Zum Vergleich: Die russische Zentralbank erwartet einen Rückgang des Urals-Ölpreises auf 60 Dollar/Barrel im Jahr 2022 und 55 Dollar im Jahr 2023.
… und schon 2022 halbiert sich das Wirtschaftswachstum fast
Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts wird sich laut dem Basisszenario des VEB-Instituts bei diesem Ölpreisrückgang schon 2022 fast halbieren und nur noch 2,4 Prozent erreichen wie die hell-grüne Linie in der folgenden Abbildung zeigt. Dabei geht das Institut davon aus, dass die geplanten „strategischen“ Initiativen und Vorschläge der Regierung realisiert werden und auch die angekündigten Einmal-Zahlungen an Rentner und Soldaten erfolgen. 2023 und 2024 wird Russlands Wirtschaftswachstum laut dem Basisszenario noch etwas weiter sinken (2023: + 2,3 Prozent; 2024: + 2,2 Prozent). Bei dieser Entwicklung wäre Russlands Wirtschaftswachstum erneut deutlich niedriger als das Wachstum der Weltwirtschaft (gestrichelte Linie).
Entwicklung der Produktion der Weltwirtschaft* und der russischen Wirtschaft laut Szenarien des VEB-Instituts (BIP-Veränderung gegenüber Vorjahr in %)
Optimistisches VEB-Szenario: Mehr Wachstum bei umfassenden Reformen
In einem „moderat-optimistischen“ Szenario hält es das VEB-Institut aber für möglich, dass Russlands Wirtschaft 2022 um 4,0 Prozent, 2023 um 3,8 Prozent und 2024 um 3,7 Prozent wächst (dunkel-grüne Linie in der obigen Abbildung). Damit könnte das Wachstum der Weltwirtschaft ab 2023 knapp übertroffen werden.
Als Voraussetzung für die Realisierung dieses Szenarios nennt das VEB-Institut umfassende wirtschaftliche und soziale Änderungen. Finanzpolitisch müsse die „Budget-Regel“ modifiziert werden (Sie sieht vor, dass staatliche Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich bei Überschreiten eines im Budget beschlossenen Ölpreises im Nationalen Wohlfahrsfonds gespart werden müssen). Für mehr Wachstum seien zusätzliche Maßnahmen zur Steigerung der Einkommen der Bevölkerung und zur Entwicklung von Wissenschaft, Gesundheitswesen und Infrastruktur erforderlich.
Alexey Vedev, Gaidar Institut: „Stagnation“ ist das zentrale Risiko
Alexey Vedev, Direktor des Zentrums für Strukturstudien des Gaidar-Instituts, erwartet für 2021 ein schwächeres Wachstum als das VEB-Institut. Er meinte kürzlich in einem ausführlichen Interview des Finanz-Portals Finversia.ru, das Haupt-Risiko für die russische Wirtschaft sei eine Stagnation der Produktion.
In diesem Jahr werde das Bruttoinlandsprodukt zwar wohl um 3,8 bis 4,0 Prozent wachsen.Dieses Wachstum ergebe sich jedoch aus der niedrigen Vergleichsbasis des Vorjahres. Es werde von der starken Nachfrage der privaten Haushalte getrieben, deren Verschuldung um 16 bis 20 Prozent steige. Die Sparneigung der Bevölkerung sinke.
Vedev erinnert daran, dass die russische Wirtschaft in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt nur um 0,8 Prozent jährlich gewachsen sei. Er bezweifelt stark, dass das Bruttoinlandsprodukt längere Zeit jährlich um 3 Prozent und die Investitionen jährlich um 5 Prozent wachsen können.
Yakov Mirkin, IMEMO: Das Szenario „Eingefrorene Wirtschaft“ bleibt mit Abstand am wahrscheinlichsten
Yakov Mirkin (Leiter der Abteilung für internationale Kapitalmärkte des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, IMEMO), äußerte sich in einem einem weiteren Finversia.ru-Interview Ende Juni ähnlich skeptisch. Er stellt als Hindernis für die Entwicklung der russischen Wirtschaft den wachsenden staatlichen Einfluss heraus. Es gebe einen exzessiven administrativen Druck auf die Unternehmen. Das für Wettbewerb nötige Umfeld werde zerstört.
Weitere Hindernisse für das Wachstum der Wirtschaft seien die hohe Inflation und die Steuerbelastung. Außerdem sei das russische Finanzsystem im internationalen Vergleich wenig leistungsfähig. Es sei in den letzten dreißig Jahren nicht in der Lage gewesen, für günstige Kredite zu sorgen.
Mirkin beschreibt in seinem Interview einige Szenarien für die künftige Entwicklung der Wirtschaft. Dem Szenario einer „Liberalisierung der Wirtschaft“, in dem sich die Regierung mit ihrer Politik in den Dienst der Förderung des Wachstums durch Schaffung günstiger Bedingungen für Unternehmen und Mittelstand stellt, habe er früher gewöhnlich eine Wahrscheinlichkeit von 10 bis 15 Prozent zugeschrieben. Derzeit sehe er dafür aber nur noch eine Wahrscheinlichkeit von Null bis 3 Prozent.
Zu 50 bis 60 Prozent rechnet Mirkin für die russische Wirtschaft mit einer Fortdauer des Szenarios „Eingefrorene Wirtschaft“. Es umfasse auch das derzeitige „Stagnationsmodell“. Zu diesem Szenario gehöre allerdings auch eine „hohe Volatilität“. Innerhalb von 10 bis 15 Jahren sei mit ein bis zwei Wirtschaftskrisen zu rechnen. Die Wirtschaft sei in hohem Maße von externen Variablen wie Rohstoffpreisen, Wechselkursen und spekulativen Finanzmarktgeschäften abhängig.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Ausfuhrerlöse und Staatseinnahmen kräftig gestiegen; 23.08.2021
- Mehr Wachstum, mehr Inflation – Neue Wirtschaftsprognosen – HSE-Umfrage; 16.08.2021
- Warnschuss für Wachstumsoptimisten; Kudrin mahnt Reformen an; 09.08.2021
- Russland holt Corona-Einbruch auf – IWFhebt Wachstumsprognose auf 4,4 % an; 02.08.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Kernforderungen des Ost-Ausschusses auf seiner Jahrespressekonferenz (Präsentation)
- Nachlese zum Merkel-Putin-Treffen: Was Wladislaw Below und Alexander Rahr dazu meinen-und was Jan C. Behrends, Reinhard Krumm und Manfred Sapper zur Russland-Politik sagen
- Historikerin Irina Scherbakowa im Dlf-Interview: „Wir leben in einer Diktatur“
- BDI-Diskussion: Autokratien: Handelspartner oder geoökonomische Rivalen? + Papier